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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 23.05.2000
Aktenzeichen: B 1 KR 27/99 R
Rechtsgebiete: VwZG, SGG


Vorschriften:

VwZG § 4 Abs 1 Satz 1
SGG § 67
SGG § 151
SGG § 158
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 1 KR 27/99 R

Klägerin und Revisionsklägerin,

Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Betriebskrankenkasse der HUKLA Werke, Leutkirchstraße 63, 77717 Gengenbach,

Beklagte und Revisionsbeklagte,

Prozeßbevollmächtigte: Winfried Baumgärtner, Manfred Edenhofer, Viktor Hartl, Karl Salzl und Judith Gremm, Landesverband der Betriebskrankenkassen Baden-Württemberg, Stuttgarter Straße 105, 70806 Kornwestheim.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 23. Mai 2000 durch den Präsidenten von Wulffen und die Richter Steege und Dr. Dreher sowie die ehrenamtlichen Richter Leite und Bungart

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluß des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Dezember 1997 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Krankengeld. Die Beklagte lehnte das entsprechende Begehren der Klägerin nach Einschaltung ihres medizinischen Dienstes ab, weil die behauptete Arbeitsunfähigkeit durch die vorgelegten Bescheinigungen kroatischer Ärzte nicht ausreichend nachgewiesen sei. Die dagegen erhobene Klage hatte keinen Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts (SG) Freiburg vom 23. Juni 1997 wurde der Klägerin mit einem am 12. August 1997 zur Post gegebenen, an ihre Anschrift in Deutschland gerichteten eingeschriebenen Brief zugestellt. Die Klägerin hat dagegen mit einem von ihrem damaligen Prozeßbevollmächtigten am 10. September 1997 in Zagreb/Kroatien als Einschreiben bei der Post aufgegebenen, jedoch erst am 26. September 1997 beim SG eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung durch Beschluß vom 17. Dezember 1997 als verspätet verworfen. Für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei kein Raum, denn angesichts der späten Absendung der Rechtsmittelschrift nur fünf Tage vor Ablauf der Frist am 15. September 1997 habe der Prozeßbevollmächtigte nicht darauf vertrauen können, daß die Berufung rechtzeitig am Bestimmungsort in Deutschland eintreffen werde.

Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt die Klägerin, das LSG habe ihr zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert. Das erstinstanzliche Urteil sei ihr nicht, wie vom Berufungsgericht aufgrund der Rechtsvermutung des § 4 Abs 1 Satz 1 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) unterstellt, am 15. August, sondern nach ihren Unterlagen erst am 21. August 1997 zugegangen. Die Berufungsfrist sei danach erst am 22. September 1997 (Montag) abgelaufen. Da ihr Bevollmächtigter die Rechtsmittelschrift bereits am 10. September 1997 zur Post gegeben habe, treffe sie an der Fristüberschreitung kein Verschulden. Aber auch bei einem Fristablauf schon am 15. September 1997 könne ihr die Verspätung nicht angelastet werden, weil mit einer Postlaufzeit von mehr als fünf Tagen bei Sendungen von Kroatien nach Deutschland nicht gerechnet zu werden brauche. Seine gegenteilige Annahme habe das LSG weder durch Nachfrage bei der Post verifiziert noch den Beteiligten vor der Entscheidung mitgeteilt, so daß auch der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt sei. In der Sache stehe ihr der geltend gemachte Krankengeldanspruch zu.

Die Klägerin beantragt,

den Beschluß des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Dezember 1997 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält den Wiedereinsetzungsantrag für unbegründet und die Entscheidung des SG in der Sache für zutreffend.

II

Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Der angefochtene Beschluß beruht auf der gerügten Verletzung der §§ 67, 151, 158 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des § 4 VwZG. Das LSG hätte der Klägerin wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren und anstatt durch Prozeßurteil in der Sache selbst entscheiden müssen. Ob darüber hinaus gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs verstoßen wurde, kann dahingestellt bleiben. Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen verwehrt.

Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß die Frist zur Einlegung der Berufung von der Klägerin nicht eingehalten worden ist. Insoweit können die unterschiedlichen Angaben zum Zustellungszeitpunkt auf sich beruhen, denn auch nach der Behauptung der Klägerin ist ihr das erstinstanzliche Urteil nicht später als am 21. August 1997 zugestellt worden. Da die Berufungsschrift erst am 26. September 1997 beim SG eingegangen ist, war die Monatsfrist des § 151 Abs 1 SGG in jedem Fall versäumt. Nach den Umständen des Falles kann die Fristversäumnis der Klägerin aber nicht als Verschulden angerechnet werden, so daß ihr gemäß § 67 Abs 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

Der frühere Prozeßbevollmächtigte der Klägerin hat die Berufungsschrift ausweislich des Poststempels am 10. September 1997 in Zagreb/Kroatien zur Post gegeben, ohne den Brief als Vorrangsendung ("Par avion", "Prioritaire" oä) zu kennzeichnen. Nach der vom Senat eingeholten Auskunft der D. P. konnte bei dieser Versendungsform damit gerechnet werden, daß innerhalb von acht Tagen ca 72 %, innerhalb von zehn Tagen ca 90 % und innerhalb von zwölf Tagen ca 95 % der Sendungen ihren Bestimmungsort erreichen würden. Bei dem vom LSG zugrunde gelegten Ablauf der Berufungsfrist am 15. September 1997 hätte die Klägerin danach nicht mit hinreichender Sicherheit auf einen rechtzeitigen Zugang vertrauen können, da die Wahrscheinlichkeit, daß der Brief innerhalb von nur fünf Tagen beim SG eingehen werde, allenfalls 50 % betrug. Lief die Berufungsfrist dagegen, wie von der Beschwerde vorgetragen, erst am 22. September 1997 ab, war die Aufgabe zur Post am 10. September 1997 ausreichend; denn bei einer Zugangswahrscheinlichkeit von deutlich über 90 % muß dem Rechtsmittelführer zugebilligt werden, das aus der Sicht eines gewissenhaften Prozeßbeteiligten für die Fristwahrung Erforderliche getan zu haben.

Auf Grund der gegebenen Beweislage kann nicht davon ausgegangen werden, daß das Urteil des SG der Klägerin vor dem 21. August 1997 zugestellt worden ist; demzufolge hat die Berufungsfrist frühestens am 22. September 1997, einem Montag, geendet (§ 64 Abs 2 und 3 SGG). Die Vermutung des § 4 Abs 1 VwZG, auf die sich das LSG gestützt hat, greift nicht ein. Nach der genannten Vorschrift, die gemäß § 63 Abs 2 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung findet, gilt bei einer Zustellung durch die Post mittels eingeschriebenen Briefs dieser mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt, es sei denn, daß das zuzustellende Schriftstück nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Schriftstücks und den Zeitpunkt des Zugangs zu beweisen. Hier ist unsicher, ob die Einschreibsendung mit dem erstinstanzlichen Urteil der Klägerin innerhalb der Dreitagesfrist ausgehändigt worden ist. Ihr Prozeßbevollmächtigter hat das mit Schreiben vom 14. November 1997 gegenüber dem Berufungsgericht bestritten, und vorgetragen, seine Mandantin habe in ihren Unterlagen den 21. August 1997 als Tag der Übergabe vermerkt. Zwar hat er diese Angabe seinerzeit nicht näher belegt, insbesondere die entsprechende Notiz nicht zu den Akten gegeben. Andererseits hat das LSG, wie die Klägerin mit Recht rügt, ihr diesbezügliches Vorbringen gänzlich ignoriert und weder weitere Beweise verlangt noch von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den tatsächlichen Übergabezeitpunkt durch Rückfrage bei der Post zu klären. Letzteres wäre jedoch geboten gewesen. Dabei wird nicht verkannt, daß routinemäßige Nachforschungen des Gerichts wegen des Zustellungszeitpunkts nicht veranlaßt sind. Da § 4 Abs 1 VwZG eine Zugangsvermutung in der Form eines gesetzlich normierten Anscheinsbeweises aufstellt, muß der Zugangszeitpunkt nur dann von Amts wegen ermittelt werden, wenn der Empfänger die Vermutung durch entsprechenden Tatsachenvortrag erschüttert. Gefordert wird ein substantiiertes Bestreiten in der Weise, daß der Betreffende einen abweichenden Geschehensablauf schlüssig vorträgt, weil anderenfalls die Zugangsvermutung wertlos wäre (Bundesfinanzhof, Urteil vom 5. März 1986 - BFHE 146, 27, 31 = NVwZ 1986, 968 = USK 8623; Engelhardt/App, VwVG/VwZG-Komm, 4. Aufl 1996, § 4 VwZG Anm 6). Andererseits dürfen die Anforderungen an die Substantiierungspflicht nicht überspannt werden. Denn der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz verbietet es den Gerichten, den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfGE 69, 381, 385; BVerfG NJW 1999, 3701 = MDR 1999, 1456 mwN). Die Zustellung durch eingeschriebenen Brief ermöglicht es der Behörde oder dem Gericht, den Zugang eines Schriftstücks in Zweifelsfällen mit Hilfe der bei der Post aufbewahrten Empfangsbescheinigung leicht und zuverlässig festzustellen. Im Gegensatz dazu hat der Adressat in der Regel kaum eine Möglichkeit, Beweise oder auch nur konkrete Anhaltspunkte dafür zu liefern, daß er das Schriftstück verspätet oder gar nicht erhalten hat. Um die Ermittlungspflicht des Gerichts auszulösen, muß es deshalb ausreichen, wenn er den Zugang ausdrücklich bestreitet oder einen späteren Zugang konkret behauptet. Das war hier geschehen, denn die Klägerin hatte einen bestimmten späteren Zugangszeitpunkt benannt und auf eine dahingehende Notiz in ihren Unterlagen verwiesen.

Das Berufungsgericht wäre danach verpflichtet gewesen, den tatsächlichen Übergabezeitpunkt mit Hilfe eines Nachforschungsauftrags bei der Post zu ermitteln. Daß dies unterblieben und eine Klärung wegen des Ablaufs der sechsmonatigen Aufbewahrungsfrist für Zustellungsnachweise (vgl H.-G. Schneider, Kommentar zu den Allgemeinen Geschäftsbedingungen für den Briefdienst Inland der Deutschen Post AG, Stand: 1997, Anlage 2a Abschnitt 3.1.2, RdNr 2) nicht mehr möglich ist, fällt in den Verantwortungsbereich des Gerichts und kann der Klägerin nicht angelastet werden. Angesichts dessen bedurfte es keiner weiteren Glaubhaftmachung ihres Vorbringens, um "Zweifel" iS des § 4 Abs 1 Halbs 2 VwZG an der Einhaltung der Dreitagesfrist mit der Folge zu begründen, daß die gesetzliche Vermutung nicht gilt und die Beklagte ihrerseits den Tag des Zugangs zu beweisen, dh insoweit die Feststellungslast zu tragen hat (vgl zu einer ähnlichen Konstellation: BSG, Urteil vom 10. Mai 1990 - 12 RK 58/88 in SozR 3-1960 § 4 Nr 1). Die im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nachträglich vorgelegten Unterlagen stützen im übrigen den Vortrag der Klägerin. Auf dem für die Zustellung des SG-Urteils benutzten Briefumschlag befindet sich danach außer dem Poststempel "12.8.97" ein handschriftlicher Vermerk "benachr. 13/8" sowie ein Datumsstempel "21.08.". Diese Angaben deuten darauf hin, daß die Empfängerin bei einem Übergabeversuch am 13. August an ihrer Adresse nicht angetroffen wurde und das Einschreiben auf Grund der erfolgten Benachrichtigung am 21. August bei der Post abgeholt hat. Da die Benachrichtigung durch die Post, daß ein Einschreibebrief abzuholen ist, noch keine Zustellung iS von § 63 Abs 1 SGG darstellt (BSG SozR 3-1960 § 4 Nr 1 S 3 mwN), würde dies den Vortrag bestätigen, daß die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils erst zu dem von der Klägerin behaupteten Zeitpunkt erfolgt ist.

Nachdem die Berufungsfrist somit frühestens am 22. September 1997 abgelaufen ist und die Klägerin mit der Aufgabe der Berufungsschrift am 10. September 1997 ihrer prozessualen Sorgfaltspflicht genügt hatte, hätte ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt und über ihre Berufung sachlich entschieden werden müssen. Auf die entsprechende Verfahrensrüge war deshalb der angefochtene Beschluß aufzuheben. Das Berufungsgericht wird nunmehr über den geltend gemachten Krankengeldanspruch und abschließend auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

Ende der Entscheidung

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