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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 25.04.2006
Aktenzeichen: XI ZR 330/05
Rechtsgebiete: BGB, BVerfGG, ZPO


Vorschriften:

BGB § 138 Abs. 1
BVerfGG § 31 Abs. 1
BVerfGG § 79 Abs. 2
BVerfGG § 79 Abs. 2 Satz 3
ZPO § 767
ZPO § 767 Abs. 1
ZPO § 767 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

XI ZR 330/05

Verkündet am: 25. April 2006

in dem Rechtsstreit

Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung vom 25. April 2006 durch den Vorsitzenden Richter Nobbe, den Richter Dr. Joeres, die Richterin Mayen und die Richter Dr. Ellenberger und Prof. Dr. Schmitt

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 15. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 24. August 1999 aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 28. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 10. Februar 1999 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Rechtsmittelverfahren trägt die Beklagte.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Zwangsvollstreckung der beklagten Bank aus einer titulierten Bürgschaftsforderung und aus einem Kostenfestsetzungsbeschluss.

Am 4. Januar 1988 übernahm die damals 33 Jahre alte, einkommenslose Klägerin, die sich ausschließlich der Haushaltsführung und der Erziehung ihrer damals drei Jahre alten Tochter widmete und kein nennenswertes Vermögen besaß, nach Aufforderung durch die Beklagte eine formularmäßige Höchstbetragsbürgschaft von 200.000 DM zur Absicherung gewerblicher Kredite ihres damaligen Ehemannes in Höhe von ca. 180.000 DM. Anfang des Jahres 1991 kündigte die Beklagte die Geschäftsverbindung zum Hauptschuldner wegen Zahlungsverzuges und stellte eine Gesamtforderung von 201.497,66 DM fällig. Nach Verwertung anderer Sicherheiten nahm sie die Klägerin in Höhe einer Restforderung von 70.882,06 DM zuzüglich Zinsen gerichtlich aus der Bürgschaft in Anspruch und erwirkte, nachdem ein Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin zurückgewiesen worden war, am 14. Oktober 1992 ein rechtskräftig gewordenes Versäumnisurteil sowie am 2. Dezember 1992 einen Kostenfestsetzungsbeschluss über 3.464,04 DM zuzüglich Zinsen. Die Ehe der Klägerin wurde durch ein seit dem 26. Oktober 1992 rechtskräftiges Urteil geschieden.

Die Klägerin erstrebt die Unzulässigerklärung der Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil und dem Kostenfestsetzungsbeschluss, hilfsweise die Verurteilung der Beklagten zur Unterlassung der Vollstreckung und zur Herausgabe der Titel. Sie ist der Auffassung, die Bürgschaft sei sittenwidrig. Dem Versäumnisurteil liege eine Auslegung des § 138 Abs. 1 BGB zugrunde, die das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 19. Oktober 1993 (BVerfGE 89, 214) für verfassungswidrig erklärt habe. Daher sei die weitere Vollstreckung aus den Titeln gemäß § 79 Abs. 2 BVerfGG unzulässig. Jedenfalls stelle die weitere Ausnutzung der Titel eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung dar.

Das Landgericht hat dem Hauptantrag der Klage stattgegeben. Das Berufungsgericht (ZIP 1999, 1707) hat die Klage abgewiesen. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGHZ 151, 316) hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht (WM 2006, 23) auf die Verfassungsbeschwerde der Klägerin aufgehoben und die Sache an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen. Die Klägerin begehrt mit ihrer Revision weiterhin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe:

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Berufung der Beklagten.

I.

Das Berufungsgericht hat die Abweisung der Klage im Wesentlichen wie folgt begründet:

Der Hauptantrag sei unbegründet. § 767 ZPO sei nicht gemäß § 79 Abs. 2 BVerfGG anwendbar. Das Bundesverfassungsgericht habe durch den Beschluss vom 19. Oktober 1993 keine gesetzliche Vorschrift für verfassungswidrig erklärt, sondern lediglich Vorgaben für die Auslegung einer gesetzlichen Generalklausel im Lichte der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie gemacht. Auf diesen Fall sei § 79 Abs. 2 BVerfGG weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar. Im Hinblick auf § 767 Abs. 2 ZPO könne die Klägerin sich auch nicht darauf berufen, durch die Scheidung ihrer Ehe sei die Geschäftsgrundlage der Bürgschaft weggefallen.

Der Hilfsantrag habe in der Sache ebenfalls keinen Erfolg. Ob die Bürgschaft im Lichte der neueren Rechtsprechung gegen § 138 Abs. 1 BGB verstoße, könne unentschieden bleiben. Jedenfalls lägen keine zusätzlichen Umstände vor, die die Zwangsvollstreckung sittenwidrig erscheinen ließen.

II.

Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht den Hauptantrag der Klage abgewiesen hat, ist rechtsfehlerhaft. Die Klägerin kann in entsprechender Anwendung des § 767 ZPO gegen die Zwangsvollstreckung der Beklagten Einwendungen erheben, die auf dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993 (BVerfGE 89, 214) über die Aufhebung des Urteils des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 16. März 1989 (IX ZR 171/88, WM 1989, 667) gründen. Dies folgt aus der analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG.

Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluss vom 6. Dezember 2005 (WM 2006, 23, 26), durch den das Urteil des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 11. Juli 2002 (BGHZ 151, 316 ff.) über die Zurückweisung der Revision der Klägerin aufgehoben worden ist, entschieden, dass § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts analoge Anwendung finde, durch die die Zivilgerichte angehalten werden, bei der Auslegung und Anwendung von Generalklauseln und sonstigen auslegungsbedürftigen Regelungstatbeständen des bürgerlichen Rechts die einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen. Das gelte allerdings nur, wenn das Bundesverfassungsgericht, wie seiner Ansicht nach in seinem Beschluss vom 19. Oktober 1993 (BVerfGE 89, 214) geschehen, nicht nur die Verfehlung verfassungsrechtlicher Vorgaben bei der rechtlichen Subsumtion im Einzelfall beanstande, sondern für die Auslegung des bürgerlichen Rechts über den Einzelfall hinausreichende Maßstäbe setze, an die die Zivilgerichte bei ihrer künftigen Rechtsprechung in gleich gelagerten Fällen ebenso gebunden seien, wie wenn das Bundesverfassungsgericht eine Rechtsvorschrift verfassungskonform in der Weise auslege, dass es die verfassungswidrige Interpretationsmöglichkeit ausschließe. An die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 ist der erkennende Senat, der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Bundesgerichtshofs nunmehr für Rechtsstreitigkeiten aus Bürgschaften zuständig ist, nach § 31 Abs. 1 BVerfGG gebunden. Die Klägerin kann daher gegen die Vollstreckungstitel aus dem Jahre 1992 Einwendungen, die auf dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993 (BVerfGE 89, 214) gründen, entsprechend § 767 Abs. 1 und 2 ZPO geltend machen (BVerfG WM 2006, 23, 27).

III.

Das Berufungsurteil stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Das Landgericht hat die Zwangsvollstreckung zu Recht für unzulässig erklärt.

1. Dies gilt zunächst für die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil vom 14. Oktober 1992. Nach den Grundsätzen, die das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 19. Oktober 1993 (BVerfGE 89, 214) entwickelt hat, ist die Bürgschaft der Klägerin vom 4. Januar 1988, wie bereits der IX. Zivilsenat im ersten Revisionsurteil (BGHZ 151, 316, 318 ff.) ausgeführt hat, gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig.

a) Nach dieser Rechtsprechung (BGHZ 136, 347, 351; Senat BGHZ 146, 37, 42; Urteil vom 25. Januar 2005 - XI ZR 28/04, WM 2005, 421, 422; Nobbe/Kirchhof BKR 2001, 5, 6 ff.; jeweils m.w.Nachw.) begründet eine krasse finanzielle Überforderung eines dem Hauptschuldner emotional verbundenen Bürgen die widerlegliche Vermutung der Sittenwidrigkeit der Bürgschaft. Eine krasse finanzielle Überforderung liegt vor, wenn eine auf den Zeitpunkt der Abgabe der Bürgschaftserklärung abstellende, die Ausbildung, Fähigkeiten und familiären Belastungen berücksichtigende Prognose ergibt, dass der Bürge allein voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, auf Dauer die laufenden Zinsen der gesicherten Forderung mit Hilfe des pfändbaren Teils seines Einkommens und Vermögens aufzubringen. Diese Vermutung kann der Gläubiger nicht nur durch den Nachweis seiner Unkenntnis der krassen finanziellen Überforderung oder der emotionalen Verbundenheit, sondern auch durch den Nachweis eines eigenen persönlichen oder wirtschaftlichen Interesses des Bürgen an der Kreditaufnahme ausräumen (BGHZ 146, 37, 45 m.w.Nachw.). Das Interesse des Gläubigers, sich mit Hilfe der Bürgschaft vor etwaigen Vermögensverschiebungen zwischen Ehegatten zu schützen, ist allein kein die Sittenwidrigkeit ausschließender Umstand (Senat, Urteil vom 11. Februar 2003 - XI ZR 214/01, BKR 2003, 288, 290, m.w.Nachw.).

b) Gemessen hieran ist die Bürgschaft vom 4. Januar 1988 wegen Sittenwidrigkeit gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig.

aa) Die Klägerin war, wie bereits im ersten Revisionsurteil (BGHZ 151, 316, 319) ausgeführt, durch die Übernahme einer Bürgschaft von 200.000 DM am 4. Januar 1988 finanziell krass überfordert. Im Zeitpunkt des Vertragsschlusses war davon auszugehen, die einkommens- und vermögenslose Klägerin werde bei Eintritt des Bürgschaftsfalls nicht in der Lage sein, die Zinsen der Hauptforderung aufzubringen. Nicht einmal die Zinsen für den durch die übrigen Sicherheiten nicht gedeckten Teil der Hauptschuld konnte sie zahlen.

bb) Die somit begründete Vermutung der Sittenwidrigkeit hat die Beklagte nicht ausgeräumt. Die Revisionserwiderung beruft sich ohne Erfolg auf den Vortrag der Beklagten in den Tatsacheninstanzen, die Klägerin habe den Umfang der Kreditverbindlichkeiten des Hauptschuldners und die damit verbundenen Risiken gekannt und sei von der Beklagten auf das Risiko einer Bürgschaft und die rechtlichen Auswirkungen der Bürgschaftsverpflichtung hingewiesen worden. Diese Umstände allein sind nicht geeignet, die Vermutung auszuräumen, die Klägerin habe die Bürgschaft wegen ihrer emotionalen Verbundenheit mit dem Hauptschuldner übernommen und die Beklagte habe diese Verbundenheit in sittlich anstößiger Weise ausgenutzt. Dass sie die krasse finanzielle Überforderung der Klägerin oder deren emotionale Verbundenheit mit dem Hauptschuldner nicht gekannt habe, oder dass die Klägerin ein eigenes persönliches oder wirtschaftliches Interesse an der Kreditaufnahme gehabt habe, hat die Beklagte nicht geltend gemacht.

2. Auch die Zwangsvollstreckung aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss vom 2. Dezember 1992 ist vom Landgericht zu Recht für unzulässig erklärt worden. Dadurch, dass der Vollstreckungsabwehrklage gegen das Versäumnisurteil vom 14. Oktober 1992 stattgegeben wird, bleibt zwar die Kostenentscheidung dieses Urteils als Grundlage der Kostenfestsetzung unberührt (BGH, Urteil vom 20. September 1995 - XII ZR 220/94, WM 1995, 2120, 2121). Die gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 2. Dezember 1992 gerichtete Vollstreckungsabwehrklage ist aber zulässig (vgl. BGHZ 5, 251, 252 f.; Zöller/Herget, ZPO 25. Aufl. § 104 Rdn. 21 Stichwort: Vollstreckungsgegenklage) und begründet, weil er, ebenso wie das Urteil vom 14. Oktober 1992, auf einer Auslegung des § 138 Abs. 1 BGB beruht (vgl. hierzu Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG § 79 Rdn. 65), die mit den vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 89, 214 ff.) gesetzten Maßstäben nicht vereinbar ist. Bei Beachtung dieser Maßstäbe wäre die Klage im Urteil vom 14. Oktober 1992 abgewiesen worden und demzufolge keine Kostenentscheidung zum Nachteil der damaligen Beklagten und jetzigen Klägerin ergangen.

IV.

Das Berufungsurteil war daher aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da weitere Feststellungen nicht zu treffen sind, konnte der Senat in der Sache selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO) und das landgerichtliche Urteil wieder herstellen.

Ende der Entscheidung

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