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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 26.10.1998
Aktenzeichen: B 2 U 35/97 R
Rechtsgebiete: SGB


Vorschriften:

SGB § 115
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

in dem Rechtsstreit

Az: B 2 U 35/97 R

Klägerin und Revisionsbeklagte,

Prozeßbevollmächtigter:,

gegen

Bayerischer Gemeindeunfallversicherungsverband, Ungererstraße 71, 80805 München,

Beklagter und Revisionskläger.

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 26. Oktober 1998 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Burchardt, die Richter Klüglein und Mütze sowie die ehrenamtlichen Richter Gehrken und Hanel

für Recht erkannt:

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. März 1997 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin dem Beklagten das für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990 gewährte Verletztengeld in Höhe von 4.223,08 DM zurückzuerstatten hat, weil sie für denselben Zeitraum von ihrer Arbeitgeberin im Juli 1991 nachträglich Gehaltsfortzahlung erhalten hat.

Die im Jahre 1966 geborene Klägerin erlitt am 7. März 1990 bei ihrer Tätigkeit als Krankenschwester im Klinikum der Stadt N. eine Kahnbeinfraktur des rechten Handgelenks. Sie war deshalb zunächst bis zum 26. Juni 1990 arbeitsunfähig. Bis zum 18. April 1990 erhielt sie von ihrer Arbeitgeberin, der Stadt N. , Gehaltsfortzahlung; für die anschließende Zeit wurde ihr bis 26. Juni 1990 vom Beklagten über die Allgemeine Ortskrankenkasse Mittelfranken (AOK) Verletztengeld gewährt. Die AOK machte im Juli 1990 ihren dadurch entstandenen Erstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten geltend, der den Erstattungsbetrag beglich.

Der Beklagte erkannte den Unfall vom 7. März 1990 durch Bescheid vom 25. Februar 1991 zwar als Arbeitsunfall an, lehnte jedoch die Gewährung von Verletztenrente mangels rentenberechtigender Minderung der Erwerbsfähigkeit ab. Der anschließende Rechtsstreit endete vor dem Sozialgericht (SG) mit der Anerkennung einer Bewegungseinschränkung des Handgelenkes als Unfallfolge. Im übrigen wurde die Klage zurückgenommen.

Während des Rechtsstreits hatte die AOK der Stadt N. durch Schreiben vom 21. Juni 1991 ua mitgeteilt, daß im Zeitraum vom 19. April bis 26. Juni 1990 an die Klägerin unfallbedingt Verletztengeld gezahlt und insoweit der Erstattungsanspruch (der AOK) vom Beklagten befriedigt worden sei. Daraufhin teilte die Stadt N. der Klägerin durch Schreiben vom 18. Juli 1991 mit, daß nunmehr auch für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990 sowie für zwei weitere Zeitabschnitte rückwirkend "Krankenbezüge" gewährt würden. Diese Bezüge würden "mit der entstandenen Überzahlung" verrechnet. Unmittelbar darauf zahlte die Stadt N. der Klägerin die Bezüge für die im Schreiben vom 18. Juli 1991 genannten Zeiträume, also auch für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990 aus. Der Auszahlungsbetrag belief sich auf 9.344,59 DM. Bei einer telefonischen Rückfrage bei der Stadtkasse N. erhielt die Klägerin sinngemäß die Auskunft, bei der Nachzahlung handele es sich nach Abrechnung mit der AOK und dem Unfallversicherungsträger "um den Betrag, der übrig bleibt".

Der Beklagte prüfte die Anerkennung weiterer Arbeitsunfähigkeitszeiten. Mit Schreiben vom 14. Juli 1993 wies der Beklagte den Bevollmächtigten der Klägerin darauf hin, daß bei nachträglicher Gewährung einer Gehaltsfortzahlung durch die Arbeitgeberin diese auf das gezahlte Verletztengeld anzurechnen sei. Mit Schreiben vom selben Tag forderte der Beklagte die Arbeitgeberin der Klägerin auf, die nachträglich zu gewährende Gehaltsfortzahlung "zunächst nicht auszuzahlen, da wir beabsichtigen, die an Frau K. gewährte Verletztengeldzahlung mit den von ihnen zu gewährenden Leistungen zu verrechnen". Daraufhin teilte die Arbeitgeberin der Beklagten mit Schreiben vom 17. August 1993 mit, aufgrund der Anerkennung des Arbeitsunfalls seien am 18. Juli 1991 frühere Gehaltssperren, ua für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990, aufgehoben und die Bezüge nachgezahlt worden. Eine Kopie des Schreibens der Stadt an die Klägerin vom 18. Juli 1991 wurde dem Beklagten nachträglich im Dezember 1993 zugeleitet.

Daraufhin hob der Beklagte die Verwaltungsakte über die Gewährung von Verletztengeld für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990 gemäß § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) auf und forderte gleichzeitig von der Klägerin nach § 50 SGB X die Rückerstattung des für diesen Zeitraum gezahlten Verletztengeldes in Höhe von 4.223,08 DM (Bescheid vom 12. April 1994 idF des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 1994).

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 23. November 1994). Die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig. Von einer atypischen Fallgestaltung könne nicht ausgegangen werden. Die Klägerin sei nach ihren intellektuellen Fähigkeiten in der Lage gewesen, zu erkennen, daß für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990 eine Doppelzahlung vorliege. Die Klägerin habe nicht damit rechnen können, die Doppelzahlung behalten zu dürfen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG sowie den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid des Beklagten aufgehoben (Urteil vom 25. März 1997): Der Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, die rückwirkende Aufhebung der früheren Verletztengeldgewährung sowie die Rückforderung auf die Vorschriften des § 48 Abs 1 bzw § 50 Abs 1 SGB X zu stützen. Die Besonderheit des vorliegenden Falles liege darin, daß die Arbeitgeberin der Klägerin bei der nachträglichen Auszahlung im Juli 1991 überhaupt nicht berechtigt gewesen sei, den Lohn für den hier umstrittenen Zeitraum an die Klägerin auszuzahlen, da zur Zeit der Auszahlung der Anspruch der Klägerin auf Arbeitsentgelt gemäß § 115 Abs 1 SGB X bis zur Höhe der erbrachten Sozialleistung (Verletztengeld) bereits auf den Sozialleistungsträger (Beklagter) übergegangen sei und die Arbeitgeberin bereits vor der Auszahlung des Arbeitsentgelts Kenntnis von den zum Anspruchsübergang führenden Tatsachen gehabt habe. Die Stadt habe deshalb im Verhältnis zum Beklagten im Juli 1991 nicht mehr mit befreiender Wirkung an die Klägerin leisten können. Die Arbeitgeberin hätte dem Beklagten vorher die Möglichkeit geben müssen, den streitigen Betrag bei ihr anzufordern, wonach der Klägerin das früher für den selben Zeitraum bezahlte Verletztengeld hätte belassen werden können. So wäre die rückwirkende Aufhebung der Verletztengeldbewilligung nicht notwendig gewesen. Auch wäre es für den Beklagten der richtige Weg gewesen, den ihm zustehenden Betrag von der Arbeitgeberin anzufordern, nicht aber einen auf §§ 48 und 50 SGB X gestützten Bescheid gegen die Klägerin zu erlassen. Bezeichnenderweise habe sich der Beklagte auch bei späteren Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin nicht an diese, sondern an die Stadt als Arbeitgeberin gewandt.

In Würdigung dieser Umstände könne die rückwirkende Aufhebung der Verletztengeldbewilligung nicht auf § 48 SGB X gestützt werden, da der Gesetzgeber den Schutz des Sozialleistungsträgers bereits durch § 115 Abs 1 SGB X gewährleistet habe und diese Vorschrift iVm § 560 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine rückwirkende Aufhebung über § 48 SGB X ausschließe. Die angefochtenen Bescheide seien bereits aus diesem Grund rechtswidrig und aufzuheben.

Allerdings sei es nicht möglich, auch über die §§ 48, 50 SGB X zu gleichem Ergebnis zu kommen (Rechtswidrigkeit der Bescheide wegen fehlender Ermessensausübung unter Bejahung eines "atypischen Falles"). Der Klägerin sei sehr wohl bewußt gewesen, daß ihr der relativ hohe Nachzahlungsbetrag, der auch andere Zeiträume als den hier streitigen umfaßt habe, nicht ohne weiteres zugestanden habe. Weder der Wortlaut des Schreibens vom 18. Juli 1991 noch die von der Sachbearbeiterin der Stadt erteilte telefonische Auskunft hätten eindeutig in dem Sinn verstanden werden können, die Klägerin könne die Nachzahlung in vollem Umfang behalten. Angesichts der im Schreiben vom 18. Juli 1991 eindeutig aufgelisteten Zeitabschnitte und des Hinweises, die Bezüge würden "mit der entstandenen Überzahlung verrechnet", habe es vielmehr nahe gelegen, von einer Doppelzahlung auszugehen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Mit seiner Auffassung, in Fällen der vorliegenden Art sei aufgrund § 115 SGB X eine rückwirkende Aufhebung der Verletztengeldüberzahlung nach § 48 SGB X ausgeschlossen, verkenne das LSG, daß die Regelung des § 115 SGB X dem Sozialleistungsträger nur einen gegenüber den §§ 48 ff SGB X qualitativ minderwertigen Schutz biete. Der Sozialleistungsträger als neuer Gläubiger sei, was sich aus der Rechtsnatur des gesetzlichen Forderungsübergangs ergebe, hinsichtlich möglicher Einwendungen des Schuldners nicht besser gestellt als der Arbeitnehmer als bisheriger Gläubiger. Dies gelte insbesondere für die tarif- und individualvertraglichen Ausschlußfristen. Der Anspruch würde vielfach an der Durchsetzbarkeit scheitern, insbesondere in Fällen, wie hier, in denen über den Arbeitsunfall selbst, über die Arbeitsunfähigkeit sowie über deren Ursache und Dauer keine Klarheit bestünden.

Unabhängig davon sei auch fraglich, ob zu dem Zeitpunkt der Verletztengeldzahlung ein Forderungsübergang iS des § 115 SGB X überhaupt habe stattfinden können. Daß hier zunächst Verletztengeld und anschließend Entgeltfortzahlung geleistet worden sei, sei letztlich darin begründet, daß erst nach längeren medizinischen und rechtlichen Prüfungen habe entschieden werden können, für welche Zeiträume der Klägerin von welcher Seite Lohnersatzleistungen zustünden. Die typische Fallkonstellation, in der der Arbeitgeber zu Unrecht keine Entgeltfortzahlungen leiste und deshalb vom Unfallversicherungsträger vorrangig Verletztengeld zu zahlen sei, habe deshalb hier jedenfalls im Zeitpunkt der Sozialleistungsgewährung nicht vorgelegen, weshalb auch nicht angenommen werden könne, der Arbeitgeber habe nicht mehr mit befreiender Wirkung leisten können. Deshalb müsse zumindest in Fallgestaltungen wie der vorliegenden ein Rückerstattungsanspruch gemäß §§ 48, 50 SGB X gegen denjenigen, der durch die Doppelleistung bereichert sei und sich auf Vertrauensschutz nicht berufen könne, bestehen bleiben.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. März 1997 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 23. November 1994 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Soweit es im übrigen auf die Frage des Vorliegens eines atypischen Falles ankomme, sei der geäußerten Rechtsauffassung des LSG nicht zu folgen. Sie habe in der mündlichen Verhandlung vom 25. März 1997 nicht erklärt, ihr sei sehr wohl bewußt gewesen, daß ihr der relativ hohe Nachzahlungsbetrag nicht ohne weiteres zugestanden habe. Sie habe seinerzeit vielmehr geäußert, daß sie nicht habe erkennen können, für welche Zeiträume ihr der Nachzahlungsbetrag gewährt worden sei, der ja auch andere Zeiträume als den hier streitigen umfaßt habe. Nach der Länge der vergangenen Zeit zwischen dem Zeitraum, für den Verletztengeld gezahlt worden sei, und dem Auszahlungszeitpunkt sowie den vielen unterschiedlichen und komplizierten Abrechnungen habe sie nicht erkennen können, daß ihr eine Überzahlung zugeflossen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>).

II

Die Revision ist unbegründet.

Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Beklagte die Verletztengeldbewilligung für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990 nicht durch den angefochtenen Bescheid nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X aufheben und die Leistung nach § 50 Abs 1 SGB X zurückfordern durfte.

Soweit die Regelungen aus dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung relevant sind, richtet sich die rechtliche Prüfung noch nach den Vorschriften der RVO, da der maßgebliche Arbeitsunfall der Versicherten vor dem Inkrafttreten des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes <UVEG>, § 212 SGB VII).

Der Bescheid des Beklagten vom 12. April 1994 idF des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 1994 ist rechtswidrig.

§ 48 Abs 1 SGB X setzt ua voraus, daß in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bei der Bewilligung von Verletztengeld durch die AOK im Namen des Beklagten, das sich über eine gewisse zeitliche Dauer erstreckt, handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (BSGE 74, 287, 289 = SozR 3-1300 § 48 Nr 33). Auch die weitere Voraussetzung, daß in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nachträglich eine wesentliche Änderung eingetreten sein muß, ist erfüllt. Denn bei Bewilligung des Verletztengeldes für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990 hatte die Klägerin einen Anspruch auf diese Leistung. Zu diesem Zeitpunkt war ihr noch nicht das für diesen Zeitraum bestimmte Gehalt zugeflossen, das nach § 560 Abs 1 Satz 2 RVO zum Ruhen des Anspruchs auf Verletztengeld hätte führen können. Das Ruhen erfaßt den Zeitraum, für den die zum Ruhen führende Leistung bewilligt wird. Wird die Leistung für die Vergangenheit bewilligt, tritt das Ruhen des Anspruchs auf Verletztengeld rückwirkend ein. Die Gehaltsnachzahlung im Juli 1991 durch die Stadt N. für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990 hatte somit zur Folge, daß der Anspruch auf Verletztengeld in diesem Zeitpunkt ruhte. Bei Bewilligung des Verletztengeldes konnte diese Gehaltsnachzahlung noch nicht berücksichtigt werden. Die Bewilligung des Verletztengeldes für den Zeitraum vom 19. April bis 26. Juni 1990 stellte sich somit im nachhinein als unrichtig bei der Zahlung des Arbeitsentgelts dar. Es kommt damit die Aufhebung des Verwaltungsaktes mit Wirkung für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse in Betracht.

Der Beklagte hat zutreffend § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X als hier in Betracht kommende Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Verletztengeldbewilligung für die Vergangenheit herangezogen. Nach dieser Vorschrift soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Antragstellung oder Erlaß des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X steht nicht entgegen, daß die Vorschrift nicht unmittelbar anzuwenden ist, da die Regelung ausdrücklich nur den Fall nennt, daß das erzielte Einkommen oder Vermögen zum Wegfall oder zur Minderung und nicht lediglich zum Ruhen des durch Bescheid bewilligten Anspruchs führt. Gemäß § 560 Abs 1 Satz 2 RVO ruht der Anspruch auf Verletztengeld, soweit der Verletzte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erhält. Das Stammrecht bleibt erhalten (vgl Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, Anm 13 zu § 560 RVO). Eine entsprechende Anwendung des § 48 Abs 1 Nr 3 SGB X auf Ruhensfälle ist jedenfalls insoweit angezeigt, als das Ruhen durch nachträglich erzieltes Einkommen oder Entgelt eingetreten ist. Denn Sinn und Zweck der Regelung, die bewilligte Leistung dem Betroffenen insoweit nicht zu belassen, als - wie hier - später Entgelt erzielt worden ist, das an die Stelle dieser Leistung tritt, lassen eine unterschiedliche Bewertung nicht zu (BSG SozR 1300 § 48 Nr 22; BSG Urteil vom 26. August 1994 - 13 RJ 29/93 -, HVBG-INFO 1994, 2711; Schroeder-Printzen/Wiesner, SGB X, 3. Aufl 1996, § 48 RdNr 24). Der analogen Anwendbarkeit steht nicht entgegen, daß Nr 4 des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X ausdrücklich den Eintritt des Ruhens normiert; denn die Vorschrift setzt die Kenntnis bzw grob fahrlässige Unkenntnis der Umstände, die zum Ruhen des Leistungsanspruchs führen, zum Zeitpunkt des Leistungsempfangs voraus (vgl Schneider-Danwitz in SGB-SozVers-GesKomm, SGB X, § 48 Anm 102). Zum Zeitpunkt des Leistungsempfangs, hier bei Erhalt der Verletztengeldzahlung, konnte die Klägerin jedoch keinerlei Kenntnis von der erst später erfolgten nachträglichen Entgeltfortzahlung haben. Sie befand sich darüber auch nicht aufgrund grober Fahrlässigkeit in Unkenntnis. Auch § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X erfaßt nicht den vorliegenden Fall, da die Vorschrift zur Aufhebung eines Verwaltungsakts lediglich mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an führen kann, hier also frühestens mit Gewährung der Entgeltfortzahlung. Demgegenüber erstrebt der Beklagte aber die Aufhebung der Verletztengeldbewilligung bereits mit Wirkung vom 19. April 1990 an. Dafür stellt nur § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm Satz 3 SGB X eine in Betracht kommende Anspruchsgrundlage dar.

Nicht erkannt hat der Beklagte ungeachtet des Vorliegens der anderen Voraussetzungen allerdings, daß ihm im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X im vorliegenden Fall ein Ermessensspielraum eingeräumt war. Nach dieser Vorschrift sind Verwaltungsakte in der Regel (vgl § 48 Abs 1 Satz 2: "soll") vom Zeitpunkt des Eintritts der Änderung der Verhältnisse, also auch für einen schon in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, wie hier iVm Satz 3 der Norm vom 19. April bis 26. Juni 1990, aufzuheben. Liegt jedoch eine atypische Fallgestaltung vor, so besteht für die Verwaltung nicht die Pflicht zur rückwirkenden Aufhebung. Vielmehr hat sie im Wege der Ermessensentscheidung darüber zu befinden, ob der Verwaltungsakt, hier der Bewilligungsbescheid für den genannten Zeitraum, rückwirkend aufzuheben ist oder nicht (BSGE 59, 111, 115 = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSG SozR 1300 § 48 Nrn 21, 22, 24, 30 und 44; BSGE 60, 180, 185 = SozR 1300 § 48 Nr 26; BSGE 66, 103, 108 = SozR 4100 § 103 Nr 47; BSGE 74, 287, 293 = SozR 3-1300 § 48 Nr 33). Macht die Verwaltung nicht von dem ihr eingeräumten Ermessensspielraum Gebrauch, dann ist der Aufhebungsbescheid fehlerhaft.

Die Entscheidung, ob ein atypischer Fall vorliegt, fällt hingegen nicht in den Ermessensbereich der Verwaltung (BSGE 59, 111, 115 = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSGE 66, 103, 108 = SozR 4100 § 103 Nr 47; BSGE 74, 287, 293 = SozR 3-1300 § 48 Nr 33). Dies haben die Gerichte selbst zu überprüfen und zu entscheiden. Zwar hat das LSG das Vorliegen eines atypischen Falles verneint. Der erkennende Senat vermag sich dem jedoch nicht anzuschließen. Das Revisionsgericht ist nicht gehindert, im Gegensatz zum LSG die Atypik hier zu bejahen. Denn insoweit liegt keine bindende Tatsachenfeststellung iS des § 163 SGG vor. Vielmehr handelt es sich ausschließlich um eine Rechtsvoraussetzung für die Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X (BSGE 74, 287, 294 = SozR 3-1300 § 48 Nr 33 mwN). Dagegen bezieht sich die Bindung durch § 163 SGG lediglich auf die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz, aus denen das Vorliegen eines atypischen Falles geschlossen werden kann. Die Schlußfolgerung selbst ist jedoch Rechtsanwendung, hinsichtlich derer das Revisionsgericht zu einem vom vorinstanzlichen Urteil abweichenden Ergebnis kommen kann (BSG aaO).

Zwar lassen sich keine allgemeinen Regeln aufstellen, wann ein atypischer Fall vorliegt, in dem eine Ermessensentscheidung zu treffen ist. Vielmehr wird dies stets nach der jeweiligen Regelung des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X zu bestimmen sein und hängt maßgebend von den Umständen des Einzelfalls ab (BSG SozR 1300 § 48 Nr 44). Diese müssen Merkmale aufweisen, die signifikant vom (typischen) Regelfall abweichen, indem die Rechtswidrigkeit eines ursprünglich richtigen Verwaltungsakts durch nachträgliche Veränderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist. Zu berücksichtigen ist innerhalb dieser Beurteilung wegen der mit der rückwirkenden Aufhebung verbundenen Erstattungspflicht des Empfängers zu Unrecht erhaltener Leistungen (§ 50 Abs 1 SGB X ) auch die Frage, ob die Rückerstattung nach Lage des Falles eine Härte bedeutet, die den Leistungsbezieher in untypischer Weise stärker belastet als den hierdurch im Normalfall Betroffenen (vgl BSGE 74, 287, 294 = SozR 3-1300 § 48 Nr 33 mwN).

Ein irreversibler Verbrauch der erhaltenen Überzahlung, aus der der Empfänger sonst die Erstattungsforderung beglichen hätte, stellt für sich genommen keinen Umstand dar, der eine besondere Härte iS der Nr 3 des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X begründet. Allerdings hat das Bundessozialgericht (BSG) einen atypischen Fall dann angenommen, wenn der Betroffene aufgrund besonderer Umstände nicht damit zu rechnen brauchte, erstattungspflichtig zu werden, und er im Vertrauen darauf das nachträglich erzielte Einkommen, aus dem er sonst die Erstattungsforderung beglichen hätte, ausgegeben hat, was nach den Feststellungen des LSG die Klägerin bereits bei Klageerhebung geltend gemacht hat (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 22; BSG Urteil vom 26. August 1994 - 13 RJ 29/93 -, HVBG-INFO 1994, 2711); ebenso dann, wenn der Empfänger die überzahlte Leistung gutgläubig verbraucht hat und ihm für die Rückzahlung nur die laufenden Bezüge zur Verfügung stehen (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 53). Nichts anderes hat zu gelten, wenn ein irreversibler Verbrauch deshalb gutgläubig erfolgt ist, weil der Betroffene aus seiner Sicht zu Recht davon ausgehen konnte, eine Doppelleistung sei überhaupt nicht entstanden und daher zur Zeit des Verbrauchs kein Anlaß bestand, den zugeflossenen Nachzahlungsbetrag für eine Erstattung zurückzuhalten.

In dieser Hinsicht weicht der vorliegende Fall signifikant vom Regelfall ab. Denn nach den Umständen konnte die Klägerin davon ausgehen, es sei keine Doppelleistung erfolgt. Die Stadt N. hatte der Klägerin mit Schreiben vom 18. Juli 1991 mitgeteilt, daß nunmehr auch für die dort genannten drei Zeitabschnitte, darunter die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990, rückwirkend "Krankenbezüge" gewährt und diese "mit der entstandenen Überzahlung verrechnet" würden. In diesem Zusammenhang konnte dem verwendeten Begriff "Krankenbezüge" nur die Bedeutung einer nachträglichen "Entgeltfortzahlung wegen (arbeitsunfallbedingter) Krankheit" zukommen; die Formulierung, diese Bezüge würden "mit der entstandenen Überzahlung verrechnet", kann nicht in dem Sinn verstanden werden, es sei eine Überzahlung bereits entstanden. Da eine Nachzahlung am 18. Juli 1991 noch nicht erfolgt war, vielmehr mit diesem Schreiben gerade angekündigt werden sollte, ist diese Formulierung dahin zu verstehen, daß der Nachzahlungsbetrag zur Vermeidung einer Überzahlung mit dem für den umstrittenen Zeitraum bereits erhaltenen Verletztengeld verrechnet werde.

Ob die Klägerin wegen der Höhe des Nachzahlungsbetrages gleichwohl Anlaß zu begründeten Zweifeln hatte, kann im Ergebnis dahinstehen. Denn sie hat insoweit jedenfalls bei der dafür als kompetent in Betracht kommenden Stelle, ihrer Arbeitgeberin, telefonisch nachgefragt und dort die Auskunft erhalten, bei der Nachzahlung handele es sich nach Abrechnung mit der AOK und dem Unfallversicherungsträger um den Betrag, der übrig bleibe. Diese Auskunft ließ keinen Zweifel zu, hinsichtlich des für den umstrittenen Zeitraum gezahlten Anteils der Nachzahlung könne dies anders sein. Die Klägerin konnte auch auf die Richtigkeit der von einer Bediensteten der dafür zuständigen Behörde/Stelle der Stadt N. erteilten Auskunft vertrauen. Es ist davon auszugehen, daß die Stadt N. eine Verrechnung beabsichtigte, mit Schreiben vom 18. Juli 1991 ankündigte und telefonisch bestätigte, versehentlich aber - für die Klägerin nicht erkennbar - tatsächlich nicht durchgeführt hat. Die Klägerin jedenfalls konnte aufgrund des Schreibens der Stadt N. vom 18. Juli 1991 iVm der telefonischen Auskunft durchaus zu der Auffassung gelangen, daß der Nachzahlungsbetrag als Restbetrag nach erfolgter Verrechnung ihr zustand. Es kommt hinzu, daß die Nachzahlung nicht nur den Zeitraum vom 19. April bis 26. Juni 1990, sondern auch die Abrechnung für zwei weitere zurückliegende Zeiträume betraf. Die Klägerin konnte somit davon ausgehen, daß durch die Entgeltnachzahlung im Juli/August 1991 keine Doppelleistung entstanden war.

Bei der Prüfung, ob ein atypischer Fall vorliegt, ist außerdem das Verhalten des Leistungsträgers im Geschehensablauf in die Betrachtung einzubeziehen. Ein mitwirkendes Fehlverhalten auf seiner Seite, das als eine atypische Behandlung iS einer Abweichung von der grundsätzlich zu erwartenden ordnungsgemäßen Sachbearbeitung zu werten ist, kann im Einzelfall die Atypik des verwirklichten Tatbestandes nach § 48 Abs 1 SGB X ergeben (BSGE 74, 287, 294 = SozR 3-1300 § 48 Nr 33). Auch insofern weist der Fall der Klägerin Merkmale auf, die signifikant vom Regelfall abweichen. Denn bezüglich der erfolgten Doppelleistung an die Klägerin kommt ein mitwirkendes Fehlverhalten des Beklagten in Betracht. Bei einer ordnungsgemäßen Sachbearbeitung hätte der Beklagte den gemäß § 115 SGB X auf ihn übergegangenen Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990 alsbald bei der Arbeitgeberin der Klägerin geltend machen müssen. Es wäre dann nicht zur Auszahlung des Betrages an die Klägerin gekommen. Hier hat sich der Beklagte nicht einmal innerhalb eines Jahres nach dem Zeitraum der Verletztengeldzahlung vom 19. April bis 26. Juni 1990 an die Arbeitgeberin der Klägerin, die Stadt N. , gewandt. Dazu hätte aber um so mehr Anlaß bestanden, nachdem nach den Feststellungen des LSG die AOK bereits im Juli 1990 dem Beklagten gegenüber ihren Erstattungsanspruch abgerechnet hatte und dem Beklagten schon dadurch bekannt geworden war, daß die Klägerin für den Zeitraum vom 19. April 1990 bis 26. Juni 1990 Verletztengeld bezogen hatte. Der Beklagte hat seinen Anspruch der Arbeitgeberin gegenüber erst nach drei Jahren im Juli 1993 geltend gemacht. Dem Verhalten des Beklagten kommt damit entscheidende Bedeutung für die erfolgte Doppelleistung zu.

Lag somit eine signifikante Abweichung vom Regelfall vor, dann hätte der Beklagte vor Erlaß des angefochtenen Bescheids eine Ermessensentscheidung treffen müssen. Das ist nicht geschehen. Dem Widerspruchsbescheid ist sogar zu entnehmen, daß der Beklagte bewußt keine Ermessenserwägungen hat anstellen wollen, indem er anführt, ob eine Bereicherung iS des § 812 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) durch Verbrauch der erhaltenen Leistung weggefallen ist, sei beim Rückforderungsanspruch nach § 50 SGB X unbeachtlich; entsprechende Überlegungen im Rahmen der Prüfung des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm Satz 3 SGB X hat der Beklagte überhaupt nicht angestellt.

Da sonach die Aufhebung der Verletztengeldbewilligung rechtswidrig ist, durfte der Beklagte die Leistung auch nicht nach § 50 Abs 1 SGB X zurückfordern. Denn diese Vorschrift setzt eine rechtmäßige Aufhebung der Bewilligungsbescheide zwingend voraus (vgl BSG SozR 1300 § 50 Nr 21).

Nach alledem hat das LSG im Ergebnis zutreffend das Urteil des SG sowie den angefochtenen Bescheid des Beklagten aufgehoben. Dann kann dahinstehen, ob § 48 Abs 1 SGB X im Hinblick auf die Regelung des § 115 Abs 1 SGB X überhaupt anwendbar ist (s BSGE 74, 287, 293 = SozR aaO).

Die Revision war nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ende der Entscheidung

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