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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 28.04.1998
Aktenzeichen: VI ZR 403/96
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 823 Aa
ZPO § 286 A
BGB § 823 Aa, ZPO § 286 A

Das Gericht hat in Arzthaftungsprozessen die Pflicht, sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten auseinanderzusetzen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich ein Widerspruch zum Gerichtsgutachten ergibt.

BGH, Urteil vom 28. April 1998 - VI ZR 403/96 - OLG Frankfurt LG Gießen


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

VI ZR 403/96

Verkündet am: 28. April 1998

Freitag Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 28. April 1998 durch die Richter Dr. Lepa, Bischoff, Dr. v. Gerlach, Dr. Müller und Dr. Greiner

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 26. November 1996 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der am 12. September 1965 geborene Kläger begehrt Ersatz materieller und immaterieller Schäden aus behaupteter ärztlicher Fehlbehandlung und unzulänglicher Risikoaufklärung anläßlich der Operation eines Aortenaneurysmas.

Der Beklagte zu 1, beamteter Inhaber des Lehrstuhls für Herz- und Gefäßchirurgie am Klinikum der Beklagten zu 2, hatte bereits am 23. September 1974 den Kläger wegen einer Aortenisthmusstenose operiert. In den folgenden Jahren bildete sich in dem Operationsgebiet unmittelbar hinter dem Abgang der linken Armarterie eine sackartige Erweiterung (Aneurysma) aus, die lebensgefährlich war. Nach mehreren Gesprächen wurde in Abstimmung mit dem Kläger der Operationstag festgelegt. Am 28. Juni 1985 ersetzte der Beklagte zu 1 in einer von 07.27 Uhr bis 13.05 Uhr dauernden Operation den Aneurysmasack durch eine Gefäßprothese. Dazu mußte die große Körperschlagader (Aorta) einschließlich der linken Armarterie oberhalb des Aneurysmas bis zu einem Punkt hinter der Operationsstelle ausgeklemmt werden. Das geschah nach dem Anästhesieprotokoll von 09.29 Uhr bis 10.09 Uhr (40 Minuten), 10.12 Uhr bis 10.20 Uhr (8 Minuten) und 10.35 Uhr bis 11.25 Uhr (50 Minuten).

Der Kläger leidet seit der Operation an einer vollständigen Querschnittslähmung unterhalb des neunten Brustwirbels. Er hat von der Zweitbeklagten ein Schmerzensgeld von mindestens 350.000 DM, von beiden Beklagten Ersatz seines materiellen Schadens in Höhe von 136.719,14 DM sowie die Feststellung begehrt, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, ihm sämtliche weiteren materiellen Schäden, die ihm infolge der Operation entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger und sonstige Dritte übergehen. Das Landgericht hat die Klage durch Teil- und Grundurteil dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem Feststellungsantrag entsprochen; der Kläger sei über das Operationsrisiko, insbesondere über die Möglichkeit einer Querschnittslähmung nicht ordnungsgemäß aufgeklärt worden. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei die Operation ohne Fehler durchgeführt worden. Die gewählte Operationstechnik ohne Maßnahmen zur Gewährleistung einer ausreichenden Durchblutung des Rückenmarks habe sich im Rahmen des zum Zeitpunkt der Operation gültigen Wissensstandes der Medizin gehalten und sei auch von anderer - in der medizinischen Fachwelt anerkannter - Seite erfolgreich praktiziert worden. Auch für Fehler bei der Operation seien Anhaltspunkte nicht vorhanden. Weder eine Probeabklemmung der Aorta vor Beginn der Resektion noch eine eigenständige Überwachung des Blutdrucks in der unteren Körperhälfte des Patienten sei Standard oder im gegebenen Fall veranlaßt gewesen. Die beiden großen Abklemmphasen seien einleuchtend hinsichtlich des Verlaufs der Operation.

Der Kläger sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im erforderlichen Umfang aufgeklärt worden. Die Aussage des Beklagten zu 1, er habe den Kläger darauf hingewiesen, daß die Operation lebensgefährlich sei und daß die Möglichkeit einer Querschnittslähmung bestehe, sei glaubhaft.

II.

Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten den Angriffen der Revision nicht stand.

1. Keinen Erfolg hat die Revision allerdings, soweit sie die Einwilligung des Klägers deshalb für unwirksam hält, weil ihm das Risiko einer Querschnittslähmung nicht mitgeteilt worden sei. Das Berufungsgericht hat ohne Rechts- oder Verfahrensfehler in tatrichterlicher Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme und des gesamten Inhalts der Verhandlungen unter Berücksichtigung der Lebenserfahrung die Überzeugung gewonnen, daß der Beklagte zu 1 den Kläger auch auf die Gefahr einer Paraplegie oder Querschnittslähmung hingewiesen hat.

Gleiches gilt, soweit die Revision aus der Vernehmung der Eltern des Klägers als Zeugen anderes als das Berufungsgericht herleiten will.

Dabei ist es rechtlich ohne Bedeutung, ob dem Kläger mitgeteilt worden ist, notfalls könne die Herz-Lungen-Maschine eingesetzt werden.

2. Ob die Rüge der Revision durchgreift, das Berufungsgericht habe Behandlungsunterlagen verfahrensfehlerhaft nicht beigezogen, kann offenbleiben, weil das Urteil schon aus anderen Gründen aufzuheben ist.

Ferner kann dahinstehen, ob das Berufungsgericht zu Recht einen Behandlungsfehler verneint hat, obwohl der Beklagte zu 1 rückenmarkschützende Maßnahmen ohne vorherige Probeabklemmung und trotz der beim Kläger erhobenen Blutdruckwerte bis 10.20 Uhr nicht getroffen hat.

3. Die Revision hat jedenfalls Erfolg mit ihrer Rüge, daß das Berufungsgericht die Erforderlichkeit der erneuten Abklemmung der Aorta von 10.35 Uhr bis 11.25 Uhr und von aufgrund der intraoperativen Situation nunmehr aus fachmedizinischer Sicht möglicherweise gebotenen rückenmarkschützenden Maßnahmen nicht in der erforderlichen Weise geprüft hat.

Das Berufungsgericht hat sich nicht - wie rechtlich geboten - mit den Ausführungen des Privatsachverständigen Dr. H., die Abklemmung von 10.35 Uhr bis 11.25 Uhr sei nicht indiziert, verzichtbar und grob fehlerhaft gewesen, auseinandergesetzt. Das beanstandet die Revision zu Recht als Verfahrensfehler (§ 286 ZPO). Das Berufungsgericht hatte den qualifizierten Sachvortrag des Klägers dem Sachverständigen Prof. Dr. M. nur insoweit zur Kenntnis gebracht, als der Prozeßbevollmächtigte des Klägers und der als Zeuge anwesende Vater des Klägers aus dem Privatgutachten Dr. H. abgeleitete Fragen gestellt haben. Das genügte nicht den Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verfahren.

Die Beurteilung der gerichtlichen Sachverständigen zu Indikation und Durchführung der Abklemmung ab 10.35 Uhr stand in erheblichem Widerspruch zu dem vom Kläger vorgelegten Privatgutachten. Das Berufungsgericht hätte die Gutachten der beiden gerichtlichen Sachverständigen, die auf die Indikation für diese Abklemmung nicht näher eingegangen waren, daher mit der gebotenen kritischen Distanz würdigen (Senatsurteil vom 19. Januar 1993 - VI ZR 60/92 - VersR 1993, 835) und die Sachverständigen zumindest zu einer Stellungnahme im einzelnen dazu veranlassen müssen, wie dieser Abschnitt der Operation aus fachmedizinischer Sicht zu bewerten ist. Das Gericht hat in Arzthaftungsprozessen die Pflicht, sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten auseinanderzusetzen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich ein Widerspruch zum Gerichtsgutachten ergibt (vgl. Senatsurteile vom 9. Januar 1996 - VI ZR 70/95 - VersR 1996, 647, 648; vom 15. Juni 1993 - VI ZR 175/92 - VersR 1993, 1231, 1232.

Der Vortrag des Klägers war schlüssig. Nach einer zwischenzeitlichen Perfusionszeit von nur 15 Minuten kann eine weitere Abklemmung der Aorta über einen Zeitraum von 50 Minuten (für eine "Verbesserung" des Operationsergebnisses, die der Beklagte zu 1 selbst in der Klageerwiderung als nicht zwingend notwendig, der Privatsachverständige sogar als bei ordnungsgemäßer Planung und Operation überflüssig und damit fehlerhaft dargestellt hat) Schutzmaßnahmen auch unter Berücksichtigung der von dem Sachverständigen Prof. Dr. M. geschilderten Vorbereitungszeit nicht nur erlaubt, sondern in Anbetracht der bereits verstrichenen Zeit sogar gefordert haben, wie der Privatsachverständige Dr. H. ausgeführt hat. Insoweit konnte sogar schon die Indikation zweifelhaft sein, weil nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K. das Risiko einer Rückenmarkschädigung durch die weitere Abklemmung "vorsichtig formuliert sehr hoch" war. Dieser Prüfung war das Berufungsgericht auch im Hinblick auf die generalisierenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. M., die Abklemmungsphasen seien einleuchtend hinsichtlich des Verlaufs der Operation, nicht enthoben.

Das angefochtene Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler. Es ist nicht auszuschließen, daß das Berufungsgericht nach Überprüfung der Indikation und der Durchführung der Abklemmung ab 10.35 Uhr zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.

4. Das Berufungsgericht wird sich daher mit den Ausführungen des Privatsachverständigen Dr. H. im einzelnen befassen müssen. Die Zurückverweisung gibt ihm Gelegenheit, gegebenenfalls auch auf das Privatgutachten Prof. Dr. S. näher einzugehen und das bisher nicht berührte Revisionsvorbringen in seine Erwägungen einzubeziehen.

Ende der Entscheidung

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