Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 18.12.2003
Aktenzeichen: B 11 AL 27/03 R
Rechtsgebiete: BGB, KSchG, AFG


Vorschriften:

BGB § 366 Abs 2
KSchG § 12 Satz 4
AFG § 141b
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Verkündet am 18. Dezember 2003

Az: B 11 AL 27/03 R

Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 18. Dezember 2003 durch den Vorsitzenden Richter Balzer, die Richter Voelzke und Dr. Leitherer sowie die ehrenamtlichen Richter Hanel und Siller

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 5. Dezember 2002 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Der Kläger begehrt höheres Konkursausfallgeld (Kaug).

Die W. GmbH & Co KG (im Folgenden: KG) kündigte das Arbeitsverhältnis des bei ihr als Bauhelfer beschäftigten Klägers am 6. Januar 1997 zum 13. Januar 1997. Daraufhin wandte sich der Kläger an das zuständige Arbeitsgericht (ArbG), das die KG zur Zahlung von 7.070,63 DM brutto Verzugslohn für die Zeit ab Dezember 1996 verurteilte und feststellte, das Arbeitsverhältnis sei durch die Kündigung vom 6. Januar 1997 nicht aufgelöst worden (Versäumnisurteile vom 15. April und 20. Mai 1997). Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 30. Mai 1997 teilte der Kläger, der vom 14. Januar 1997 bis 31. März 1997 Arbeitslosengeld (Alg) bezogen und ab 1. April 1997 eine neue Beschäftigung bei einem Gartenbauunternehmen aufgenommen hatte, der KG mit, er lehne eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ab; dieses erlösche mit Zugang des Schreibens.

Über das Vermögen der KG wurde auf einen am 13. März 1997 gestellten Antrag hin das Gesamtvollstreckungsverfahren am 1. Juni 1997 eröffnet. Die Beklagte bewilligte dem Kläger Kaug in Höhe von 670,47 DM für die Zeit vom 1. März 1997 bis 31. Mai 1997. Dabei ging sie davon aus, der Kläger habe auch für die Zeit vom 1. April bis zum 31. Mai 1997 Ansprüche auf Arbeitsentgelt gegen die KG. Auf die nicht erfüllten Ansprüche auf Arbeitsentgelt rechnete sie das Alg für März 1997 sowie den vom Kläger bei dem Gartenbauunternehmen im April und Mai 1997 erzielten Verdienst an (Bescheid vom 17. Oktober 1997). Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, er habe gegen die KG auch Arbeitsentgeltansprüche für die Zeit ab Dezember 1996; die Beklagte sei deshalb nicht berechtigt, den auf April und Mai 1997 entfallenden Zwischenverdienst im Kaug-Zeitraum zu berücksichtigen. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1998), ebenso die Klage und die Berufung des Klägers (Urteile des Sozialgerichts vom 22. September 1999 und des Landessozialgerichts <LSG> vom 5. Dezember 2002).

Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ua ausgeführt: Maßgebend seien noch die Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG). Insolvenzereignis sei gemäß § 141b AFG die Eröffnung der Gesamtvollstreckung über das Vermögen der KG am 1. Juni 1997; der Kaug-Zeitraum umfasse mithin die Zeit vom 1. März bis 31. Mai 1997. Daran ändere sich auch nichts bei Annahme einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor dem 1. Juni 1997; als früherer Zeitpunkt komme nur der 31. Mai 1997 in Betracht. Kaug stehe dem Kläger in Höhe des im Kaug-Zeitraum entgangenen Arbeitsentgelts abzüglich des erhaltenen Alg und des erzielten Zwischenverdienstes zu. Die Anrechnung des Zwischenverdienstes beruhe auf § 615 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); eine Berücksichtigung der Erklärung des Klägers, der Zwischenverdienst sei auf den Verzugslohn ab Dezember 1996 anzurechnen, erscheine ausgeschlossen. Der Gesetzgeber knüpfe für das Kaug an die Periodizität der Lohnzahlung an, das Kaug solle also nur das im Kaug-Zeitraum erarbeitete Arbeitsentgelt sichern; diese Betrachtungsweise lasse sich mit einer Gesamtabrechnung nicht in Übereinstimmung bringen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision wendet sich der Kläger gegen die Auffassung des LSG zur Anrechnung des Zwischenverdienstes. Nach dem Rechtsgedanken des § 366 Abs 2 BGB müsse ein während des Verzugs des Arbeitgebers erzielter Zwischenverdienst zunächst auf die ältesten, am ehesten von Verjährung bedrohten Zeiträume angerechnet werden. Darüber hinaus macht der Kläger nach Hinweisen des Senats auf § 12 Satz 4 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) und auf neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) geltend, in der Zeit ab April 1997 habe kein Arbeitsverhältnis iS des § 141b AFG mit der KG bestanden und ihm sei Kaug bereits für die dem Antrag auf Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens vorausgehenden drei Monate zu gewähren.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 5. Dezember 2002 und das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 22. September 1999 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 17. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Februar 1998 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger einen weiteren Betrag in Höhe von 1685,79 Euro (3297,13 DM) als Kaug zu zahlen,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 5. Dezember 2002 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält an der Auffassung fest, der Dreimonatszeitraum des § 141b AFG sei nach dem Zeitpunkt der Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens am 1. Juni 1997 zu bestimmen. Die Monate April und Mai 1997 seien Zeiten des Arbeitsverhältnisses iS des § 141b AFG.

II

Die Revision des Klägers ist iS der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung begründet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen kann der Kläger einen Anspruch auf höheres Kaug haben, als ihm bislang zuerkannt worden ist; insoweit erlauben die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LSG keine abschließende Entscheidung.

1. Da es um einen Anspruch auf Kaug für die Zeit vor dem 1. Juni 1997 geht, sind die Vorschriften des AFG anzuwenden (Art 82 Abs 2 des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes vom 24. März 1997, BGBl I 594). Nach § 141b Abs 1 Satz 1 AFG hat Anspruch auf Kaug ein Arbeitnehmer, der bei Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen seines Arbeitgebers - bzw bei Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens, vgl § 249c Abs 21 AFG - noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt für die letzten der Eröffnung vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses hat (jetzt: § 183 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung). Das LSG hat wie die Beklagte als maßgebliches Insolvenzereignis die Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens über das Vermögen der KG am 1. Juni 1997 angesehen. Das LSG hat weiter angenommen, der Kläger habe aus dem Arbeitsverhältnis mit der KG noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt für die Monate März bis Mai 1997 gehabt, worauf allerdings der ab April 1997 erzielte Zwischenverdienst anzurechnen sei. Dies hält - ua unter Berücksichtigung des erst nach der Entscheidung des LSG ergangenen Urteils des EuGH vom 15. Mai 2003, C-160/01, NJW 2003, 2371 ("Mau") - der rechtlichen Nachprüfung nicht in vollem Umfang stand.

a) Der Senat folgt dem LSG darin, dass das den Anspruch auf Kaug bestimmende Insolvenzereignis iS des § 141b AFG die Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens am 1. Juni 1997 ist. Zwar hat der EuGH am 15. Mai 2003 (aaO) entschieden, Art 3 Abs 2 und Art 4 Abs 2 der Richtlinie des Europäischen Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (EWGRL 80/987) in der bis zum Inkrafttreten der Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 (ABl L 270) geltenden Fassung seien dahin auszulegen, dass sie einer Bestimmung nationalen Rechts entgegenstehen, in der der Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als der Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens und nicht als der Zeitpunkt der Einreichung dieses Antrags definiert wird. Das hier anzuwendende deutsche Recht - § 141b AFG -, das nicht auf den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, sondern grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Eröffnung abstellt, genügte insofern nicht den Anforderungen der EWGRL 80/987, ist jedoch eindeutig und kann nicht iS der Rechtsprechung des EuGH ausgelegt werden (vgl auch Krause, ZIP 1998, 56, 59 f). Für die Entscheidung im vorliegenden Fall (zur Änderung der EWGRL 80/987 durch die EWGRL 2002/74 für die Zeit ab 2002 vgl BSGE 90, 157, 161 = SozR 3-4300 § 183 Nr 3) ist deshalb der Dreimonatszeitraum des § 141b Abs 1 Satz 1 AFG ausgehend vom Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens am 1. Juni 1997 zu bestimmen.

Zu beachten ist dabei, dass sich allein aus der EWGRL 80/987 keine Ansprüche des einzelnen Arbeitnehmers gegen die Beklagte ableiten lassen (BSG SozR 3-4100 § 141b Nr 23 S 113 f mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EuGH, ua EuGHE I 1993, 6911, 6931 f), und dass der Senat vorliegend nicht über einen etwaigen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz wegen mangelhafter Umsetzung der Richtlinie zu entscheiden hat. Ein solcher Schadensersatzanspruch könnte sich auch nicht gegen die Beklagte, sondern allein gegen die Bundesrepublik Deutschland richten (vgl BSG aaO S 114).

b) Nicht gefolgt werden kann dem LSG dagegen, soweit es angenommen hat, zwischen dem Kläger und der KG habe noch bis Ende Mai 1997 ein Arbeitsverhältnis iS von § 141b AFG bestanden. Das LSG hat insoweit nicht beachtet, dass einem Arbeitnehmer, dessen gekündigtes Arbeitsverhältnis nach einer Entscheidung des ArbG fortbesteht, der jedoch inzwischen ein neues Arbeitsverhältnis eingegangen ist und gegenüber dem alten Arbeitgeber wirksam die Verweigerung der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erklärt hat, nach § 12 Satz 4 KSchG entgangener Verdienst nur für die Zeit zwischen der Entlassung und dem Tag des Eintritts in das neue Arbeitsverhältnis zu gewähren ist. Der Arbeitnehmer, der von seinem Verweigerungsrecht Gebrauch macht, verliert den Anspruch auf Verzugslohn gegen den alten Arbeitgeber ab Aufnahme der neuen Beschäftigung vollständig, und zwar auch dann, wenn der Verdienst aus dem alten Arbeitsverhältnis höher ist (vgl von Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, 13. Aufl, § 12 RdNr 6; Ascheid in Erfurter Kommentar, 4. Aufl, § 12 KSchG RdNr 9). Nach den Feststellungen des LSG hat das ArbG am 20. Mai 1997 im Sinne des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses des Klägers mit der KG entschieden und der Kläger hat nach Aufnahme seiner neuen Beschäftigung am 1. April 1997 gegenüber der KG mit Schreiben vom 30. Mai 1997 von seinem Verweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Damit hat der Kläger nach § 12 Satz 4 KSchG gegen die KG nur noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt für die Zeit bis Ende März 1997; für die Zeit ab April 1997 ist ihm Arbeitsentgelt nicht mehr zu zahlen. Insoweit besteht schon mangels eines Anspruchs auf Arbeitsentgelt gegen die KG kein Anspruch auf Kaug. Es kann folglich auch nicht auf die vom LSG erörterte Frage ankommen, wie der beim neuen Arbeitgeber erzielte Verdienst anzurechnen ist.

Konnte der Kläger somit für die Monate April und Mai 1997 kein Arbeitsentgelt mehr von der KG fordern, muss bei Auslegung des deutschen Rechts unter Beachtung der Maßstäbe der EWGRL 80/987 angenommen werden, dass in dieser Zeit zwischen dem Kläger und der KG kein Arbeitsverhältnis iS des § 141b Abs 1 Satz 1 AFG bestand, die "letzten drei Monate" des Arbeitsverhältnisses iS der genannten Vorschrift also die Zeit vom 1. Januar bis 31. März 1997 umfassen. Denn nach der Entscheidung des EuGH vom 15. Mai 2003 in der Sache "Mau" (aaO) ist der Begriff des Arbeitsverhältnisses auf Gemeinschaftsebene einheitlich dahin auszulegen, dass nur Zeiträume erfasst werden, die ihrer Natur nach zu nicht erfüllten Ansprüchen auf Arbeitsentgelt führen können. Der EuGH hat dazu ausgeführt, die EWGRL 80/987 verbiete es, den Begriff "Arbeitsverhältnis" in einer Weise auszulegen, die dazu führe, dass die in der Richtlinie vorgegebene Mindestgarantie auf Null reduziert werde. Eine derartige Reduzierung wäre aber das Ergebnis, würde man trotz Entfallens des Anspruchs auf Arbeitsentgelt nach § 12 Satz 4 KSchG den Zeitraum vom Beginn der neuen Beschäftigung bis zum Wirksamwerden der Erklärung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem bisherigen Arbeitgeber (§ 12 Satz 3 KSchG) noch als Zeit eines Arbeitsverhältnisses iS des § 141b Abs 1 Satz 1 AFG bewerten. Insofern ist die Position des Klägers vergleichbar mit derjenigen des Arbeitnehmers in dem der Entscheidung des EuGH vom 15. Mai 2003 zu Grunde liegenden Fall, in dem das Arbeitsverhältnis wegen Inanspruchnahme von Erziehungszeit mit der Folge des Entfallens des Arbeitsentgeltanspruches geruht hatte. Bei richtlinienkonformer Auslegung des § 141b Abs 1 Satz 1 AFG besteht mithin ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Gewährung von Kaug unter Zugrundelegung der Ansprüche auf Arbeitsentgelt gegen die KG für die Monate Januar, Februar und März 1997.

2. Den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist nicht zu entnehmen, in welcher genauen Höhe der Kläger für die Zeit vom 1. Januar bis 31. März 1997 gegen die KG Arbeitsentgelt beanspruchen konnte. Ebenso wenig ist festgestellt, in welcher Höhe die Beklagte im vorgenannten Zeitraum Alg geleistet hat. Das LSG wird hierzu die notwendigen Feststellungen zu treffen und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

Zurück