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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 08.02.2000
Aktenzeichen: VI ZR 325/98
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823 Aa
BGB § 823 Aa

Bei einem totalen Krankenhausaufnahmevertrag hat der aufgrund Dienstvertrages mit dem Krankenhausträger angestellte Arzt jedenfalls dann eine Garantenstellung gegenüber dem Patienten, wenn er zum Dienst eingeteilt ist und den Dienst angetreten hat. Die Untätigkeit des Arztes kann in einem solchen Fall eine rechtswidrige Schädigung des Patienten darstellen und als grober Behandlungsfehler zu werten sein.

BGH, Urteil vom 8. Februar 2000 - VI ZR 325/98 - OLG Braunschweig LG Braunschweig


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

VI ZR 325/98

Verkündet am: 8. Februar 2000

Böhringer-Mangold, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. Februar 2000 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter Dr. Lepa, Dr. von Gerlach, Dr. Greiner und Wellner

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 1. Oktober 1998 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage gegen den Beklagten zu 5 abgewiesen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Die Klägerin ist seit ihrer Geburt zerebral mehrfach behindert. Mit dem Vorwurf, Geburtshilfe und anschließende pädiatrische Versorgung seien fehlerhaft erfolgt, hat sie den Klinikträger und die an ihrer Geburt beteiligten Ärzte als Gesamtschuldner auf Schmerzensgeld und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz ihres materiellen Schadens in Anspruch genommen. Der Beklagte zu 5 war als Facharzt für Pädiatrie anwesend. Er ist jedoch nach der Geburt der Klägerin nicht zu ihrer Versorgung tätig geworden.

Das Landgericht hat die Beklagten zu 1 bis 5 dem Antrag der Klägerin entsprechend verurteilt und dabei das Schmerzensgeld auf 500.000 DM bemessen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Verurteilung der Beklagten zu 1 bis 3 zur Zahlung eines Schmerzensgeldes auf 400.000 DM nebst Zinsen ermäßigt und ihre Verpflichtung zum Ersatz des materiellen Schadens festgestellt; die Klage gegen die Beklagten zu 4 und 5 hat es abgewiesen. Der Senat hat die Revision der Beklagten zu 1 bis 3 nicht angenommen. Nach Rücknahme ihrer Revision gegen die Beklagten zu 1 bis 4 begehrt die Klägerin noch die Verurteilung des Beklagten zu 5 (künftig: der Beklagte) als Gesamtschuldner mit den Beklagten zu 1 bis 3 zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes sowie die Feststellung seiner Ersatzverpflichtung hinsichtlich der materiellen Schäden.

Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht hat zur Abweisung der Klage gegen den Beklagten im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe als schwer asphyktisches Kind so schnell wie möglich nach der Geburt Sauerstoffhilfe erhalten und dazu intubiert werden müssen. Es entspreche aber der Praxis, daß zunächst abgesaugt werde, dann Herzmassage mit Maskenbeatmung erfolge und dann erst intubiert werde. Diese Maßnahmen hätten die Beklagte zu 4 und der herbeigerufene Oberarzt Dr. R. getroffen. Es hätten daher keine groben Versäumnisse von Kinderärzten bei der Entstehung des Gehirnschadens der Klägerin vorgelegen. Gegenüber der prägend schadensursächlichen Verzögerung bei der Entwicklung des Kindes während des Geburtsvorgangs seien die kinderärztlichen Maßnahmen nach den Äußerungen der Sachverständigen für die Entstehung des Schadens von untergeordneter Bedeutung gewesen. Der Beklagte habe zudem an der Reanimation der Klägerin nicht mitgewirkt; ihn könne schon deshalb kein Vorwurf fehlerhaften ärztlichen Handelns treffen.

II.

Mit diesen Erwägungen des Berufungsgerichts kann eine Einstandspflicht des Beklagten nicht verneint werden. Das Berufungsgericht hat, wie die Revision mit Recht rügt, den vorgetragenen Sachverhalt nicht erschöpfend gewürdigt.

1. Zutreffend ist zwar, daß der Beklagte nicht zur Versorgung der Klägerin nach der Geburt tätig geworden ist. Das Berufungsgericht läßt aber außer Acht, daß dieses Verhalten pflichtwidrig war. Der Beklagte war, wovon aufgrund des Vortrags der Klägerin für die Revisionsinstanz auszugehen ist, als Facharzt für Pädiatrie zur Versorgung der Klägerin nach deren Geburt eingeteilt. Er hatte daher, obwohl wegen des vom Berufungsgericht festgestellten totalen Krankenhausaufnahmevertrages zwischen der Mutter der Klägerin und der Klinik keine unmittelbaren Vertragsbeziehungen der Klägerin und ihrer Mutter zu ihm bestanden, eine deliktsrechtliche Garantenstellung für die aufgrund der organisatorischen Weisung übernommene Behandlungsaufgabe spätestens ab seinem Erscheinen im Kreißsaal (vgl. Senatsurteil vom 20. September 1988 - VI ZR 37/88 - VersR 1988, 1273). Der Beklagte war aufgrund seines Anstellungsvertrages und der organisatorischen Einteilung zum Dienst vertraglich gegenüber dem Krankenhausträger als seinem Arbeitgeber und gleichermaßen deliktisch gegenüber der Klägerin verpflichtet, alle die Behandlungsmaßnahmen durchzuführen, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst zur Bewahrung und Wiederherstellung der Gesundheit der Klägerin aus pädiatrischer Sicht erforderlich und möglich waren. Falls er solche erforderlichen Behandlungsmaßnahmen schuldhaft unterlassen hat und hierauf die Schädigung der Klägerin (mit-)beruht, ist der Beklagte für den schlechten Gesundheitszustand der Klägerin verantwortlich, selbst wenn dieser primär durch Versäumnisse der Geburtshilfe bedingt ist.

2. Es ist nicht auszuschließen, daß durch das Verhalten des Beklagten der Schaden der Klägerin (zumindest mit-)verursacht worden ist. Feststellungen dazu hat das Berufungsgericht nicht getroffen. Es wird diese gegebenenfalls nachzuholen und dabei auch zu prüfen haben, ob im Verhalten des Beklagten ein grober Behandlungsfehler zu sehen ist, der zur Umkehrung der Beweislast für die Kausalität führen kann. Hierzu weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Der Sachverständige Schr. hat es zwar als eher unwahrscheinlich bezeichnet, daß die kurzzeitige Verzögerung der Intubation ein wesentlicher Faktor für die Entstehung des hypoxisch-ischämischen Hirnschadens der Klägerin war, solches aber - insoweit in Übereinstimmung mit dem Privatsachverständigen Schu. - nicht ausgeschlossen und auch nicht für äußerst unwahrscheinlich gehalten. Immerhin war es durch die Untätigkeit des Beklagten erforderlich, Oberarzt Dr. R. zu rufen, damit die Klägerin intubiert werden konnte. Hiermit war möglicherweise der Zeitverlust verbunden, den der Sachverständige Schr. beanstandet hat.

Soweit der Privatsachverständige Schu. einen groben Fehler verneint, legt er dieser Wertung die Reanimationsmaßnahmen zugrunde, die die Beklagte zu 4 und der herbeigerufene Oberarzt Dr. R. durchgeführt haben. Auf die durch eine möglicherweise pflichtwidrige Abwesenheit des Beklagten verursachte Verzögerung der Intubation geht der Sachverständige nicht ein. Das Berufungsgericht wird daher zu prüfen haben, ob die Versäumung der sofortigen Intubation bzw. deren Verzögerung infolge Abwesenheit eines sachkundigen Facharztes aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil sie dem mit der Betreuung des Neugeborenen beauftragten Arzt schlechterdings nicht unterlaufen durfte oder gegen elementare medizinische Behandlungsregeln verstieß. Dabei wird zu beachten sein, daß eine Alleinverursachung des Schadens durch den groben Behandlungsfehler nicht erforderlich ist (vgl. Senatsurteil vom 1. Oktober 1996 - VI ZR 10/96 - VersR 1997, 362), wenn nicht ein Fall abgrenzbarer Teilkausalität (vgl. OLG Hamm VersR 1996, 1371 mit Nichtannahmebeschluß des Senats vom 19. März 1996 - VI ZR 244/95) festzustellen ist. Im Rahmen der hiernach erforderlichen weiteren Verhandlung des Rechtsstreits hat der Beklagte Gelegenheit, sein Verhalten zu erläutern und ggf. Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründe darzulegen und zu beweisen.

Ende der Entscheidung

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