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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 04.12.2001
Aktenzeichen: B 2 U 12/01 R
Rechtsgebiete: SGB X, EinigVtr


Vorschriften:

SGB X § 44
EinigVtr Anlage l Kapitel VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nr 2
EinigVtr Art 19 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 2 U 12/01 R

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 4. Dezember 2001 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Burchardt, die Richter Thiele und Kruschinsky sowie die ehrenamtlichen Richter Liedtke und Kleemann

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 21. Februar 2001 sowie das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 8. Dezember 1998 aufgehoben, soweit darin der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 aufgehoben und die Beklagte verurteilt worden ist, den Bescheid der Betriebsgewerkschaftsleitung VEB (K) Stadtdirektion Straßenwesen vom 24. August 1982 zurückzunehmen und das Ereignis vom 22. Juli 1982 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen. In diesem Umfang wird die Klage abgewiesen.

Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Kläger wegen der Folgen eines im Jahre 1982 in der DDR erlittenen Verkehrsunfalls zu entschädigen hat.

Der am 29. Juli 1938 geborene Kläger war im damaligen Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) beim VEB (K) Stadtdirektion Straßenwesen als Platzwart beschäftigt. Am 22. Juli 1982 bat ihn sein unmittelbarer Vorgesetzter, während der Mittagspause mit seinem Kleinkraftrad zum Bäcker zu fahren und dort Brot und Brötchen für die Arbeitskollegen zu besorgen. Als der Kläger gegen 12.00 Uhr von dieser Besorgung zurückfuhr und einen zunächst noch haltenden LKW überholen wollte, setzte sich dieser rückwärts nach links in Bewegung, um durch ein Wendemanöver auf die andere Straßenseite zu gelangen. Beim Zurückfahren bemerkte der LKW-Fahrer den Kläger nicht, der in der irrtümlichen Annahme, der LKW werde weiterhin stehen bleiben, mit seinem Kleinkraftrad zum Linksüberholen angesetzt hatte. Der Kläger geriet unter die Hinterräder des LKW und wurde dabei schwer verletzt.

Mit Bescheid vom 24. August 1982 lehnte es die Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) des VEB (K) Stadtdirektion Straßenwesen ab, den "Wegeverkehrsunfall" als Arbeitsunfall anzuerkennen. Abgesehen von Zahlungen der Staatlichen Versicherung erhielt der Kläger keine Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Im Januar 1994 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf "Unfallteilrente" und machte hierzu geltend, er sei damals im Auftrag seines Vorgesetzten zum Bäcker gefahren. Der Unfall habe als Arbeitsunfall anerkannt werden sollen. Dies sei aber im nachhinein von BGL und Parteileitung abgelehnt worden. Mit Bescheid vom 24. Mai 1995 lehnte es die Beklagte ab, den - damals nicht vorliegenden - Bescheid der BGL zurückzunehmen, mit dem der Unfall vom 22. Juli 1982 als Arbeitsunfall abgelehnt worden war. Die Entscheidung der BGL sei nicht fehlerhaft gewesen, weil dem unfallbringenden Weg eigenwirtschaftliche Motive zugrunde gelegen hätten. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19. Dezember 1995).

Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) hat die Beklagte mit Bescheid vom 24. Juli 1997 ihren Ausgangsbescheid vom 24. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 gemäß § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückgenommen, weil die Existenz des Bescheides der BGL vom 24. August 1982 bis dahin nicht nachgewiesen gewesen sei, lehnte jedoch die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlaß des Ereignisses vom 22. Juli 1982 ab. Es sei nicht erwiesen, daß es sich bei dem Unfall des Klägers um einen Arbeitsunfall gehandelt habe. Im weiteren Verlauf des Verfahrens vor dem SG hat der Kläger vorgetragen, es sei weder zu einer Ablehnung noch zu einer Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall gekommen. Ihm sei nur mitgeteilt worden, daß die Unfallanzeige an die zuständigen Organe weitergeleitet worden sei. Der Unfall habe sich während der Dienstzeit ereignet. Er sei "im betrieblichen Auftrag" unterwegs gewesen.

Im August 1998 hat das Stadtarchiv Chemnitz dem SG ua eine Kopie des Ablehnungsbescheides der BGL vom 24. August 1982 übersandt. Darin wird dem Kläger als Ergebnis der Beratung des BGL vom 4. August 1982 mitgeteilt, der "Wegeverkehrsunfall" werde nicht als Arbeitsunfall anerkannt. Zur Begründung der Ablehnung wird angeführt, Unfälle, die im Zusammenhang mit der Freistellung (von der Arbeitspflicht) aus persönlichen Gründen gemäß § 188 des Arbeitsgesetzbuchs der DDR (AGB) eingetreten seien, würden nicht als Wegeunfälle gemäß § 220 AGB anerkannt. Der Bescheid enthält eine Belehrung darüber, daß gegen ihn innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt Einspruch bei der Kreisbeschwerdekommission für Sozialversicherung beim FDGB- Stadt- bzw Kreisvorstand Mitte Nord Karl-Marx-Stadt erhoben werden könne. Die Beklagte hat daraufhin vorgetragen, dieser Ablehnungsbescheid der BGL sei trotz der Rücknahme des eigenen Bescheides vom 24. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 bestandskräftig geblieben.

Das SG hat den Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 1997 sowie den durch diesen zurückgenommenen Bescheid vom 24. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Bescheid der BGL vom 24. August 1982 zurückzunehmen und das Ereignis vom 22. Juli 1982 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen (Urteil vom 8. Dezember 1998). Nachdem der Bescheid der BGL vom 24. August 1982 beigezogen worden sei, sei der Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 1997 im Rahmen der isolierten Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) aufzuheben gewesen. Der die Rücknahme des BGL-Bescheides ablehnende Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 sei rechtswidrig. Denn nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X sei der Bescheid der BGL aufzuheben, weil er aus heutiger Sicht gegen die damals geltenden Unfallversicherungsvorschriften der DDR verstoßen habe.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen (Urteil vom 21. Februar 2001). Dem Kläger stehe der geltend gemachte Anspruch gemäß § 44 Abs 1 SGB X zu. Diese Vorschrift sei im vorliegenden Fall anwendbar. Ihre Anwendung scheitere abweichend von der vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 23. März 1999 (SozR 3-8100 Art 19 Nr 5) vertretenen Auffassung nicht daran, daß von der Verwaltung der DDR erlassene rechtswidrige Bescheide nur unter den strengen Voraussetzungen des Art 19 Satz 2 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 (BGBl II 889 ber 1239) - EinigVtr - zurückgenommen werden dürften. Die Beklagte sei nicht nur befugt gewesen, in der Sache neu zu entscheiden, sie hätte den Anspruch des Klägers auch anerkennen müssen. Der Kläger sei zwar im Unfallzeitpunkt nicht im betrieblichen Interesse unterwegs gewesen, habe sich jedoch auf einem Weg befunden, der der sinnvollen Gestaltung der Mittagspause gedient habe, indem er Einkäufe des täglichen Bedarfs in einer Verkaufsstelle in ummittelbarer Nähe des Betriebes im eigenen und im Interesse seiner Arbeitskollegen erledigt habe. Auch ein Unfall auf einem derartigen Weg stelle einen Arbeitsunfall gemäß § 220 AGB dar. Sofern man sich dieser rechtlichen Auffassung nicht anschließen wolle, habe der Kläger zumindest einen Wegeunfall nach § 220 Abs 2 AGB erlitten.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. § 44 SGB X sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Gemäß der Anlage l Kapitel VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nr 2 des EinigVtr sei diese Vorschrift für den Bereich der Unfallversicherung erst ab dem 1. Januar 1991 anzuwenden, wobei sich der entscheidungserhebliche Sachverhalt auf eine Zeit ab diesem Stichtag beziehen müsse. Eine Aufhebung, die sich auf einen Sachverhalt davor beziehe, sei daher nur unter der Voraussetzung des Art 19 Satz 2 EinigVtr möglich. Eine darüber hinausgehende Anwendung des § 44 SGB X lasse sich nicht mit dem Wortlaut des Art 19 EinigVtr begründen. Insbesondere bedeute die Formulierung "im übrigen" in Satz 3 nur, daß etwas übrig bleibe, unabhängig davon, ob es "viel" oder "wenig" sei.

Soweit das LSG seine Meinung auf die Denkschrift zum EinigVtr stütze, sei dies schon deshalb zu bezweifeln, da nicht zwischen "Wirksamkeit" und "Bestandskraft" unterschieden werde. Ferner spreche gegen die Anwendbarkeit des § 44 SGB X, daß das im Beitrittsgebiet in Kraft getretene Bundesrecht nur in der jeweiligen Geltungszeit, dh für Zeiten und Sachverhalte nach dem Inkrafttreten, wirke, da keine Rückwirkung von Rechtsfolgen angeordnet worden sei. Andernfalls hätte es einer materiellen Regelung bedurft, die auf frühere Zeiten abstelle. Im übrigen sei auch bei Einführung des SGB X ausdrücklich geregelt worden, wann die Widerrufs- und Rücknahmevorschriften auch für Zeiten vor Inkrafttreten wirkten. Die Auffassung des LSG lasse sich auch nicht aus Entscheidungen des 4. und 9. Senats des BSG sowie des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) und des Bundesfinanzhofs (BFH) begründen. Auch die Ausführungen des LSG zu Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) überzeugten nicht. Soweit das LSG auf den § 1154 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verweise, sei hier eine differenzierte Regelung erforderlich gewesen, um bei Rentengewährung klarzustellen, daß keine Umgehung der Vorschrift durch Anwendung des § 44 SGB X möglich sei.

Falls das BSG zur Auffassung gelangen sollte, § 44 SGB X sei entgegen der früheren Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall anwendbar, werde vorsorglich die Verletzung dieser Vorschrift gerügt. Denn weder sei von einem Sachverhalt ausgegangen worden, der sich im nachhinein als unrichtig erwiesen habe, noch habe sich der Verwaltungsakt als unrichtig erwiesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 21. Februar 2001 sowie das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 8. Dezember 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

II

Die Revision der Beklagten ist im wesentlichen begründet. Der Kläger hat entgegen der Auffassung des LSG keinen Anspruch, wegen der Folgen des Unfalls vom 22. Juli 1982 aus der gesetzlichen Unfallversicherung entschädigt zu werden. Der die Rücknahme des BGL-Bescheides vom 24. August 1982 ablehnende Bescheid vom 24. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 erweist sich im Ergebnis als rechtmäßig; denn die Beklagte als der nach dem Verteilungsschlüssel entsprechend Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr 1 Buchst c Abs 8 Nr 2 EinigVtr zuständige Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (s BG 1992, 325, 326) ist, wie der Kläger, an den ihm in der DDR erteilten Bescheid iS von § 77 SGG gebunden. Dessen vom LSG angenommene Aufhebbarkeit gemäß § 44 Abs 1 SGB X ist aufgrund der Vorschriften des Art 19 EinigVtr ausgeschlossen.

Der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 24. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 steht nicht entgegen, daß die Beklagte darin den BGL-Bescheid vom 24. August 1982 überprüft hat, mithin von der Anwendbarkeit des § 44 SGB X ausgegangen ist; denn der allein in Bindungswirkung erwachsende Tenor des genannten angefochtenen Bescheides ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Kläger wird dadurch nicht iS des § 54 Abs 2 SGG beschwert. Demgegenüber haben die Vorinstanzen den Bescheid vom 24. Juli 1997, mit dem die Beklagte ua ihren genannten Bescheid zurückgenommen hat und der gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist, schon deshalb zu Recht aufgehoben, weil sich im Laufe des Verfahrens vor dem SG herausgestellt hat, daß entgegen den zeitweilig gemachten Angaben des Klägers ein vom Versicherungsträger der DDR erlassener Verwaltungsakt in Gestalt des Bescheides der BGL vom 24. August 1982 existiert. Insoweit ist die Revision unbegründet. Mit der Aufhebung des Bescheides vom 24. Juli 1997 ist aber der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 wieder voll wirksam geworden, mit dem im Ergebnis zutreffend eine Rücknahme des BGL-Bescheides vom 24. August 1982 abgelehnt worden ist.

Prüfungsmaßstab ist allein Art 19 EinigVtr, wonach vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der DDR wirksam bleiben (Satz 1). Sie können nur aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des Vertrags unvereinbar sind (Satz 2). Im übrigen bleiben die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten unberührt (Satz 3). Diese die Anwendung der Regelungen über die Bestandskraft des Verwaltungsakts ua des SGB X betreffende Bestimmung des EinigVtr ist auch nach Schaffung der die Anwendung des materiellen Unfallversicherungsrechts ab dem 1. Januar 1992 regelnden Vorschriften der §§ 1148 ff RVO anzuwenden, da diese Vorschriften keine Regelungen über die Bestandskraft von Verwaltungsakten enthalten.

Der Senat hat in inzwischen ständiger Rechtsprechung entschieden, daß Verwaltungsakte der ehemaligen DDR, die vor Wirksamwerden des Beitritts ergangen sind, grundsätzlich wirksam bleiben. Diese Verwaltungsakte können nur aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des EinigVtr unvereinbar sind (BSGE 76, 124, 125 = SozR 3-8100 Art 19 Nr 1; BSGE 80, 119, 122 = SozR 3-1300 § 48 Nr 61; BSGE 84, 22, 26 = SozR 3-8100 Art 19 Nr 5; Urteil vom 11. September 2001 - B 2 U 32/00 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Dieser grundsätzliche Ausschluß gilt für die Anwendbarkeit des § 44 Abs 1 SGB X auf - möglicherweise - rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte in der ehemaligen DDR nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats in gleicher Weise auch für rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte. Die Anwendung der insoweit einschlägigen §§ 45, 48 Abs 3 SGB X ist durch Art 19 Satz 2 iVm der Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nr 2 EinigVtr mit Wirkung für Zeiträume vor dem 1. Januar 1991 ebenfalls ausgeschlossen (BSGE 76, 124, 125 = SozR 3-8100 Art 19 Nr 1; BSGE 80, 119, 122 = SozR 3-1300 § 48 Nr 61). Daraus folgt, daß vorbehaltlich der Voraussetzungen des Art 19 Satz 2 EinigVtr die Aufhebung eines rechtswidrigen nichtbegünstigenden Verwaltungsaktes sowie die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes ausgeschlossen sind. Die Aufhebung bzw Änderung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse gemäß § 48 Abs 1 SGB X ist damit nur möglich, wenn die Änderung der Verhältnisse nach dem 31. Dezember 1990 eingetreten ist. Für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung und für die Nichtanwendbarkeit des § 44 Abs 1 SGB X hatte dies der 4. Senat des BSG bereits durch Urteil vom 25. Januar 1994 (SozR 3-1300 § 44 Nr 8) entschieden. Der Rechtsprechung des Senats (BSGE 76, 124, 125 = SozR 3-8100 Art 19 Nr 1; BSGE 80, 119, 122 = SozR 3-1300 § 48 Nr 61; BSGE 84, 22, 26 = SozR 3-8100 Art 19 Nr 5) haben sich inzwischen der 9. Senat des BSG (vgl Beschluß vom 28. Juli 1999 - B 9 VM 4/98 B -; Urteil vom 28. Juni 2000 - B 9 V 9/99 R - SGb 2000, 547) sowie der 8. Senat des BSG (SozR 3-8100 Art 19 Nr 6 S 26) angeschlossen. Mit seinem Urteil vom 11. September 2001 (- B 2 U 32/00 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) hat der Senat diese Rechtsprechung fortgesetzt.

Den gegen diese Auslegung des Art 19 EinigVtr im angefochtenen Urteil vom LSG angeführten Argumenten vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Der Wortlaut der vom LSG zu Art 19 EinigVtr herangezogenen Denkschrift der Vertragsparteien ist keineswegs zwingend dahin zu verstehen, daß "nur" der Fortbestand der von Behörden der DDR erlassenen Verwaltungsakte trotz des Wegfalls dieser Behörden gesichert und der ehemaligen DDR rückwirkend das Rechtssystem der alten Bundesrepublik Deutschland übergestülpt werden sollte. Das widerspräche im übrigen den allgemeinen Grundsätzen des Inkrafttretens von Gesetzen. Diese erfassen, sofern keine mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 GG zu vereinbarenden abweichenden Übergangsregelungen geschaffen wurden, grundsätzlich nur Tatbestände, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes eingetreten sind. Sofern - wie hier - keine Rückwirkung von Rechtsfolgen angeordnet worden ist, wirkt der zum 1. Januar 1991 in Kraft getretene § 44 Abs 1 SGB X nur für Sachverhalte, die nach seinem Inkrafttreten eintreten (BVerfGE 72, 200, 242; BSGE 62, 191, 195 ff = SozR 3100 § 1 Nr 39; BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 8). Gemäß der Anlage 1 Kapitel VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nr 2 EinigVtr sind die Vorschriften des Art 1 und 2 SGB X - und damit auch dessen § 44 - für den Bereich der Krankenversicherung, Rentenversicherung und Unfallversicherung (erst) ab dem 1. Januar 1991 anzuwenden. Die vor Inkrafttreten des SGB X liegenden, in der ehemaligen DDR verwirklichten Tatbestände, sind einer Überprüfung im Rahmen der §§ 44, 45 und 48 Abs 3 SGB X entzogen. Für diese - alten - Tatbestände bietet Art 19 Satz 2 EinigVtr nicht zusätzliche, sondern die alleinigen Aufhebungsmöglichkeiten an. Art 19 Satz 3 EinigVtr läßt "im übrigen" nur Raum für die Anwendung der von Art 19 Satz 1 und 2 EinigVtr nicht erfaßten Vorschriften über die Bestandskraft, konkret § 48 Abs 1 SGB X, in der Zeit nach seinem Inkrafttreten.

Diese Auslegung weicht auch nicht von der Rechtsprechung der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes ab. Das BVerwG hat sich in seinem Urteil vom 26. August 1999 (- 3 C 31/98 - Buchholz 111, Art 19 EinigVtr Nr 6) mit der Frage befaßt, ob eine nur unter den Voraussetzungen des Satzes 2 des Art 19 EinigVtr aufhebbare verbindliche Entscheidung eines Rates des Kreises aus dem Jahre 1958 als verbindlich oder als nichtig und damit unverbindlich zu qualifizieren ist. Nur für die Abgrenzung des rechtswidrigen aber bindenden von dem offenkundig rechtswidrigen und damit nichtigen und nicht bindenden Verwaltungsakt hat sich das BVerwG auf den in § 43 Abs 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VwVfG - (vgl § 39 Abs 3 SGB X) enthaltenen Rechtsgedanken gestützt, daß ein nichtiger Verwaltungsakt unwirksam und keiner Bestandskraft zugänglich sei. Damit hat es die gleiche Rechtsauffassung zu Inhalt und Reichweite des Art 19 EinigVtr wie der erkennende Senat vertreten.

Der BFH hat mit Urteil vom 27. Juni 1994 (- VII R 110/93 - BFHE 176, 181) zwar ausgeführt, Art 19 EinigVtr solle nur klarstellen, daß die Wirksamkeit von Verwaltungsakten, die von Behörden der DDR erlassen worden seien, grundsätzlich nicht mit dem Wegfall der Körperschaft ende, die den Verwaltungsakt erlassen habe, und daß die Verwaltungsakte der DDR-Behörden keinen erhöhten Bestandsschutz genössen. Diese Ausführungen hat er aber nicht in tragendem Zusammenhang gemacht. Entscheidungserheblich hat der BFH den angefochtenen Bescheid über die Nichtigerklärung und Rücknahme einer im Jahr 1990 erfolgten Bestellung zum Steuerberater nicht auf die den §§ 44 ff SGB X vergleichbaren verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 48 ff VwVfG gestützt, sondern auf den speziell für die Rückabwicklung von rechtswidrigen Steuerberaterbestellungen in der DDR erst im Jahre 1992 geschaffenen § 46 Abs 1 Satz 2 Alternative 2 des Steuerberatergesetzes abgestellt. Gerade die Schaffung dieser Sonderregelung zeigt, daß der Gesetzgeber die §§ 48 ff VwVfG auf in der DDR vorgenommene Bestellungen von Steuerberatern nicht für anwendbar gehalten hat.

Die Voraussetzungen des Art 19 Satz 1 EinigVtr sind im vorliegenden Fall erfüllt; denn der Bescheid des BGL vom 24. August 1982 stellt eine auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtete, von der nach DDR-Recht zuständigen Stelle (§ 222 AGB) getroffene Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts dar. Gründe, daß der Bescheid nichtig sein könnte, sind nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht erkennbar. Daß die Voraussetzungen des Art 19 Satz 2 EinigVtr bezogen auf diesen BGL-Bescheid erfüllt sind, ist aufgrund der den Senat gemäß § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht anzunehmen. Wie er bereits entschieden hat (BSGE 84, 22, 27 = SozR 3-8100 Art 19 Nr 5; Urteil vom 11. September 2001 - B 2 U 32/00 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen), ergibt sich ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze nicht bereits aus dem Umstand, daß die Rechtmäßigkeit von Bescheiden bei Streitfällen auf dem Gebiet der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten sowie bei Streitfällen über die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall oder einer Krankheit als Berufskrankheit im DDR-Recht nicht durch Gerichte überprüft werden konnte (§ 302 AGB) oder daraus, daß solche Bescheide ggf nach den damals geltenden DDR-Vorschriften rechtswidrig gewesen sein könnten. Dies würde nämlich bedeuten, daß ggf alle von den DDR-Behörden erlassenen Verwaltungsakte nach Art 19 Satz 2 EinigVtr aufgehoben werden könnten. Gerade das sollte aber durch das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Art 19 Satz 1 und Satz 2 EinigVtr ausgeschlossen werden. Überdies hat der Senat bereits entschieden, daß es keine allgemeingültige Schlußfolgerung dahingehend gibt, daß ein Verwaltungsakt, selbst wenn er nach den früheren DDR-Vorschriften rechtswidrig sein sollte, aus diesem Grunde einen so schwerwiegenden Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze darstelle, daß er nach Art 19 Satz 2 EinigVtr aufgehoben werden müßte (BSGE 84, 22, 26 = SozR 3-8100 Art 19 Nr 5; Urteil vom 11. September 2001 - aaO). Maßgeblich ist insoweit lediglich, ob der Verwaltungsakt in der Art seines Zustandekommens oder in seinen Auswirkungen die elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen verletzt, die den Kern des Rechtsstaatsprinzips bilden. Dafür liegen hier keine Anhaltspunkte vor.

Auch im vorliegenden Fall gelten die weiteren Überlegungen der genannten Urteile (BSGE 84, 22, 27, 28 = SozR aaO; Urteil vom 11. September 2001, aaO). Eine uU zu Unrecht abgelehnte Entschädigung aufgrund unzureichender Feststellungen oder rechtlich falscher Bewertung des Verhaltens des Klägers am Unfalltage verstößt nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Auch der Grundsatz der Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip bleiben gewahrt, da die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers von der Krankenversicherung und ggf der gesetzlichen Rentenversicherung aufgefangen werden. Im übrigen ist den bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG zu entnehmen, daß der Kläger aus Anlaß seines damaligen Verkehrsunfalls Zahlungen der staatlichen Versicherung der DDR erhalten hat. Wie der Senat ebenfalls bereits in den beiden genannten Urteilen entschieden hat, war Sinn und Zweck der Regelung des Art 19 EinigVtr neben der Zusammenführung beider Rechtssysteme die Schaffung von Rechtssicherheit, Rechtseindeutigkeit und Rechtsfrieden. Selbst einzelne Verstöße gegen das ehemalige DDR-Unfallversicherungsrecht oder Verfahrensfehler rechtfertigen keine Aufhebung der erlassenen Verwaltungsakte, hier des BGL-Bescheides. Konkrete Anhaltspunkte für eine rein willkürliche und deshalb rechtsstaatlich unbeachtliche Entscheidung liegen im vorliegenden Falle nicht vor. Dies belegt die - zwar in Verkennung der rechtlichen Grundlagen getroffene - Sachentscheidung der Beklagten. Diese hat die Ansprüche des Klägers unter Berücksichtigung des damals in der DDR geltenden Unfallversicherungsrechts geprüft und abgelehnt und damit in gleicher Weise und mit ähnlicher Begründung wie in dem BGL-Bescheid vom 24. August 1982 entschieden. Hinzu kommt, daß die in § 220 AGB enthaltenen Begriffbestimmungen über den Arbeitsunfall (Abs 1) im allgemeinen und den Wegeunfall (Abs 2) im besonderen im wesentlichen mit den entsprechenden Bestimmungen des bundesdeutschen Unfallversicherungsrechts übereinstimmen (vgl § 548 Abs 1 RVO bzw § 8 Abs 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch <SGB VII>, § 550 Abs 1 RVO bzw § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII).

Nach alledem waren die angefochtenen Urteile des LSG und des SG - ausgenommen deren Entscheidung über die Aufhebung des Bescheides vom 24. Juli 1997 - aufzuheben und die Klage in diesem Umfang abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Von einer Kostenteilung hat der Senat abgesehen, weil das Klagebegehren in materiell-rechtlicher Hinsicht ohne jeden Erfolg geblieben ist und die - unzulässige - Rücknahme des Bescheides vom 24. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 nicht zuletzt auf den unzutreffenden Angaben des Klägers beruhte, ein Bescheid der BGL sei nicht ergangen.

Ende der Entscheidung

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