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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 22.05.2003
Aktenzeichen: B 12 KR 24/02 R
Rechtsgebiete: SGB VI


Vorschriften:

SGB VI § 230 Abs 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

Verkündet am 22. Mai 2003

Az: B 12 KR 24/02 R

in dem Rechtsstreit

Der 12. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 22. Mai 2003 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Peters, die Richter Dr. Berchtold und Prof. Dr. Schlegel sowie die ehrenamtlichen Richter Kovar und Dr. Klasen

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Oktober 2002 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 4. September 2001 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin und der Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten um die Versicherungsfreiheit einer "Werkstudentin" in der Rentenversicherung.

Die Klägerin ist Steuerberaterin. Sie beschäftigte seit September 1993 die Studentin W. G. . Die Klägerin führte keine Beiträge zur Rentenversicherung ab, weil die Studentin nach dem "Werkstudentenprivileg" des § 5 Abs 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) versicherungsfrei war. Diese Vorschrift wurde durch Art 1 Nr 2 Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25. September 1996 (BGBl I 1461) mit Wirkung vom 1. Oktober 1996 gestrichen (vgl Art 12 Abs 5 WFG). Im März 2000 führte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte bei der Klägerin für die Zeit von Dezember 1995 bis Dezember 1999 eine Betriebsprüfung durch. Sie forderte Beiträge zur Rentenversicherung der Studentin für die Zeit von September bis Dezember 1997 und von Juni bis Dezember 1999 nach, insgesamt 3.617 DM (Bescheid vom 29. März 2000; Widerspruchsbescheid vom 9. August 2000). Die Studentin sei ab September 1997 versicherungspflichtig gewesen, weil das Werkstudentenprivileg nicht mehr gegolten und sie jetzt mehr als nur geringfügig gearbeitet habe. Nach der Übergangsregelung des § 230 Abs 4 SGB VI zum gestrichenen § 5 Abs 3 SGB VI blieben zwar Personen in derselben Beschäftigung weiterhin versicherungsfrei, die am 1. Oktober 1996 in einer Beschäftigung als ordentliche Studierende versicherungsfrei gewesen seien. Das treffe hier aber nicht zu, weil die Beschäftigung am Stichtag nicht auf Grund des Werkstudentenprivilegs, sondern wegen Geringfügigkeit versicherungsfrei gewesen sei. Es sei unerheblich, dass die Studentin auch in den Jahren 1993 und 1994 schon Arbeitsentgelte über der Geringfügigkeitsgrenze erzielt habe und damals allein nach dem Werkstudentenprivileg versicherungsfrei gewesen sei.

Die Klägerin hat Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides mit Urteil vom 4. September 2001 aufgehoben. Dem Wortlaut des § 230 Abs 4 SGB VI lasse sich nicht entnehmen, dass die Besitzstandsregelung nicht für Studenten gelte, die vor dem 1. Oktober 1996 eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt hätten. Die Versicherungsfreiheit auf Grund des Werkstudentenprivilegs (§ 5 Abs 3 SGB VI) habe neben derjenigen wegen Geringfügigkeit der Beschäftigung (§ 5 Abs 2 SGB VI) gestanden. Zwar sei Abs 3 erst bei einem Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze zum Tragen gekommen. Bis zu seiner Aufhebung habe sich die Versicherungsfreiheit geringfügig beschäftigter Studenten aber aus beiden Vorschriften ergeben.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) nach Beiladung der Studentin mit Urteil vom 17. Oktober 2002 das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen. § 230 Abs 4 SGB VI gelte nicht für Studenten, die vor dem 1. Oktober 1996 eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen und diese danach in eine mehr als geringfügige Beschäftigung umgewandelt hätten. Nach Sinn und Zweck des § 230 Abs 4 SGB VI als Übergangsregelung erfasse die Vorschrift allein Studenten, die am 30. September 1996 nur auf Grund des Werkstudentenprivilegs (§ 5 Abs 3 SGB VI) versicherungsfrei gewesen seien. Damals sei die Beigeladene jedoch geringfügig beschäftigt gewesen.

Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 230 Abs 4 SGB VI.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG vom 17. Oktober 2002 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 4. September 2001 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beklagte hält das Urteil des LSG für zutreffend. § 230 Abs 4 SGB VI finde keine Anwendung, wenn der Student zum Stichtag geringfügig beschäftigt gewesen sei. Die Besitzstandsregelung solle nur denjenigen Studenten zugute kommen, die bei Wegfall des Werkstudentenprivilegs des § 5 Abs 3 SGB VI auf Grund dieser Bestimmung versicherungsfrei gewesen seien.

Die Beigeladene hat sich nicht geäußert.

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das LSG durfte auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG nicht aufheben und die Klage nicht abweisen. Die Berufung der Beklagten war zurückzuweisen. Der angefochtene Bescheid vom 29. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. August 2000 ist rechtswidrig. Das SG hat diesen zu Recht aufgehoben. Die Beigeladene war in ihrer Beschäftigung bei der Klägerin auch über den 30. September 1996 hinaus nach § 230 Abs 4 SGB VI als Studentin versicherungsfrei.

Die Beigeladene war seit September 1993 bei der Klägerin gegen Arbeitsentgelt beschäftigt und damit grundsätzlich in der Rentenversicherung versicherungspflichtig (vgl § 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI). Eine entgeltliche Beschäftigung war und ist dort jedoch versicherungsfrei, wenn es sich dabei um eine geringfügige Beschäftigung iS des § 8 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) handelt (vgl § 5 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI). Dieses traf, wie nicht umstritten ist, während des gesamten Jahres 1996 zu, jedoch nicht mehr in den Zeiten von September bis Dezember 1997 und von Juni bis Dezember 1999, als die Geringfügigkeitsgrenze überschritten war. Die Beigeladene war in diesen Zeiten jedoch als Studentin nach § 230 Abs 4 SGB VI versicherungsfrei.

Nach § 230 Abs 4 SGB VI bleiben Personen, "die am 1. Oktober 1996 in einer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit als ordentliche Studierende einer Fachschule oder Hochschule versicherungsfrei waren ..., in dieser Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit versicherungsfrei. Sie können jedoch beantragen, dass die Versicherungsfreiheit endet". Satz 1 des § 230 Abs 4 SGB VI traf auf die Beigeladene zu. Sie war am 30. September 1996 in ihrer Beschäftigung bei der Klägerin als Studierende versicherungsfrei. Soweit in § 230 Abs 4 Satz 1 SGB VI darauf abgestellt wird, dass die Fortgeltung des Werkstudentenprivilegs nur für Personen gilt, die am 1. Oktober 1996, also nach dem Außerkrafttreten des § 5 Abs 3 SGB VI, in einer Beschäftigung als ordentliche Studierende versicherungsfrei waren, handelt es sich um ein Redaktionsversehen. Maßgeblicher Stichtag ist der 30. September 1996 (vgl dazu Grintsch in Kreikebohm, Komm zum SGB VI, 2. Aufl 2003, § 230 RdNr 14).

Bei § 230 Abs 4 SGB VI handelt es sich um eine Übergangsvorschrift zu dem mit Wirkung vom 1. Oktober 1996 gestrichenen Werkstudentenprivileg des § 5 Abs 3 SGB VI (vgl BT-Drucks 13/4610, S 25 zu Nr 27 - § 230 des Entwurfs des WFG). Ihrem Wortlaut lässt sich die enge Auslegung des LSG und der Beklagten nicht entnehmen. Nach dieser Ansicht muss sich die Versicherungsfreiheit zum Stichtag ausschließlich aus § 5 Abs 3 SGB VI ergeben haben, während eine Versicherungsfreiheit wegen Geringfügigkeit die Anwendung der Vorschrift ausschließen soll (so Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger vom 1. Oktober 1996 - Die Beiträge 1997, 57, 59; Grintsch, aaO, § 230 RdNr 17; Klattenhoff in Hauck/Noftz, Komm zum SGB VI, § 230 RdNr 29, Stand November 2000). Demgegenüber stimmt der Senat der vom SG vertretenen weiteren Auslegung zu. Nach ihr ist die Übergangsregelung auch auf die Beschäftigung eines Studenten anzuwenden, dessen Versicherungsfreiheit sich am Stichtag nicht nur aus § 5 Abs 3 SGB VI, sondern darüber hinaus aus § 5 Abs 2 SGB VI ergab. Dies ergibt sich aus dem Verhältnis der Abs 2 und 3 des § 5 SGB VI zu einander.

Der Tatbestand der Versicherungsfreiheit auf Grund Geringfügigkeit der Beschäftigung (§ 5 Abs 2 SGB VI) verdrängte nicht denjenigen der Versicherungsfreiheit als Werkstudent (§ 5 Abs 3 SGB VI). Das Gesetz sieht einen entsprechenden Ausschluss des Abs 3 durch Abs 2 des § 5 SGB VI nicht vor. Vielmehr standen beide Tatbestände der Versicherungsfreiheit selbstständig nebeneinander. Zwar konnte es aus Gründen der Praktikabilität zweckmäßig sein, zunächst die Versicherungsfreiheit wegen Geringfügigkeit zu prüfen, wenn ausnahmsweise Zweifel am studentischen Erscheinungsbild bestanden. Es bestand aber kein Rechtssatz des Inhalts, dass Versicherungsfreiheit nach § 5 Abs 3 SGB VI erst dann in Betracht kam, wenn sich die Versicherungsfreiheit nicht bereits aus der Geringfügigkeit der Beschäftigung ergab. Vielmehr war für Studenten § 5 Abs 3 SGB VI der speziellere Tatbestand: Anders als Abs 2 des § 5 SGB VI knüpfte dessen Abs 3 die Versicherungsfreiheit in einer Beschäftigung nicht an die Einhaltung bestimmter Entgeltgrenzen. Außerdem bestand nach Abs 3 Versicherungsfreiheit bei zeitlich umfangreicheren Beschäftigungen als nach Abs 2. Während nach § 5 Abs 2 SGB VI iVm § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV in seiner bis zum 31. März 2003 geltenden Fassung Versicherungsfreiheit nur vorlag, wenn die Beschäftigung regelmäßig weniger als 15 Stunden in der Woche ausgeübt wurde, setzte Versicherungsfreiheit auf Grund des Werkstudentenprivilegs nach der Rechtsprechung lediglich voraus, dass eine neben dem Studium ausgeübte Erwerbstätigkeit durchschnittlich 20 Stunden in der Woche nicht übersteigt (vgl BSGE 78, 229, 233 = SozR 3-2500 § 6 Nr 11 mwN). Daher hatten die Arbeitsvertragsparteien in aller Regel keinen Anlass, die Einhaltung der wesentlich strengeren Geringfügigkeitsgrenzen zu prüfen, solange der Beschäftigte immatrikuliert und sein studentisches Erscheinungsbild erhalten blieb (zur Prüfungspflicht beider Tatbestände der Versicherungsfreiheit und zur Prüfungsreihenfolge in der Praxis vgl zB BSGE 71, 144, 149 = SozR 3-2200 § 172 Nr 2; BSG SozR 3-2500 § 6 Nr 16 S 54).

Dieses Verhältnis des Abs 3 und des Abs 2 des § 5 SGB VI zueinander rechtfertigt die Anwendung des § 230 Abs 4 Satz 1 SGB VI auch im vorliegenden Verfahren. Die Versicherungsfreiheit der beigeladenen Studentin nach Abs 3 am maßgeblichen Stichtag wurde nicht dadurch beseitigt, dass ihre Beschäftigung zu diesem Zeitpunkt auch die Voraussetzungen der Versicherungsfreiheit wegen Geringfügigkeit der Beschäftigung erfüllte. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Beigeladene während ihrer gesamten Beschäftigung bei der Klägerin ihrem äußeren Erscheinungsbild nach Studentin war. Sie erfüllte damit seit September 1993 die Voraussetzungen für die Versicherungsfreiheit ihrer Beschäftigung auf Grund des § 5 Abs 3 SGB VI. Dieses bereits vor dem Stichtag begründete Beschäftigungsverhältnis bestand auch am 30. September 1996 fort; eine Erhöhung des Arbeitsentgelts über die Geringfügigkeitsgrenze ab September 1997 ändert nichts an dessen Identität. Der Versicherungsfreiheit dieses Beschäftigungsverhältnisses auf Grund des § 5 Abs 3 SGB VI stand nicht entgegen, dass das Arbeitsentgelt der Beigeladenen in der Zeit nach 1994 bis einschließlich August 1997 die jeweils maßgeblichen Entgeltgrenzen des § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV nicht (mehr) überstieg und sie jedenfalls in diesem Zeitraum zusätzlich den Tatbestand der Versicherungsfreiheit des § 5 Abs 2 SGB VI wegen Geringfügigkeit erfüllte.

Jedenfalls bei Studenten, die wie die Beigeladene in demselben Beschäftigungsverhältnis vor dem Stichtag zeitweise nur als Werkstudent, um den Stichtag herum als Werkstudent und wegen Geringfügigkeit versicherungsfrei waren und später die Geringfügigkeitsgrenze wieder überschritten haben, liegt es nicht iS der Übergangsregelung, Versicherungspflicht eintreten zu lassen. Aus Gründen einer möglichst einfachen Abwicklung der Übergangsregelung hält es der Senat nicht für angezeigt, auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen, deretwegen um den Stichtag herum nur eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt worden ist. Es ist darüber hinaus auch wenig praktikabel, bei der Anwendung der Übergangsvorschrift darauf abzustellen, ob die Beschäftigung vor dem Stichtag zeitweise nur auf Grund des Werkstudentenprivilegs oder durchgehend wegen Geringfügigkeit bestanden hat. Auch in den letztgenannten Fällen neigt der Senat dazu, die Übergangsregelung anzuwenden. Eine zu weite Ausdehnung der Übergangsregelung wird dadurch verhindert, dass sie nur auf dasselbe Beschäftigungsverhältnis anzuwenden ist und die Anforderungen des früheren Werkstudentenprivilegs weiterhin erfüllt sein müssen. Unter diesen Umständen liegen heute, mehr als sechs Jahre nach dem Stichtag, nahezu alle Übergangsfälle in der Vergangenheit und können anhand der vorliegenden Entscheidung abgeschlossen werden.

Satz 2 des § 230 Abs 4 SGB VI steht dieser Auslegung des Satz 1 nicht entgegen. Nach Satz 2 können Studenten beantragen, dass die Versicherungsfreiheit endet, und sich dadurch vor dem Verlust rentenrechtlicher Zeiten schützen. Dieses Antragsrecht erstreckt sich allerdings nur auf eine nach § 230 Abs 4 Satz 1 SGB VI fortbestehende Versicherungsfreiheit auf Grund des Werkstudentenprivilegs (Freiheitstatbestand des früheren § 5 Abs 3 SGB VI). Satz 2 räumt Studenten demgegenüber nicht das Recht ein, die Versicherungsfreiheit wegen Geringfügigkeit ihrer Beschäftigung (Freiheitstatbestand des § 5 Abs 2 SGB VI) zu beseitigen und damit Versicherungspflicht einer geringfügigen Beschäftigung zu begründen.

Hiernach erwies sich die Revision der Klägerin als begründet. Deshalb war das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung für das Berufungs- und das Revisionsverfahren beruht auf § 193 Abs 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung (vgl BSG SozR 3-2500 § 116 Nr 24 S 115 ff). Über die Erstattung außergerichtlicher Kosten erster Instanz hat das SG entschieden.

Ende der Entscheidung

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