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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Beschluss verkündet am 25.11.2008
Aktenzeichen: B 5 R 308/08 B
Rechtsgebiete: SGG


Vorschriften:

SGG § 160 Abs 2 Nr 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Beschluss

in dem Rechtsstreit

Az: B 5 R 308/08 B

Der 5. Senat des Bundessozialgerichts hat am 25. November 2008 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Dreher, den Richter Dr. Neuhaus und die Richterin Dr. Günniker sowie den ehrenamtlichen Richter Dr. Schneider und die ehrenamtliche Richterin Govorusic

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Mai 2008 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe:

Mit Urteil vom 20.5.2008 hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verneint und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin sei jedenfalls bis zum Ende des Jahres 2000 noch in der Lage gewesen, vollschichtig (acht Stunden täglich) körperlich leichte Arbeiten mit einigen Einschränkungen zu verrichten. Anhaltspunkte dafür, dass sich das verbliebene Leistungsvermögen in der Folgezeit wesentlich verschlechtert hätte und die Klägerin ab dem Jahre 2004 nicht mehr in der Lage sei, zumindest sechs Stunden täglich körperlich leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten, lägen nicht vor. Die Klägerin habe weder weitere ärztliche Unterlagen beigebracht noch auf irgendwelche Behandlungen oder auch nur allgemein auf eine Änderung des Gesundheitszustands hingewiesen. Sie habe auch nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, sich in der mündlichen Verhandlung zu äußern, und auch nicht mitgeteilt, dass und aus welchen Gründen sie gehindert gewesen sei, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen. Unter diesen Umständen habe sich der Berufungssenat nicht gedrängt gefühlt, ohne hinreichende Anhaltspunkte weitere Ermittlungen "ins Blaue hinein" anzustellen.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt. Sie beruft sich auf das Vorliegen von Verfahrensmängeln iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig, soweit sie eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs bzw auf Durchführung eines fairen Verfahrens rügt.

Wird als Verfahrensmangel die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz) geltend gemacht, so liegt ein solcher Verstoß nur vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 19 S 33 mwN) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Dementsprechend sind insbesondere Überraschungsentscheidungen verboten (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 62 RdNr 8a, 8b mwN).

Die Klägerin trägt vor, sie habe unmittelbar nach Eingang der Terminsmitteilung vom 23.4.2008 auf der in der Mitteilung angegebenen Durchwahl die Justizangestellte B. angerufen und sie darüber informiert, dass sie wegen ihres Bandscheibenschadens an der Verhandlung vom 20.5.2008 nicht teilnehmen könne. Hierbei habe sie auf ihre Gesundheitsverschlechterung hingewiesen und die Justizangestellte habe ihr angeraten, die entsprechenden Unterlagen per Post an das Gericht zu senden. Zu diesem Zweck habe die Justizangestellte am 25.4.2008 telefonisch zurückgerufen. Daraufhin habe sie - die Klägerin - am 2.5.2008 mit normaler Post ärztliche Unterlagen aus den Jahren 2007 und 2008 übersandt, welche aber vom LSG nicht zur Kenntnis genommen worden seien. Zu den in der mündlichen Verhandlung erörterten berufskundlichen Tatsachen habe sie nicht Stellung nehmen können. Da sie aus gesundheitlichen Gründen nicht an der mündlichen Verhandlung habe teilnehmen können, hätte es einer Vertagung bedurft, um ihr Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet, denn die von der Klägerin aufgezeigte Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt tatsächlich vor.

Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs hat auch zum Inhalt, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen haben müssen (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5; SozR 3-1500 § 128 Nr 14). Vor allem in der mündlichen Verhandlung, dem "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens (BSGE 44, 292, 293 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33), ist den Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zum gesamten Streitstoff zu äußern. Wird auf Grund mündlicher Verhandlung entschieden, müssen die Beteiligten daher die Möglichkeit haben, hieran teilzunehmen. Dies bedeutet indes nicht, dass die Gerichte in keinem Fall auf Grund mündlicher Verhandlung entscheiden dürfen, wenn ein Beteiligter nicht erscheint. Vielmehr ist eine solche Entscheidung trotz Abwesenheit eines Beteiligten ohne Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs möglich, wenn dieser in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, aaO, § 110 RdNr 11; BVerwG NVwZ-RR 1995, 549). Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn erhebliche Gründe für eine Terminsverlegung oder -vertagung vorliegen (Leitherer, aaO, § 110 RdNr 4b) und diese beantragt wird bzw ein unvertretener Beteiligter wenigstens seinen Willen zum Ausdruck bringt, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen (vgl BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - Juris RdNr 11). Ein erheblicher Grund für die Verlegung eines Termins ist etwa die durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesene Erkrankung eines nicht vertretenen Beteiligten (vgl BVerwG NVwZ-RR 1999, 408 mwN; s auch BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - Juris RdNr 12). Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Rüge ist jedoch, dass der Beteiligte seinerseits alles getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat das LSG den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, weil es auf die telefonische Mitteilung der Klägerin vom 25.4.2008 nicht angemessen reagiert hat, und damit gleichzeitig das Gebot eines fairen Verfahrens missachtet. Das LSG hat die Klägerin im Ungewissen darüber gelassen, ob die mündliche Verhandlung trotz ihrer Mitteilung, sie könne an dieser nicht teilnehmen, durchgeführt werde und/oder ob noch weitere ärztliche Unterlagen benötigt würden. Auf den Hinweis der Klägerin, sie könne an der mündlichen Verhandlung wegen ihres Bandscheibenvorfalls nicht teilnehmen, hätte das Berufungsgericht zumindest zurückfragen müssen, ob sie die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung wünsche, um dann ggf den anberaumten Termin verlegen zu können. Das LSG durfte jedenfalls ohne weitere Nachfrage bei der nicht rechtskundig vertretenen Klägerin nicht davon ausgehen, dass diese sich lediglich für ihre Abwesenheit im Termin habe entschuldigen wollen. Dagegen spricht der Umstand, dass die Klägerin ausdrücklich neuere ärztliche Unterlagen nicht nur zu dem akuten Bandscheibenvorfall dem LSG hatte übersenden wollen. Eine solche Nachfrage musste sich auch unter dem Gesichtspunkt aufdrängen, dass die Terminsbestimmung durch das LSG erfolgte, nachdem das Verfahren mehrere Jahre stillgestanden hatte und keinerlei Schriftverkehr mit der Klägerin erfolgt war. Erfahrungsgemäß ist in einer derartigen Situation verstärkt mit weiterem Vorbringen des Rechtsuchenden zu rechnen, insbesondere wenn das aktuelle gesundheitliche Leistungsvermögen für den Ausgang des Verfahrens von entscheidender Bedeutung ist.

Der Senat geht von der Richtigkeit des Vorbringens der Klägerin aus. Die Klägerin hat zwar keine Nachweise zu den von ihr behaupteten Tatsachen vorgelegt, doch wurden die von ihr erwähnten Telefonate mit dem LSG vor dem Termin durch die vom erkennenden Senat eingeholten Auskünfte des Berichterstatters vom 24.10.2008 und der Justizangestellten B. vom 22.10.2008 bestätigt und das übrige Vorbringen der Klägerin durch diese Auskünfte nicht widerlegt. Soweit der Berichterstatter und die Justizangestellte B. aus der Erinnerung nähere Einzelheiten nicht bestätigen konnten, kann dies nicht zu Lasten der Klägerin gehen. Denn dies liegt allein daran, dass nicht die erforderlichen schriftlichen Vermerke über die mit der Klägerin geführten Telefonate und den dabei erfolgten Auskünften gefertigt wurden.

Der Umstand, dass der Berichterstatter des Berufungssenats dem ersten Telefonat keine Bedeutung beigemessen hat, kann das LSG nicht entlasten. Die Klägerin durfte jedenfalls davon ausgehen, vom LSG mitgeteilt zu bekommen, wie weiter verfahren werde, nachdem sie mitgeteilt hatte, aus Krankheitsgründen den Termin nicht wahrnehmen zu können. Nach Kenntnis vom Inhalt des Telefongesprächs hätte sich der Berufungssenat jedenfalls gehalten sehen müssen, bei der nicht rechtskundig vertretenen Klägerin nachzufragen, ob ihre Mitteilung als Vertagungsantrag anzusehen und entsprechend zu behandeln sei. Den Stellungnahmen des Berichterstatters des Berufungssenats und der Justizangestellten B. kann noch nicht einmal entnommen werden, dass der Klägerin mitgeteilt worden sei, der Berufungssenat werde auf jeden Fall am vorgesehenen Termin festhalten und ggf auch ohne ihre Anwesenheit verhandeln und entscheiden.

Nach Aktenlage ist zwar nicht zu erkennen, dass die nach dem Vortrag der Klägerin am 2.5.2008 übersandten ärztlichen Unterlagen das LSG erreicht haben. Auch die Stellungnahme des Berichterstatters des Berufssenats sagt hierüber nichts aus. Für die Begründetheit der Rüge ist es allerdings nicht von entscheidender Bedeutung, ob diese Unterlagen von der Klägerin abgesandt wurden, weil der Verfahrensmangel bereits unabhängig davon in der nicht angemessenen Reaktion auf die telefonische Mitteilung der Klägerin zu sehen ist.

Es ist nicht auszuschließen, dass die nicht rechtskundig vertretene Klägerin bei Wahrnehmung eines späteren Termins zur mündlichen Verhandlung das LSG auf neuere entscheidungserhebliche Tatsachen hätte hinweisen können und das Verfahren demnach einen anderen Ausgang genommen hätte.

Da die Klägerin mit der gerügten Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör bzw auf Durchführung eines fairen Verfahrens bereits durchdringt, kann dahinstehen, ob die übrigen von ihr geltend gemachten Verfahrensmängel ordnungsgemäß dargetan worden sind.

Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung macht der Senat von der Möglichkeit des § 160a Abs 5 SGG Gebrauch und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

Ende der Entscheidung

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