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Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 28.05.2003
Aktenzeichen: B 3 P 6/02 R
Rechtsgebiete: SGB XI


Vorschriften:

SGB XI § 14 Abs 3
SGB XI § 14 Abs 4
SGB XI § 15 Abs 2
SGB XI § 15 Abs 3 Nr 1
SGB XI § 18
SGB XI § 37 Abs 1 Satz 1
SGB XI § 37 Abs 1 Satz 2
SGB XI § 37 Abs 1 Satz 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Verkündet am 28. Mai 2003

Az: B 3 P 6/02 R

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 28. Mai 2003 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Ladage, die Richter Dr. Naujoks und Schriever sowie die ehrenamtlichen Richter Meid und Busch

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 24. Juli 2002 aufgehoben, soweit der Klage stattgegeben worden ist.

Der Rechtsstreit wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Der Kläger ist im Mai 1996 geboren. Er leidet an einer schwer einstellbaren Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ I), einer Entwicklungsstörung (Überaktivität mit Konzentrationsschwäche) und einem frühkindlichen Schielen. Seit 1999 besucht er den Kindergarten, von der Schule ist er zurzeit noch zurückgestellt. Wegen der Entwicklungsstörung besucht er ein- bis zweimal wöchentlich eine Ergotherapie. Er wird von seiner nicht berufstätigen, seit März 2001 getrennt lebenden und allein erziehenden Mutter betreut und gepflegt.

Im Mai 1997 stellte der Kläger einen Antrag auf Pflegegeld nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI). Die beklagte Pflegekasse ließ den Kläger durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) untersuchen und lehnte den Antrag ab, da der Grundpflegebedarf des Klägers nur 30 Minuten täglich im Wochendurchschnitt betrage (Bescheid vom 4. Dezember 1997 und Widerspruchsbescheid vom 19. März 1999). Das Sozialgericht (SG) hat - nach Einholung eines Gutachtens von Dr. D. , der einen täglichen Hilfebedarf bei der Grundpflege von 81 - 104 Minuten und bei der hauswirtschaftlichen Versorgung von 30 Minuten angenommen hat - die Beklagte antragsgemäß zur Gewährung von Leistungen nach Pflegestufe I ab Mai 1997 verurteilt (Urteil vom 13. November 2001). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Leistungen nach Pflegestufe I lediglich von Mai 1997 bis April 1999 sowie erneut ab September 2001 zu zahlen; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Juli 2002). Das LSG ist, da nach seiner Auffassung das Gutachten von Dr. D. insgesamt nicht brauchbar sei, nach Anhörung der Mutter des Klägers und darauf gestützter eigener Schätzung des Zeitaufwandes davon ausgegangen, dass der für die Pflegestufe I erforderliche Grund- und Gesamtpflegebedarf nur in den genannten Zeiträumen erreicht wird.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Auch sie hält das Gutachten von Dr. D. für nicht überzeugend. Das LSG habe jedoch gegen die Grundsätze der Amtsermittlung und der freien richterlichen Beweisführung verstoßen. Denn es habe sich nicht mit dem Gutachten des MDK auseinandergesetzt, die Abweichung von diesem auch nicht ausreichend begründet, sondern sich ausschließlich auf die Angaben der Mutter des Klägers gestützt und den Pflegebedarf selbst geschätzt. Bei der Feststellung des Pflegebedarfs sei eine besondere Sachkunde erforderlich, über die das LSG nicht verfüge. Darüber hinaus hätte der Kläger im häuslichen Bereich untersucht werden müssen. Die Ermittlung des Pflegebedarfs halte aber auch inhaltlich einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das gelte für die morgendliche Blutzuckermessung und Insulinspritzung, die als Behandlungspflege nicht berücksichtigt werden könne. Der Zeitbedarf für die Anleitung und Beaufsichtigung bei der Nahrungsaufnahme sowie der Mehrbedarf bei der Körperpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung seien nicht nachvollziehbar. Das Händewaschen vor der Blutzuckermessung zähle ebenfalls zur Behandlungspflege. Die Wege zur und von der Ergotherapie dienten Rehabilitationszwecken und nicht der häuslichen Existenzsicherung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 24. Juli 2002, soweit dem Kläger ein Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung zuerkannt worden ist, sowie das erstinstanzliche Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 13. November 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision der Beklagten ist iS der Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet. Die vom LSG zu Grunde gelegten Schätzwerte beim Pflegebedarf des Klägers sind fehlerhaft festgestellt und daher keine ausreichende Grundlage, um - positiv oder negativ - zu entscheiden, ob dem Kläger in den noch streitbefangenen Zeiträumen Pflegegeld gemäß Pflegestufe I nach dem SGB XI zusteht (§ 170 Abs 2 Satz 2 iVm § 163 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

1. Nach § 37 Abs 1 Satz 1 bis 3 SGB XI können Pflegebedürftige Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§ 19 Satz 1 SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt. Nach § 15 Abs 3 Nr 1 SGB XI muss dazu der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr als 45 Minuten (Grundpflegebedarf), für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90 Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs 4 Nr 1 - 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und -beheizung (§ 14 Abs 4 Nr 4 SGB XI) zu verstehen. Nach § 14 Abs 3 SGB XI kann die Hilfe in der vollständigen oder teilweisen Übernahme der Verrichtungen durch die Pflegeperson, in der Unterstützung sowie in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Durchführung der Verrichtungen durch den Pflegebedürftigen bestehen.

2. Die Revision hat zu Recht mit der Verfahrensrüge die Tatsachenfeststellungen des LSG angegriffen, weil dabei die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung verletzt worden sind. Das LSG hat als Pflegebedarf des Klägers angenommen (jeweils täglich im Wochendurchschnitt):

1. Phase (Mai 1997 bis April 1999): 56 Minuten Grundpflege + 40 Minuten hauswirtschaftliche Versorgung

2. Phase (Mai 1999 bis April 2001): 48 Minuten Grundpflege + 40 Minuten hauswirtschaftliche Versorgung

3. Phase (Mai 2001 bis August 2001): 39 Minuten Grundpflege + 40 Minuten hauswirtschaftliche Versorgung

4. Phase (September 2001 bis auf weiteres): 51 Minuten Grundpflege + 40 Minuten hauswirtschaftliche Versorgung und daher für die 1. und 4. Phase einen Anspruch auf Pflegegeld nach Pflegestufe I bejaht, für die 2. und 3. Phase hingegen die Klage abgewiesen. Es hat das vom SG eingeholte Gutachten von Dr. D. als insgesamt nicht brauchbar angesehen, da dieser seine Zeitansätze für den Pflegebedarf des Klägers nicht in der gebotenen Weise begründet, insbesondere nicht im Einzelnen herausgearbeitet habe, in welchem Umfang und aus welchen Gründen ein konkreter Mehrbedarf im Verhältnis zu dem Hilfebedarf gesunder gleichaltriger Kinder vorliegen soll; die Zeitansätze könnten teilweise nur als "fernliegend" bezeichnet werden.

Soweit das LSG das Gutachten von Dr. D. insgesamt als nicht geeignetes Beweismittel angesehen hat, sind dagegen aus revisionsrechtlicher Sicht keine Bedenken zu erheben. Ebenso hat das LSG mit nicht zu beanstandenden Ausführungen dargelegt, weshalb es im Rahmen seiner freien richterlichen Überzeugungsbildung (§ 128 Abs 1 SGG) auch nicht dem MDK-Gutachten gefolgt ist. Bei dieser Ausgangslage waren jedoch weitere Ermittlungen zum Pflegebedarf des Klägers erforderlich.

Dazu bedurfte es nicht zwingend der sofortigen Einholung eines Sachverständigengutachtens, soweit Tatsachen festzustellen waren, die keine medizinische oder pflegerische Sachkunde voraussetzen. Die vom LSG vorgenommene Schätzung des Zeitaufwands auf Grund einer Anhörung der Pflegeperson ohne erneute Untersuchung im häuslichen Bereich ist grundsätzlich ein zulässiger Weg zur Ermittlung des Pflegebedarfs, weil konkrete Zeitermittlungen über die Dauer der Hilfe bei zahlreichen Verrichtungen besondere Sachkunde nicht erfordern (vgl zum Folgenden Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 128 RdNr 3a, b; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 61. Aufl 2003, § 287 RdNr 30 ff). Soweit dabei an Stelle konkreter Zeitmessungen Schätzungen vorgenommen werden, liegt dies ebenfalls grundsätzlich noch im Rahmen zulässiger richterlicher Beweiserhebung, jedenfalls solange die Schätzung nicht über das "Ob", sondern nur über die Höhe der Leistung entscheidet. Im Zivilprozessrecht ist die gerichtliche Schätzung in erster Linie bei der Ermittlung der Schadenshöhe von Bedeutung, vor allem wenn nach dem - näher darzulegenden - pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts voraussichtlich auch eine Beweisaufnahme keine eindeutige Klärung bringen würde; in einem derartigen Fall ist aber zunächst die Grundlage der Schätzung sorgfältig zu ermitteln und dann eine Schätzung anzustellen, die auf sachlichen und zutreffenden Erwägungen und Abwägungen beruhen muss (Meyer-Ladewig, aaO; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, aaO - jeweils mwN). Nach § 202 SGG iVm § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) ist die Schätzung eines Schadensumfangs auch im Sozialgerichtsprozess zulässig. Im Sozialrecht hat die Schätzung vor allem bei der Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Rolle gespielt (vgl Meyer-Ladewig, aaO, mwN). Der erkennende Senat hat es bereits als zulässig angesehen, den - auf anderem Wege ordnungsgemäß festgestellten - Pflegebedarf kranker und behinderter Kinder demjenigen gesunder Kinder gegenüberzustellen und dabei den - nach § 15 Abs 2 SGB XI für die Pflegestufe allein maßgeblichen - Mehrbedarf zu schätzen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 9 und 10; BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 7). Nach § 18 SGB XI ist zur Ermittlung des Pflegebedarfs von der Pflegekasse zwar zunächst ein Gutachten des MDK einzuholen, das in der Regel nach einem Besuch im Wohnbereich des Pflegebedürftigen zu erstellen ist. Im Streitverfahren kann sich das Gericht allein auf dieses Gutachten stützen, wenn es - was in den Entscheidungsgründen darzulegen ist - von zutreffenden Feststellungen ausgegangen und zu überzeugenden Ergebnissen gelangt ist. Das Gericht muss auch nicht zwingend ein neues Gutachten einholen, wenn es in einzelnen Punkten dem Gutachter nicht folgt, sofern es sich um Tatsachen handelt, die das Gericht aus eigener Sachkunde beantworten oder durch andere Beweismittel feststellen kann. In allen Fällen muss das Gericht in den Entscheidungsgründen seines Urteils aber nachvollziehbar darlegen, warum es einen bestimmten Weg eingeschlagen, andere Wege verworfen hat und warum es zu welchem Ergebnis gekommen ist. Die Feststellung eines Pflegebedarfs ohne Heranziehung von Fachkräften (Ärzten, Pflegefachkräfte usw) ist dabei besonders sorgfältig zu begründen (vgl zum Ganzen Udsching SGB XI, 2. Aufl 2000, § 18 RdNr 3 ff).

Da der Kläger bereits durch den Gutachter des MDK im häuslichen Bereich untersucht worden und der medizinische Sachverhalt zwischen den Beteiligten unstreitig ist, war das Einholen eines weiteren medizinischen Gutachtens ebenso wenig erforderlich wie eine erneute Untersuchung im häuslichen Bereich. Vielmehr durfte das LSG die Mutter des Klägers als Pflegeperson zum Pflegeaufwand anhören und danach - die Ergebnisse des MDK ergänzend und überprüfend - den Pflegebedarf feststellen; weitere medizinische oder pflegerische Fachkenntnisse sind dazu auch nach dem jetzigen Sachstand nicht erforderlich. Jedoch ist das LSG dabei den besonderen Begründungsanforderungen hinsichtlich der mit Hilfe der Mutter des Klägers ermittelten Hilfebedarfszeiten nicht durchweg gerecht geworden, weil sie von den bisher ermittelten Werten teilweise stark abweichen, ohne dass die jeweiligen zeitlichen Anhaltspunkte genannt werden. Wenn es - wie hier - für das Erreichen einer bestimmten Pflegestufe auf Minuten ankommt, muss versucht werden, die erforderlichen Zeiten für die einzelnen Verrichtungen so genau wie möglich zu ermitteln, bevor eine Schätzung zu vertreten ist. Die Zeiten sind deshalb grundsätzlich zu messen. Dazu ist es nicht erforderlich, dass das Gericht die Zeitmessungen selbst durchführt. Es reicht zunächst aus, wenn die Pflegeperson selbst die Messungen vornimmt und dies dem Gericht nachweist. Nur wenn sich Zweifel an der Richtigkeit ergeben, kann es sich anbieten, weitere - auch sachverständige - Zeugen dazu zu hören. Von daher war die Zurückverweisung des Rechtsstreits zu weiteren Tatsachenfeststellungen an das LSG geboten. Es erscheint zunächst unverzichtbar, dass von der Pflegeperson ein minutiös geführtes Pflegetagebuch mit konkreten Zeitmessungen vorgelegt wird. Die Auswertung des Tagebuchs, die Feststellung des Pflegebedarfs und die Gegenüberstellung mit dem Pflegebedarf gesunder Kinder werden dann erneut Sache des LSG sein.

3. Zu den Schätzungen des Hilfebedarfs des Klägers durch das LSG und den einschlägigen Rügen der Revision ist im Einzelnen Folgendes auszuführen: Bei der Körperpflege ist zwar der geschätzte Hilfebedarf beim Händewaschen wegen der häufigen Nahrungsaufnahme (bis April 2001 drei, danach eine Minute) und wegen des Händewaschens vor der Blutzuckermessung - das gleichwohl eine Grundpflegemaßnahme bleibt - (bis April 2001 acht, danach vier Minuten) auch ohne konkrete Zeitmessung im Hinblick auf die Kurzzeitigkeit nachvollziehbar. Beim Waschen auf Grund häufigen Stechens in die Haut ist nicht dargetan, dass dies erforderlich ist, obwohl die Haut vor dem Einstechen grundsätzlich desinfiziert werden muss; das aber wäre als Behandlungspflegemaßnahme nicht zu berücksichtigen (dazu unten). Schließlich wird bei der Hilfe zur Nahrungsaufnahme genau festzustellen sein, in welchem Umfang es sich nicht nur um eine bloße Beaufsichtigung dazu handelt, ob der Kläger die Nahrung im vorgesehenen Maße aufnimmt; nur wenn die Pflegeperson bei der Überwachung der Nahrungsaufnahme in solchem Umfang zeitlich und örtlich gebunden ist, dass sie anderweitigen Tätigkeiten nicht nachgehen kann, ist dieser Zeitaufwand berücksichtigungsfähig (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 8).

Bei der vom Kläger besuchten Ergotherapie entsteht wegen der Notwendigkeit der Begleitung ein Hilfebedarf, der als Hilfebedarf beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (§ 14 Abs 4 Nr 3 SGB XI) berücksichtigt werden kann. Eine Ergotherapie besteht aus einer Kombination von Beschäftigungs- und Arbeitstherapie und soll Störungen der Motorik, der Sinnesorgane sowie der geistigen und psychischen Fähigkeiten angehen; Ziel ist auch die Verbesserung der Selbstständigkeit und Kommunikationsfähigkeit im täglichen Leben sowie des Selbstvertrauens und Durchhaltevermögens (vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl 2002, Stichwort "Ergotherapie"). Für die - notwendige - Eingrenzung des bei dieser Verrichtung berücksichtigungsfähigen Hilfebedarfs hat der Senat gefordert, dass das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unerlässlich ist. Dazu zählen Arztbesuche, aber auch Wege zur Krankengymnastik oder zum Logopäden, soweit sie der Behandlung einer Krankheit dienen und nicht die Stärkung oder Verbesserung der Fähigkeit zu eigenständiger Lebensführung im Vordergrund steht (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 5, 6 und 8). Maßnahmen der sozialen oder beruflichen Rehabilitation sind daher nicht zu berücksichtigen; bei Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation kommt es darauf an, dass sie der notwendigen Behandlung einer Krankheit dienen. Die Abgrenzung zwischen Krankenbehandlung durch nichtärztliche Heilmittelerbringer und Rehabilitation kann im Einzelfall schwierig sein, weil die Behandlung häufig mehreren Zwecken dient: der Besserung des aktuellen Gesundheitszustandes sowie der Verbesserung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten für die Zukunft. In solchen Fällen muss es ausreichen, dass die Behandlung auch zur Behebung oder Besserung einer Krankheit führen soll. Im vorliegenden Fall dient die Ergotherapie nach den Feststellungen des LSG einer vom Arzt verordneten Behandlung einer Entwicklungsstörung. Es bestehen deshalb keine Bedenken, den dadurch erforderlichen Pflegeaufwand zu berücksichtigen, sofern er mindestens einmal wöchentlich anfällt.

Der Aufwand für das morgendliche Insulinspritzen hat als Pflegebedarf dagegen außer Betracht zu bleiben. Bei pflegebedürftigen Kindern mit Diabetes mellitus Typ I sind nach der Rechtsprechung des Senats Blutzucker- und Urinwertmessungen, entsprechende Tagebucheintragungen und Insulininjektionen grundsätzlich nicht als Pflegebedarf anzuerkennen, weil sie nicht "verrichtungsbezogen" sind, dh mit einer der in § 14 Abs 4 SGB XI genannten, nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers allein "pflegebedarfsrelevanten" Verrichtungen zeitlich und inhaltlich zwingend verbunden sind (vgl zum Ganzen BSGE 82, 27 ff = SozR 3-3300 § 14 Nr 2 sowie BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 3, 6, BSGE 82, 276 = SozR, aaO, Nr 7 - vgl aus der Literatur Wilde/Pilz, SGb 1997, 409 und Pfitzner, NZS 1999, 222). Das gilt auch für die morgendliche Insulinspritze des Klägers, weil sie zwar sinnvollerweise, nicht aber zwingend vor dem Aufstehen verabreicht werden muss. Es ist nicht erkennbar, dass erst die Spritze dem Kläger das Aufstehen ermöglicht, also Hilfe beim Aufstehen ist.

4. Ohne diese fehlerhaften oder unterbliebenen Feststellungen kann der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden, selbst wenn er der Ansicht des LSG folgen würde, dass auch die Maßnahmen der Behandlungspflege von Verfassungs wegen beim Pflegebedarf berücksichtigt werden müssen. Das LSG schließt sich zwar in den Entscheidungsgründen "im Interesse der ... Rechtseinheit" der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats an, nach der die sog Behandlungspflege nur bei "Verrichtungsbezogenheit" als Pflegebedarf anzurechnen ist. In seinen Ausführungen zur Begründung der Revisionszulassung sieht das LSG (genauer: der urteilende Einzelrichter) allerdings darin eine eigene Divergenz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Gleichheitsgrundsatz, welche die Zulassung der Revision nach sich ziehen müsse. Damit verstößt das LSG gegen Art 100 Abs 1 Grundgesetz (GG), wonach ein Gericht, wenn es ein Gesetz weder für verfassungsgemäß hält noch dieses verfassungskonform auslegen kann, die Sache unter Aussetzung des Verfahrens dem BVerfG vorlegen muss und sich nicht einer - nach Auffassung des LSG ebenfalls verfassungswidrigen - Rechtsprechung des Bundessozialgerichts anschließen darf. Der darin liegende Verfahrensfehler (Verstoß gegen Art 101 Abs 1 Satz 2 GG - Garantie des gesetzlichen Richters) bleibt allerdings ohne Folgen, weil dadurch nur der Kläger beschwert ist und dieser keine Revision eingelegt hat. Sofern das LSG nach der Zurückverweisung des Rechtsstreits erneut zu der Auffassung käme, dass das Gesetz verfassungswidrig sei, wäre zu bedenken, dass bei einer verfassungswidrigen Rechtslage der Gesetzgeber auch die Möglichkeit hätte, eine Ungleichbehandlung durch angemessene Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu beheben (vgl unten). Für diesen Fall wäre deshalb eine Beiladung des zuständigen Krankenversicherungsträgers in Erwägung zu ziehen.

5. Wegen der noch nachzuholenden Ermittlungen zum Pflegeaufwand für Verrichtungen, die nicht der Behandlungspflege zuzurechnen sind, sieht der Senat beim jetzigen Verfahrensstand davon ab, hinsichtlich der Berücksichtigung von Behandlungspflegemaßnahmen vorsorglich rechtliche Vorgaben (§ 170 Abs 5 SGG) zu machen. Für die Annahme der Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung lassen sich zwar beachtliche Argumente ins Feld führen; die fehlende Anerkennung langjähriger, aufopferungsvoller Krankenpflege durch Angehörige, die im Unterschied zur Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung nicht durch Pflegegeld wenigstens teilweise abgegolten wird, obwohl sie die Solidargemeinschaft in erheblichem Umfang entlastet, erscheint in hohem Maße ungerecht. Die fehlende Berücksichtigung dieser Art von Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung kann nicht überzeugend damit gerechtfertigt werden, dass es sich um ein Risiko handelt, das der Krankenversicherung zuzuordnen ist, solange dort vergleichbare Leistungen nicht vorgesehen sind. Bei der Pflege von Haushaltsangehörigen ist dort nicht nur Pflegegeld, sondern auch die Inanspruchnahme von Pflegesachleistungen durch ambulante Pflegedienste jedenfalls solange ausgeschlossen, wie nicht der Nachweis erbracht wird, dass einer haushaltsangehörigen Person die Pflege nicht zumutbar ist (vgl BSGE 86, 101 = SozR 3-2500 § 37 Nr 2). Bei einer Pflege von Kindern "rund um die Uhr" scheidet die Inanspruchnahme ambulanter Pflegedienste in der Regel aus praktischen Gründen, aber auch aus wirtschaftlichen Erwägungen aus, selbst wenn die Krankenversicherung im Unterschied zur Pflegeversicherung keine Leistungsbegrenzung der Höhe nach vorsieht. Andererseits bleibt aber zu bedenken, dass es innerhalb eines weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers liegt, welche Lebensrisiken er mit bestimmten sozialen Leistungen absichert, und dass der allgemeine Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) nicht schon dann verletzt ist, wenn der Gesetzgeber nicht die gerechteste, allen denkbaren Fallgestaltungen lückenlos Rechnung tragende Lösung gefunden hat (vgl dazu neuerdings BVerfG, Beschlüsse vom 22. Mai 2003 - 1 BvR 452/99 - <FamRZ 2003, 1084> und - 1 BvR 1077/00 - zum Ausschluss des Betreuungsaufwands bei geistig Behinderten).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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