Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 30.04.1998
Aktenzeichen: VII ZB 5/97
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 233 Fd
ZPO § 85 Abs. 2
ZPO §§ 233 Fd, 85 Abs. 2

Die organisatorischen Maßnahmen eines Rechtsanwalts zur Fristenkontrolle, die über das gebotene Maß hinausgehen, wie beispielsweise eine doppelte Fristenkontrolle und der schriftliche Hinweis am Tage vor Ablauf der Vorfrist, führen nicht zu einer Verschärfung seiner Sorgfaltspflichten.

BGH, Beschluß vom 30. April 1998 - VII ZB 5/97 - OLG Düsseldorf LG Düsseldorf


BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

VII ZB 5/97

vom

30. April 1998

in dem Rechtsstreit

Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Dr. Lang und die Richter Prof. Dr. Thode, Hausmann, Dr. Wiebel und Dr. Kuffer am 30. April 1998

beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin wird der Beschluß des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 19. Februar 1997 aufgehoben. Der Klägerin wird wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Der Beschwerdewert wird auf 920.585,47 DM festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten den Ersatz der Kosten, die sie zur Neuherstellung einer von der Beklagten eingerichteten Produktionsanlage aufgewandt hat. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das am 9. Juli 1996 verkündete Urteil ist dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 25. Juli 1996 zugestellt worden. Mit einem bei Gericht am 6. September 1996 eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie hat die Berufung begründet und gegen die Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Zur Begründung ihres Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat sie im wesentlichen folgendes vorgetragen:

1. Die Fristenorganisation der Sozietät, der der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin angehöre, sehe eine doppelte Fristenkontrolle vor. Es existiere eine zentrale Fristenerfassung und -kontrolle und daneben eine Fristenerfassung und -kontrolle in dem Dezernat eines jeden Sozius. Die eingehende Post werde zuerst zentral von Frau P., einer ausgebildeten, erfahrenen und zuverlässigen Kraft, erfaßt und auf Termine und Fristen überprüft. Frau P. trage die Vorfristen und Termine in das zentrale Kanzleifristenbuch ein und gebe die Post an die einzelnen Dezernate weiter. Der zuständige Rechtsanwalt überprüfe die notierten Fristen und veranlasse die Eintragung der von ihm geprüften Fristen in das Dezernatfristenbuch durch die Dezernatsekretärin. Jeweils am Tage vor der Vorfrist, oder einem Termin stelle Frau P. dem zuständigen Rechtsanwalt eine Kopie der jeweiligen Seite des zentralen Fristenbuches mit der farbig markierten Frist zur Verfügung. Frau P. übergebe die Kopie dem Rechtsanwalt oder lege sie im Falle seiner Abwesenheit entsprechend einer Anweisung auf dessen Bürosessel. Am Tage des Fristablaufs erinnere Frau P. den betroffenen Anwalt morgens telefonisch an die ablaufenden Fristen. Bevor Frau P. nach Dienst das Büro verlasse, erkundige sie sich bei dem Rechtsanwalt, ob die Frist erledigt sei. Falls die Frist zu diesem Zeitpunkt nicht erledigt sei, informiere Frau P. die zuständige Dezernatsekretärin. Eine davon unabhängige Kontrolle sei dadurch gewährleistet, daß die Dezernatsekretärin am Tag der Frist dem zuständigen Rechtsanwalt die Akte mit dem Hinweis auf die Frist vorlege. Vor dem Verlassen des Büros überprüfe sie, ob die Frist eingehalten worden sei.

2. Dieses System der doppelten Fristenüberwachung habe aus mehreren Gründen versagt:

a) Etwa eine Woche vor dem Fristablauf habe die Fristenkontrolle im Dezernat des zuständigen Rechtsanwalts für die Urlaubszeit der Dezernatsekretärin, Frau Z., der Frau P. zusätzlich übertragen werden sollen. Der zuständige Rechtsanwalt habe Frau Z. entsprechend angewiesen und sich vor dem Urlaubsbeginn am 19. August 1996 bei Frau Z. vergewissert, ob sie ihrer Vertreterin Frau P. die Fristenkontrolle des Dezernats übertragen habe.

b) Am Freitag, den 23. August 1996 habe Frau P. in der Sache der Klägerin die Ablichtung aus dem zentralen Fristenbuch dem zuständigen Rechtsanwalt auf dessen Bürosessel gelegt, auf der der Tag des Fristablaufs, Montag, der 26. August 1996, farblich markiert war.

Am Montag, den 26. August 1996 habe Frau P. in ihrer Eigenschaft als zuständige Sekretärin für die zentrale Fristenkontrolle versäumt, den zuständigen Rechtsanwalt an den Fristablauf zu erinnern. Der zuständige Rechtsanwalt, der am 26. August 1996 an einer ganztägigen Vertragsverhandlung in seinem Büro teilgenommen habe, habe sich an den schriftlichen Hinweis vom Freitag nicht mehr erinnert. Frau P. habe dem zuständigen Anwalt auch nicht entsprechend der bestehenden Weisung für die Dezernatfristenkontrolle die Akte am 26. August 1996 vorgelegt.

c) Die Nachforschung nach den Ursachen für die Versäumung der Berufungsfrist habe folgendes ergeben:

(1.) Frau P. habe dem zuständigen Rechtsanwalt die Akte am 26. August 1996 deshalb nicht vorgelegt, weil Frau Z. es versäumt habe, ihr die Überwachung des Dezernatfristenbuches zu übertragen.

(2.) Die Versäumnisse der Frau P., den zuständigen Rechtsanwalt morgens und nach Beendigung ihres Dienstes an den Fristablauf zu erinnern, sei auf ein besonderes Ereignis zurückzuführen. Frau P. sei an diesem Tag völlig verstört und verspätet im Büro eingetroffen. Sie habe, als sie mit ihrem Pkw in den Dienst habe fahren wollen, festgestellt, daß ihr Wagen beschädigt und aufgebrochen gewesen sei und daß die Täter noch in dem Pkw schliefen.

II.

Das Berufungsgericht hat die Wiedereinsetzung versagt und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es unter anderem folgendes ausgeführt:

1. Es sei nicht zu beanstanden, daß die Sozietät die Fristenkontrolle zur eigenverantwortlichen Erledigung geschulten und bewährten Mitarbeitern übertragen hätte und daß die Sozien sich auf die Überwachung durch ihre Mitarbeiter verlassen hätten. Aufgrund der besonderen Situation sei die Sorgfaltspflicht des zuständigen Rechtsanwalts erhöht gewesen. Die übliche Fristenkontrolle sei seit dem 19. August 1996 herabgesetzt gewesen, weil die Doppelkontrolle durch zwei Büroangestellte nicht mehr gewährleistet gewesen sei. Die Mehrbelastung der Frau P. durch die Überwachung des zentralen Fristenbuches und des Dezernatfristenbuches habe bei weiteren belastenden Vorkommnissen dazu führen können, daß die Fristenkontrolle nicht mehr gewährleistet sei. Diese vorhersehbare Situation habe sich realisiert.

2. Der zuständige Rechtsanwalt habe überdies nicht die am 26. August 1996 erforderlichen Maßnahmen getroffen:

a) Da der Rechtsanwalt sich in Vertragsverhandlungen bis ca. 21.00 Uhr in einem Besprechungsraum befunden habe, hätte er damit rechnen müssen, daß ihn etwaige Telefonate seiner Mitarbeiter nicht erreichen würden. Er hätte sich deshalb nach Abschluß der Vertragsverhandlungen über etwaige Fristabläufe informieren müssen. Hätte er diese Kontrolle durchgeführt, dann hätte er die Kopie des Fristenbuches vorgefunden.

b) Der vom Bundesgerichtshof entwickelte Grundsatz, daß erhöhte organisatorische Sicherungen nicht zu einer Verschärfung der Sorgaltspflichten führen dürften, rechtfertige keine Wiedereinsetzung. Der zuständige Rechtsanwalt sei durch die Kopie des zentralen Fristenkalenders rechtzeitig informiert worden. Mit der Vorlage der Kopie sei der Rechtsanwalt verpflichtet gewesen, den Fristablauf eigenverantwortlich zu überprüfen. Es sei unerheblich, daß ihm mit der Kopie nicht zugleich die Akte vorgelegt worden sei.

III.

Die dagegen gerichtete form- und fristgerechte Beschwerde ist begründet. Das Berufungsgericht hat die beantragte Wiedereinsetzung zu Unrecht versagt. Dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin, ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Fehlverhalten vorzuwerfen.

1. Das Berufungsgericht beanstandet zu Unrecht, daß der Rechtsanwalt für die Urlaubssituation keine besonderen Vorkehrungen getroffen hat. Das Verhalten einer Partei oder ihres Prozeßbevollmächtigten kann nur dann die Versagung der Wiedereinsetzung rechtfertigen, wenn dieses Verhalten für die Fristversäumung ursächlich geworden ist. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft die Ursächlichkeit zwischen der von ihm unterstellten Doppelbelastung der Frau P. und der Fristversäumung bejaht. Ob und auf welche Weise der zuständige Rechtsanwalt im Hinblick auf die vorgesehene Urlaubsvertretung der Dezernatsekretärin durch Frau P. weitere organisatorische Maßnahmen zur Fristenkontrolle hätte veranlassen müssen, kann dahinstehen. Nach dem maßgeblichen Vortrag der Klägerin hat die Fristenkontrolle nicht deshalb versagt, weil Frau P. durch die zentrale Fristenkontrolle und die Fristenkontrolle im Dezernat überlastet war. Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, daß die für die Fristenkontrolle im Dezernat zuständige Sekretärin Frau Z. es versäumt hatte, Frau P. die Fristenkontrolle zu übertragen. Dieses Versäumnis der Frau Z. begründet kein vorwerfbares Verhalten des Rechtsanwalts der Klägerin, weil die doppelte Fristenkontrolle über das gegebene Maß der erforderlichen organisatorischen Maßnahmen zur Fristenkontrolle hinausgeht.

(1.) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 19. Dezember 1991 - VII ZR 155/91 = NJW 1992, 1047; Beschluß vom 22. März 1995 - VIII ZB 2/95 = NJW 1995, 1682) führt eine über das gebotene Maß vorgesehene Fristenkontrolle nicht zu einer Verschärfung der Sorgfaltspflichten des Rechtsanwalts. Der Rechtsanwalt, der neben der ausreichenden Fristenkontrolle eine zusätzliche Sicherungsmaßnahme vorgesehen hat, darf für den Fall, daß die zusätzliche Kontrollebene versagt, nicht schlechtergestellt werden, als wenn er die zusätzliche Sicherungsmaßnahmen nicht vorgesehen hätte.

(2.) Nach diesen Grundsätzen kann die Versagung der Wiedereinsetzung nicht mit einem etwaigen zurechenbaren Pflichtenverstoß der Dezernatsekretärin begründet werden, weil die zentrale Fristenkontrolle ausreichend gewesen wäre.

2. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht einen Pflichtenverstoß des zuständigen Rechtsanwalts am 26. August 1996 angenommen.

a) Dem Rechtsanwalt ist nicht vorzuwerfen, daß er sich im Hinblick auf die Vertragsverhandlungen nach deren Beendigung nicht über etwaige Fristabläufe informiert hat. Nach dem Vortrag der Klägerin war aufgrund einer Anweisung im Dezernat des Rechtsanwalts gewährleistet, daß Hinweise der für die zentrale Fristenkontrolle zuständigen Sekretärin auf Fristabläufe ihn auch während laufender Besprechungen erreichen. Angesichts dieser organisatorischen Maßnahme konnte und durfte der Rechtsanwalt darauf vertrauen, daß er entsprechend informiert würde.

b) Die Begründung des Berufungsgerichts, der Rechtsanwalt habe deshalb pflichtwidrig gehandelt, weil er nach der Vorlage der Kopie aus dem zentralen Fristenkalender nicht eigenverantwortlich den Fristablauf überprüft habe, würde im Ergebnis dazu führen, daß der Rechtsanwalt für eine zusätzliche Maßnahme der Fristenkontrolle, die über das gebotene Maß hinausgeht, einzustehen hätte.

(1.) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Rechtsanwalt dann verpflichtet, bei fristwahrenden Handlungen den Fristenablauf eigenverantwortlich zu überprüfen, wenn ihm die Akte oder das für eine fristgebundene Handlung erforderliche vorbereitete Schriftstück vorgelegt wird (BGH, Beschluß vom 19. Februar 1991 - VI ZB 2/91 = NJW-RR 1991, 827 m.w.N.). Eine Pflichtverletzung des Rechtsanwalts liegt danach nur dann vor, wenn er keine hinreichende organisatorische Vorsorge dafür getroffen hat, daß ihm die Akte oder das vorbereitete Schriftstück für die beabsichtigte Prozeßhandlung rechtzeitig vorgelegt wird oder wenn er aufgrund der Vorlage derartiger Vorgänge die Frist nicht eigenverantwortlich überprüft.

(2.) Danach ist dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin kein Pflichtenverstoß vorzuwerfen. Der vorsorgliche Hinweis durch die Kopie aus dem zentralen Fristenkalender auf den drohenden Fristablauf hat nicht zur Folge, daß der Rechtsanwalt dazu verpflichtet ist, sich unverzüglich die Akte vorlegen zu lassen und die Frist zu überprüfen. Aufgrund der Organisation der Fristenkontrolle konnte und durfte er sich darauf verlassen, daß ihm am Tage des Fristablaufs die Akte vorgelegt wird, gegebenenfalls auch im Besprechungszimmer. Erst die Vorlage der Akte begründet seine Pflicht zur eigenverantwortlichen Überprüfung der Frist.

Ende der Entscheidung

Zurück