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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 05.04.2000
Aktenzeichen: B 5 RJ 38/99 R
Rechtsgebiete: SGB I, SGG


Vorschriften:

SGB I § 2 Abs 2
SGB I § 17 Abs 1 Nr 1
SGG § 103
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

Az: B 5 RJ 38/99 R

Verkündet am 5. April 2000

in dem Rechtsstreit

Kläger und Revisionsbeklagter,

Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz, Königsallee 71, 40215 Düsseldorf,

Beklagte und Revisionsklägerin.

Der 5. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 5. April 2000 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Wetzel-Steinwedel, den Richter Dr. Fichte und die Richterin Streffer sowie die ehrenamtlichen Richterinnen Vorwerk und Winterer

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. September 1999 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Auszahlung seiner Regelaltersrente.

Der 1931 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er lebt seit 1961 in Chile und wohnt dort auf dem Gelände der Villa Baviera, früher "Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad" (sog Colonia Dignidad <CD>). Die Zahlung der im Januar 1996 beantragten Regelaltersrente wurde von der beklagten LVA mit Bescheid vom 24. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Februar 1998 - ohne vorherige Anhörung des Klägers und ohne Erteilung eines Leistungsbescheids dem Grunde nach - vorläufig versagt. Zur Begründung führte sie aus: Zwar seien die Anspruchsvoraussetzungen des § 35 SGB VI für die Gewährung der Regelaltersrente grundsätzlich erfüllt; eine Zahlung komme jedoch derzeit nicht in Betracht, weil für sie, die Beklagte, gemäß § 2 Abs 2 iVm § 17 Abs 1 Nr 1 SGB I eine Obhutspflicht bestehe, nach der sie dafür Sorge zu tragen habe, daß jeder Berechtigte die ihm vom Gesetz zugedachte Rente auch tatsächlich erhalte und für sich nutzen könne. Aufgrund der in der CD herrschenden Verhältnisse bestünden jedoch begründete Verdachtsmomente, daß dies nicht der Fall sei, weil eine den eigenen freien Willen ausschließende Fremdbeherrschung durch dritte Personen vorliege. Eine derartige Abhängigkeit sei mit den Wertvorstellungen des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren. Zudem lägen ernsthafte Anhaltspunkte dafür vor, daß der Kläger geschäftsunfähig sei, was zur Folge habe, daß bei einer Leistung keine Erfüllungswirkung eintrete.

Das SG hat den angefochtenen Bescheid geändert und die Beklagte zur Zahlung der Regelaltersrente verurteilt (Urteil vom 19. Januar 1999). Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das LSG durch Urteil vom 15. September 1999 zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe das auf einer entsprechenden Ermächtigung beruhende förmliche Verfahren für eine Versagung der Rentenzahlung nicht eingehalten. Ergänzend hat es auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen, wonach das Bestehen einer Obhutspflicht der Beklagten dahinstehen könne, weil § 2 Abs 2, § 17 Abs 12 Nr 1 SGB I jedenfalls keine Berechtigung bzw Verpflichtung des Leistungsträgers zur Vorenthaltung der Rentenzahlung erkennen ließen; beide Vorschriften enthielten keinen "Eingriffstatbestand", der diese Rechtsfolge zulasse.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte einen Verstoß gegen § 2 Abs 2, § 17 Abs 1 Nr 1 SGB I sowie die Verletzung des Grundsatzes der Amtsermittlung (§ 103 SGG). Sie bezieht sich auf das Urteil des 4. Senats des BSG vom 22. Februar 1995 (4 RA 44/94) und ist der Ansicht: § 2 Abs 2, § 17 Abs 1 Nr 1 SGB I seien im Umkehrschluß zu der hieraus abgeleiteten Obhutsverpflichtung mangels anderweitiger Realisierungsmöglichkeiten als Rechtsgrundlage - als ultima ratio - für die Konkretisierung der Obhutspflichten in Form der Zahlungseinstellung im Ausnahmefall - wie hier bei den Verhältnissen in der CD - heranzuziehen. Alternativen im Sinne eines milderen Mittels gegenüber der Versagung der Leistung seien nicht ersichtlich. Der Grundsatz der Amtsermittlung sei verletzt, weil das LSG dem Antrag nicht entsprochen habe, ein psychologisches Gutachten über den Kläger einzuholen oder einen Betreuer bestellen zu lassen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. September 1999 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19. Januar 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.

1. In der Revisionsinstanz fortwirkende Verstöße gegen verfahrensrechtliche Grundsätze, die einer Sachentscheidung entgegenstehen, liegen nicht vor. Insbesondere bestehen keine ernsthaften Zweifel an der Prozeßfähigkeit des Klägers. Nach § 71 Abs 6 SGG iVm § 56 Abs 1 ZPO ist die Frage der Prozeßfähigkeit eines Verfahrensbeteiligten in jeder Lage des Verfahrens, auch in der Revisionsinstanz (und insoweit auch für das zurückliegende Verfahren), von Amts wegen zu prüfen (BSG Urteil vom 31. Oktober 1973 - 5 RKn 68/73 - ; BVerwG Urteil vom 29. März 1984 - 3 C 68.81 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr 47; BGH Urteil vom 22. Dezember 1982 - V ZR 89/80 - BGHZ 86, 184, 188). Fehlende Prozeßfähigkeit ist ein absoluter Revisionsgrund (§ 202 SGG iVm § 551 Nr 5 ZPO), wobei dieser Mangel auch vom Gegner geltend gemacht werden kann (vgl Zöller, ZPO-Komm, 21. Aufl 1999, RdNr 6 zu § 551). Auf den im Ausland lebenden Kläger ist insoweit ebenfalls deutsches Recht anzuwenden, da er deutscher Staatsangehöriger ist. Nach § 7 Abs 1 Satz 1 EGBGB unterliegen die Rechtsfähigkeit und die Geschäftsfähigkeit einer Person dem Recht des Staates, dem die Person angehört.

Nach § 71 Abs 1 SGG ist ein Beteiligter prozeßfähig, soweit er sich durch Verträge verpflichten kann. Prozeßunfähig sind natürliche Personen, die geschäftsunfähig sind. Eine etwaige Geschäftsunfähigkeit und damit Prozeßunfähigkeit hätte aber im vorliegenden Fall allenfalls aus den Gründen des § 104 Nr 2 BGB in Betracht kommen können. Danach ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht dieser Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Störungen der Geistestätigkeit bilden indes nach der allgemeinen Lebenserfahrung Ausnahmeerscheinungen und sind grundsätzlich nicht zu vermuten (vgl BSG Urteil vom 31. Oktober 1973 - 5 RKn 68/73 -; BVerwG Beschluß vom 30. August 1985 - 2 CB 40.83 - DVBl 1986, 146 f; BVerwG Urteil vom 17. September 1997 - 1 B 152/97 - Buchholz 310 § 86 Abs 1 VwGO Nr 284).

Im Hinblick auf den vorgenannten Erfahrungssatz besteht eine besondere Prüfungspflicht des Gerichts nicht; denn vernünftige Zweifel an der Prozeßfähigkeit des Klägers liegen nicht vor. Die Beklagte hat zwar im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren Zweifel und Verdachtsmomente hinsichtlich der Geschäftsfähigkeit und damit der Prozeßfähigkeit des Klägers geäußert. Ihre Darlegungen und die vorgelegten bzw in Bezug genommenen Unterlagen, insbesondere das Aktenlage-Gutachten von Dr. G. vom 15. Januar 1998, das in einem - nicht den Kläger betreffenden - Verfahren vom SG Berlin eingeholt worden ist (S 35 An 3345/96), haben jedoch nach dem Prüfungsergebnis der Vorinstanzen keine Anhaltspunkte für eine Prozeßunfähigkeit des Klägers ergeben. Dieser Beurteilung schließt sich der Senat - unter zusätzlicher Auswertung der in den Parallelverfahren B 5 RJ 22/99 R und B 5 RJ 24/99 R vorgelegten Unterlagen (Protokoll der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Chile vom 24. Oktober 1994 über den am 19. Oktober 1994 abgehaltenen Rentensprechtag, bei dem allerdings der Kläger nicht anwesend war; Bericht des Psychotherapeuten Dr. B. vom 14. Oktober 1997 und Protokoll über die am 23. Oktober 1997 in dem Verfahren S 35 An 3345/96 vor dem SG Berlin erfolgten Zeugenvernehmungen) - aufgrund eigener Prüfung an. Danach ergibt sich bei der CD, in der der Kläger lebt, das Bild einer streng abgeschlossenen sektenhaften Gemeinschaft mit Zügen einer totalitär strukturierten Organisation, die offenbar unter Einsatz von Zwang und Indoktrination aufrechterhalten wird. Dieser von der Beklagten hervorgehobene Umstand nötigt indes nicht zu der Erkenntnis, daß der Kläger prozeßunfähig sein könnte. Die Möglichkeit, daß bestimmte Handlungen und Erklärungen eines Verfahrensbeteiligten zB auf Zwang, Nötigung oder Täuschung beruhen, begründet noch keine Zweifel an dessen geistiger Fähigkeit zu freier Willensbetätigung. Nach der Wertung des Gesetzgebers sind entsprechende Willenserklärungen nicht etwa - wie die eines Geschäftsunfähigen - von vornherein unwirksam, sondern lediglich anfechtbar (§ 123 Abs 1 BGB). Auch im Revisionsverfahren haben sich keine neuen Tatsachen oder Erkenntnisse ergeben, die Anlaß gäben, an der Prozeßfähigkeit des Klägers zu zweifeln. Dies gilt insbesondere auch nicht für den Umstand, daß die Beklagte - wie sie in der Revisionsbegründung vorgetragen hat - mit Schriftsatz vom 13. April 1999 für den Kläger beim Amtsgericht (AG) Düsseldorf - Vormundschaftsgericht - die Bestellung eines Betreuers beantragt hat. Denn dieser Antrag ist - wie im Tatbestand des Berufungsurteils ausgeführt - mit Beschluß des AG vom 26. April 1999 als unzulässig verworfen worden; die hiergegen gerichtete Beschwerde der Beklagten ist erfolglos geblieben (Beschluß des Landgerichts Düsseldorf vom 12. Juli 1999). Im übrigen weist der Senat darauf hin, daß der für die Feststellung der Prozeßfähigkeit geltende Amtermittlungsgrundsatz hier - ebenso wie im materiellen Recht - nicht erfordert, nach Tatsachen zu forschen, für deren Bestehen die Umstände des Einzelfalles keine konkreten Anhaltspunkte bieten (stRspr: BSG Urteile vom 14. Mai 1996 - 4 RA 60/94 - BSGE 78, 207, 213 = SozR 3-2600 § 43 Nr 13 und vom 17. Dezember 1997 - 11 RAr 61/97 - BSGE 81, 259, 262 f = SozR 3-4100 § 128 Nr 5). Die Beklagte kann sich deshalb auch nicht mit Erfolg auf eine Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes berufen.

Im übrigen wird auch für die Vornahme von Verwaltungsverfahrenshandlungen wie der Rentenantragstellung gemäß § 11 Abs 1 Nrn 1 und 2 SGB X die Geschäftsfähigkeit nach dem BGB vorausgesetzt. Aus ihrer Sicht hätte die Beklagte daher schon die Wirksamkeit der Rentenantragstellung des Klägers in Frage stellen und - worauf bereits das SG zutreffend hingewiesen hat - bei Zweifeln den Weg nach § 15 SGB X (Bestellung eines Vertreters von Amts wegen) iVm § 37 SGB I wählen müssen. Keinesfalls durfte sie die Leistung ohne vorherige Aufklärung kurzerhand versagen und den Versagungsbescheid an den (angeblich) Geschäftunfähigen per Einschreiben gegen Rückschein versenden, wie vorliegend geschehen.

2. Auch in der Sache ist die Beklagte zu Recht durch das sozialgerichtliche Urteil vom 19. Januar 1999 und durch das dieses bestätigende Berufungsurteil des LSG vom 15. September 1999 zur Leistungsgewährung verurteilt worden. Denn für die mit Bescheid vom 24. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Februar 1998 verfügte vorläufige Leistungsversagung fehlt die Rechtsgrundlage.

Soweit die Beklagte in § 2 Abs 2, § 17 Abs 1 Nr 1 SGB I die Rechtsgrundlage für die Versagung der Leistung an den Kläger sieht, läßt sich den genannten Vorschriften ein entsprechender Regelungsgehalt nicht entnehmen. Nach § 2 Abs 2 SGB I ist lediglich bei der Auslegung der Vorschriften des SGB I sicherzustellen, daß die "sozialen Rechte" möglichst weitgehend verwirklicht werden. Es ist also von den sozialen Rechten, nicht von den sozialen Pflichten einschließlich der Mitwirkungsobliegenheiten der §§ 60 ff SGB I die Rede (vgl Rüfner in Wannagat, SGB I-Komm, 1996, RdNr 12 zu § 2, Mrozynski, SGB I-Komm, 2. Aufl 1995, RdNr 8 zu § 2 mwN). Wie in § 2 Abs 2 SGB I angesprochen, verwirklicht die Verwaltung den Systemzweck des Sozialgesetzbuchs (nur) dann, wenn sie alles ihr Zumutbare unternimmt, um möglicherweise objektiv bestehende soziale Rechte festzustellen und individualisierend zu konkretisieren. Offenbleiben kann dabei, ob es sich bei § 2 Abs 2 SGB I iVm den nachfolgend beschriebenen sozialen Rechten im Hinblick auf den "geringen Grad an normativer Ausgestaltung" (Mrozynski, aaO, RdNr 10 mwN) lediglich um Programmsätze, oder aber um soziale Rechte iS verbindlicher Auslegungskriterien des Gesetzgebers handelt (vgl auch Bley in SozVers-Gesamtkomm, Anm 1d zu § 2, Stand September 1984). Jedenfalls findet sich in dieser Vorschrift auch bei weitester Auslegung ihres Regelungsgehalts weder eine Rechtsgrundlage für die Versagung einer Sozialleistung noch gar für die Nichtbescheidung eines Leistungsantrags (hier: des Antrags auf Gewährung von Altersrente), obwohl der Leistungsträger einräumt, daß die Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach erfüllt sind (vgl BSG Urteil vom 25. Oktober 1988 - 7 RAr 70/87 - SozR 1200 § 66 Nr 13).

Gleiches gilt für § 17 Abs 1 Nr 1 SGB I. Diese Vorschrift verpflichtet die Leistungsträger, darauf hinzuwirken, daß jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und schnell erhält. Angesprochen ist damit die sozialpolitisch wichtige institutionelle Seite des Leistungssystems: Durch § 17 SGB I werden die Leistungsträger zu einer gewissen Vorsorge verpflichtet. Sie müssen in einer Weise initiativ werden, die dazu führt, daß im Bedarfsfalle der Sozialleistungsanspruch des einzelnen nicht daran scheitert, daß ein Dienst oder eine Einrichtung nicht zur Verfügung steht (Mrozynski, SGB I-Komm, 2. Aufl 1995, RdNr 1 zu § 17). Angesprochen ist mithin auch hier allein das Recht des Versicherten gegenüber dem Leistungsträger, eine beanspruchbare Leistung zeitnah und effektiv zu erhalten. Eine Mitwirkungsobliegenheit des Versicherten, deren Verletzung zur Versagung der Leistung führen könnte, ist dem Regelungsgehalt dieser Vorschrift nicht zu entnehmen.

Nichts anderes hat auch der 4. Senat des BSG in seinem Urteil vom 22. Februar 1995 (4 RA 44/94 - BSGE 76, 16 ff, 22 = SozR 3-1200 § 66 Nr 3 S 10) entschieden, wenn dort ausgeführt ist, das Gesetz (§ 2 Abs 2, § 17 Abs 1 Nr 1 SGB I) lege dem Leistungsträger eine Obhutspflicht als Nebenpflicht auf, ua dafür zu sorgen, daß der Berechtigte die ihm vom Gesetz zugedachte Sozialleistung wirklich erhalte. In Konkretisierung dieser Nebenpflicht hat der 4. Senat den Leistungsträger für berechtigt erachtet, das persönliche Erscheinen des Berechtigten zu einem Gespräch zu verlangen, wie § 61 SGB I dies vorsieht. Unter der "Entscheidung über die Leistung" iS des § 61 SGB I sind danach nicht nur die verwaltungsverfahrensrechtlichen Entscheidungen zwecks Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen und die Entscheidung über das subjektive Recht auf eine Sozialleistung, sondern auch alle weiteren Entscheidungen über ua Art und Weise der Leistungserbringung zu verstehen. Erst als Folge der Verletzung dieser Mitwirkungsobliegenheit hat der 4. Senat sodann die Vorgehensweise nach § 66 SGB I (dort: Entziehung der Sozialleistung) gebilligt (BSG aaO; nicht veröffentlichtes BSG-Urteil vom 22. Februar 1995 - 4 RA 54/93 - Umdruck S 19). Vorliegend will sich die Beklagte für die Versagung der beantragten Leistung hingegen direkt auf § 2 Abs 2, § 17 Abs 1 Nr 1 SGB I stützen. Diese Rechtsfolge ist in den genannten Vorschriften jedoch nicht vorgesehen.

Vielmehr ergibt sich bereits aus dem Gesetz, daß dem Rentenversicherungsträger zwar auch die Überwachung der Zahlungsvoraussetzungen für die Leistung obliegt, daß hierfür jedoch zuvörderst die Instrumente der §§ 60 ff SGB I zur Verfügung stehen. Dies läßt sich der Regelung des § 119 SGB VI entnehmen. Hiernach erfolgt die Erbringung laufender Geldleistungen regelmäßig durch die Deutsche Post AG, § 119 Abs 1 Satz 1 SGB VI. Nach Abs 3 dieser Vorschrift umfaßt die Auszahlung durch die Deutsche Post AG auch die Wahrnehmung der damit in Zusammenhang stehenden Aufgaben der Träger der Rentenversicherung, insbesondere die Überwachung der Zahlungsvoraussetzungen ua durch die Einholung von Lebensbescheinigungen im Rahmen des § 60 Abs 1 und des § 65 Abs 1 Nr 3 SGB I, § 119 Abs 3 Nr 1 SGB VI. Damit wird nicht nur deutlich, daß der Träger oder in seinem Auftrag die Deutsche Post AG - einerseits - zur Überwachung der Zahlungsvoraussetzungen bei Auslandsrenten Lebensbescheinigungen anfordern kann, vielmehr - andererseits - auch, daß er diese Pflicht im Rahmen der §§ 60 ff SGB I durchzusetzen hat.

Insgesamt kann der Senat offenlassen, ob aus jedem Sozialleistungsverhältnis besondere "Obhutspflichten" des Leistungsträgers folgen. Denn auch bei Unterstellung solcher Obhutspflichten (genauer: nachwirkender Nebenobliegenheiten) würde der Leistungsträger bei ihrer Verletzung nicht etwa aufgrund positiver Forderungsverletzung (pFV) schadensersatzpflichtig iS einer möglichen Doppelleistung. Im Verhältnis zum Kläger stünde dessen Anspruch aus pFV der Grundsatz des venire contra factum proprium entgegen; denn der Kläger, bei dem keine konkreten Anhaltspunkte für eine Geschäftsunfähigkeit vorliegen (s unter Ziff 1), besteht ja gerade - trotz der Bedenken der Beklagten, daß er die Leistung jemals selbst erhalte - auf einer Auszahlung der Rentenleistung per US-$-Scheck an seine Anschrift in Chile oder an seinen Prozeßbevollmächtigten (vgl Antragsformular über die Angabe des Zahlungswegs für die Überweisung der Rente vom 18. Dezember 1995 sowie Prozeßvollmacht vom 14. Januar und 1. September 1998). Bei dieser Sachlage kann er sich später nicht wirksam darauf berufen, die Leistung tatsächlich nicht erhalten zu haben. Er kann durch das aus dem Sozialrechtsverhältnis abgeleitete Pflichtenverhältnis nicht "vor sich selbst" geschützt werden. Insoweit ist auch die Selbstverantwortung des einzelnen zu berücksichtigen (vgl Meyer, Behördliche Betreuungspflichten im Sozialverwaltungsrecht - Anmerkung zur Typik und zur rechtsdogmatischen Grundlegung, SGb 1985, 57, 61 f).

Im Zusammenhang mit der Frage der Leistungserbringung ist zudem darauf hinzuweisen, daß nach Art 28 iVm Art 32 Abs 1 Nr 1 EGBGB bei vertraglichen Schuldverhältnissen für die Erfüllung deutsches Recht gilt. Nach der Rechtsprechung des BSG sind die Regelungen der §§ 269 f BGB als Ausdruck allgemeiner Rechtsüberzeugungen auch auf öffentlich-rechtliche Rechtsbeziehungen auf dem Gebiet des Sozialrechts entsprechend anzuwenden (BSG Urteil vom 11. Dezember 1987 - 12 RK 40/85 - BSGE 63, 1, 2 f = SozR 2100 § 24 Nr 4 S 4). Dies bedeutet, daß bei der vom Kläger gewünschten Zahlungsart der Übersendung von US-$-Schecks an seinen Wohnort der Leistungserfolg zwar erst mit der Einlösung der Schecks eintritt, das Veruntreuungsrisiko hingegen nach der Gefahrübergangsregelung des § 270 Abs 1 BGB auf den Gläubiger (hier: den Kläger) übergeht, sobald der Scheck bei der von ihm angegebenen Anschrift eingegangen ist (vgl Urteile des KG Berlin vom 1. Februar 1996 - 2 U 4257/95 - und des OLG Celle vom 29. Mai 1996 - 9 U 207/95 -). Ein besonderes Risiko für den Leistungsträger ist mithin mit der vom Kläger gewünschten Scheckzahlung nicht verbunden.

Mitwirkungsobliegenheiten des Versicherten im Zusammenhang mit der Leistungserbringung sind allein in den §§ 60 ff SGB I geregelt, wobei die - gänzliche oder teilweise - Versagung oder Entziehung einer Leistung als Folge fehlender Mitwirkung in § 66 Abs 1 SGB I angesprochen ist. Hierbei handelt es sich - wie das LSG ausgeführt hat - um ein "förmliches Verfahren", dh ein Verfahren, welches zum Schutz des Versicherten eine Reihe formalisierter Voraussetzungen einzuhalten hat (vgl BSG Urteil vom 10. März 1993 - 14b/4 REg 1/91 - BSGE 72, 118, 119 = SozR 3-7833 § 6 Nr 2). Dem angefochtenen Verwaltungsakt der Beklagten mangelt es bereits an der Rechtsgrundlage für die "vorläufige Versagung" der Regelaltersrente. Daß die Beklagte die Voraussetzungen des § 66 Abs 1 SGB I erfüllen wollte oder erfüllt hat, wird auch von ihr selbst nicht behauptet.

Nach § 66 Abs 1 Satz 1 SGB I kann die Leistung grundsätzlich nur bis zur Nachholung der Mitwirkung versagt werden. Ein solcher Endzeitpunkt ist im angefochtenen Bescheid aber nicht benannt worden. Es wird auch nicht in anderer Weise ausgedrückt, welche Mitwirkungshandlung vom Versicherten erwartet wird und was er konkret tun muß, damit das Leistungshindernis beseitigt wird. Eine Versagung "auf Dauer" ist aber auch nach dem Regelungsgehalt des § 66 Abs 1 SGB I nicht zulässig. Eine ordnungsgemäße Versagung setzt zudem die Ausübung von Ermessen voraus, in welches insbesondere Erwägungen der Verhältnismäßigkeit mit der Frage nach weniger einschneidenden Maßnahmen einzufließen haben. Ermessenserwägungen kommen indes im angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides nicht zum Ausdruck; die dort verwendete Diktion ("... kommt ... nicht in Betracht") läßt vielmehr erkennen, daß die Ausübung von Ermessen auch gar nicht beabsichtigt war. Schließlich muß die Entscheidung nach § 66 Abs 1 Satz 1 SGB I zugleich - nachvollziehbare, dh begründete - Erwägungen darüber enthalten, ob bzw weshalb die Leistung ganz oder teilweise versagt wird. Auch hierüber ist dem angefochtenen Bescheid nichts zu entnehmen. Nach Abs 3 der Vorschrift dürfen schlußendlich Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist. Auch ein solcher vorheriger schriftlicher Hinweis ist nach dem Akteninhalt nicht erteilt worden.

Eine andere Rechtsgrundlage für die Versagung der Leistung ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Über die einschlägigen Regelungen des SGB I hinaus ist die Beklagte nicht - auch nicht als "ultima ratio" - befugt, sich Eingriffsermächtigungen durch vermeintliche Analogie selbst "zu beschaffen", weil dies dem Vorbehalt des Gesetzes widerspräche.

Schließlich führen auch die in der Revisionsbegründung angesprochenen Vorschriften der Hinterlegung (§§ 372 ff BGB) vorliegend nicht zu einem Recht der Beklagten auf "Zurückbehaltung" der Altersrente. Zwar mögen sie im Zivilrecht auch im Falle des Zweifels an der Geschäftsfähigkeit des Gläubigers (und nicht lediglich bei Geschäftsunfähigkeit selbst) anwendbar sein. Im Sozialrecht stellen jedoch die §§ 60 ff SGB I insoweit eine Spezialregelung dar, die - im Einklang mit den aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsenden Nebenpflichten - eine Überwälzung der Feststellungslast auf den Leistungsberechtigten vermeidet.

Es kann nicht Aufgabe des BSG sein, der Beklagten Wege aufzuzeigen, auf denen sie der von ihr vermuteten besonderen Situation der auf dem Gelände der CD ansässigen Rentenberechtigten gerecht werden kann. Es sei jedoch auf folgendes hingewiesen: Die Behörde ist zwar zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts gemäß § 20 Abs 1 Satz 1 SGB X von Amts wegen verpflichtet. Bevor die Anspruchsberechtigung des Antragstellers feststeht, ist sie zur Leistungsbewirkung weder verpflichtet noch auch nur berechtigt. Sie hat jedoch die Beteiligten zur Mitwirkung bei der Ermittlung des Sachverhalts heranzuziehen, § 21 Abs 2 Satz 1 SGB X. Art und Umfang dieser Mitwirkung (die beispielsweise auch ärztliche und psychologische Untersuchungsmaßnahmen umfassen kann) sind in §§ 60 ff SGB I abschließend geregelt. Ggf kann auch der Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, gemäß § 32 Abs 1 SGB X mit einer Nebenbestimmung versehen werden. Unbeschadet des Abs 1 kommt nach Abs 2 der Vorschrift eine Nebenbestimmung etwa in Gestalt einer aufschiebenden oder auflösenden Bedingung, einer Befristung oder einer Auflage nach den dort im einzelnen normierten Voraussetzungen in Betracht (vgl BSG Urteile vom 22. September 1981 - 1 RJ 112/80 - SozR 1500 § 48 Nr 1 und vom 28. Juni 1990 - 4 RA 57/89 - BSGE 67, 104 = SozR 3-1300 § 32 Nr 2). Auch wäre zu erwägen, ob und inwieweit auf der Grundlage des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Chile über Rentenversicherung vom 5. März 1993 (BGBl II S 1227) und der Vereinbarung zur Durchführung des Abkommens vom 21. Juni 1994 (BGBl II 1995, S 1043) die Inanspruchnahme von Amtshilfe und Rechtshilfe (Art 15, 16 des Abkommens) sowie eine Zusammenarbeit mit den Verbindungsstellen in Chile (Art 21 Abs 2 des Abkommens) in Betracht kommt.

All diese gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten hat die Beklagte indes nicht in Betracht gezogen und sich statt dessen auf die allgemeinen Grundsätze der effektiven und umfassenden Leistungserbringung zurückgezogen, die jedoch - wie vorstehend ausgeführt - keine Ermächtigung zum Eingriff in Rechte des Versicherten beinhalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.



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