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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Beschluss verkündet am 27.11.2007
Aktenzeichen: B 5a/5 R 406/06 B
Rechtsgebiete: SGG


Vorschriften:

SGG § 103
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Beschluss

in dem Rechtsstreit

Az: B 5a/5 R 406/06 B

Der 5a. Senat des Bundessozialgerichts hat am 27. November 2007 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Dreher, den Richter Dr. Neuhaus und die Richterin Dr. Günniker sowie die ehrenamtliche Richterin Govorusic und den ehrenamtlichen Richter Dr. Burdenski

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 29. Mai 2006 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

Das Thüringer Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 29.5.2006 einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit im Wesentlichen mit folgender Begründung verneint: Es könne offenbleiben, ob der Kläger seine letzte versicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit als Hilfsarbeiter (Lackierer und Grundierer in einer Tischlerei) noch ausüben könne. Er sei jedenfalls sowohl sozial zumutbar als auch nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen auf die Tätigkeit eines Produktionshelfers verweisbar. Diese Tätigkeit könne er trotz seiner vorhandenen gesundheitlichen Beschwerden ausüben. Es handele sich um einfachste wiederkehrende und körperlich leichte Tätigkeiten, die sich nicht aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten hervorhöben und ohne jegliche Ausbildung nach einer Unterweisungszeit von in der Regel drei Tagen ausgeführt werden könnten. Ein konkretes Beispiel für diese Tätigkeiten seien leichte Verpackungstätigkeiten in einem Unternehmen der Dentalbranche. Dem Anforderungsprofil derartiger Tätigkeiten entspreche das von dem Sachverständigen Prof. Dr. W. festgestellte Leistungsvermögen des Klägers. Danach sei der Kläger in der Lage, vollschichtig acht Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche mittelschwere Arbeiten und somit auch die Produktionshelfertätigkeiten ohne besondere Einschränkungen durchzuführen. Angesichts der Feststellungen von Prof. Dr. W. vermöge der Berufungssenat dem Gutachten von Prof. Dr. F. vom 15.8.2001, dem Gutachten des Arztes F. vom 27.10.2004, den berufsgenossenschaftlichen Rentengutachten von Prof. Dr. E. vom 27.4.2001 und 26.5.2004 sowie dem Privatgutachten von Dr. Fi. vom 12.9.2002 nicht zu folgen. Auch die von dem behandelnden Arzt Dr. M. unter dem 21.10.2002 berichtete Hirnstammbeteiligung einer zentralen Gleichgewichtsstörung habe der Sachverständige nicht verifizieren können. Ebenso wenig habe er die von Dr. K. unter dem 15.8.2003 gestellten Diagnosen einer multisensorischen neurootologischen Funktionsstörung, einer zentralen Gleichgewichtsfunktionsstörung vom Typ der labilen Hirnstammenthemmung, der Hirnstamm-taumeligkeit, der zentralen Reaktionshemmung des optokinetischen Systems und der pontomedullären Hörbahnstörung feststellen können. Angesichts der vorliegenden medizinischen Unterlagen sehe sich der Berufungssenat nicht gedrängt, ein neurootologisches Sachverständigengutachten eines HNO-Arztes einzuholen.

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil rügt der Kläger als Verfahrensfehler, das LSG sei seinem im Termin zur mündlichen Verhandlung gestellten Antrag auf Einholung eines neurootologischen Gutachtens bei der Universität Würzburg zur Abklärung der bestehenden erheblichen Gleichgewichtsstörungen und deren Auswirkungen auf das Leistungsvermögen ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Außerdem werde die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs gerügt, weil das LSG auf den neurootologischen Befundbericht von Dr. M. vom 11.5.2006 mit keinem Wort eingegangen sei.

In diesem Befundbericht werde eine Verschlechterung gegenüber den im Jahre 2002 erhobenen Befunden festgestellt und das Vorliegen einer neurootologischen Funktionsstörung im Sinne einer Wahrnehmungsstörung und zentralen Gleichgewichtsstörung mit Stammhirnbeteiligung bescheinigt. Im Hinblick darauf, dass die neurologische Untersuchung durch den Sachverständigen Prof. Dr. W. vom 13.1.2003 datiere und möglicherweise als nicht mehr aktuell zu erachten sei, habe der Berufungssenat die festgestellte Befundverschlechterung diskutieren müssen.

Die Beschwerde ist zulässig und auch begründet.

Der vom Kläger gerügte Verfahrensverstoß der mangelnden Sachaufklärung liegt vor.

Der Kläger hat die Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hinreichend bezeichnet; die Rüge trifft auch zu. Das LSG ist einem vom Kläger im Berufungsverfahren gestellten und bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zu Unrecht nicht gefolgt.

Zutreffend führt der Kläger aus, er habe in der mündlichen Verhandlung den Antrag auf Einholung eines neurootologischen Gutachtens gestellt. Dies belegt das Protokoll der mündlichen Verhandlung; auch ist das LSG auf diesen Antrag - jedenfalls sinngemäß - in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils eingegangen. Bei dem Antrag des Klägers handelte es sich um einen Beweisantrag iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG. Denn mit ihm hat der Kläger dem LSG in der mündlichen Verhandlung hinreichend deutlich vor Augen geführt, dass er die gerichtliche Aufklärungspflicht in einem bestimmten Punkt noch nicht als erfüllt angesehen hat (so genannte Warnfunktion, vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21). Es handelte sich auch um einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag, der - jedenfalls zusammen mit den übrigen Ausführungen des Klägers im Berufungsverfahren - den Beweisgegenstand bzw das Beweisthema ausreichend bezeichnet hat. Aus dem Antrag selbst ergibt sich zwar nicht bereits das Ziel der beantragten Beweiserhebung, doch hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung ersichtlich nur den im Schriftsatz vom 15.5.2006 angekündigten Beweisantrag quasi in Kurzform wiederholt. In dem Schriftsatz vom 15.5.2006 hatte der Kläger unter Hinweis auf die vorgelegte ärztliche Stellungnahme von Dr. M. vom 11.5.2006 beantragt, zur Abklärung der Schwindelerscheinungen und Gleichgewichtsstörungen ein Gutachten bei der Universität Würzburg, Abteilung Neurootologie, einzuholen.

Das LSG ist diesem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt und hat eine weitere Beweiserhebung ohne objektiv ausreichenden Grund unterlassen (vgl hierzu Meyer-Ladewig in ders/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 160 RdNr 18). Das Gericht muss von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen (BSGE 30, 192, 205 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO S Aa 25R). Von einer Beweisaufnahme darf es nur dann absehen bzw einen Beweisantrag nur dann ablehnen, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn sie also als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache bzw ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 103 RdNr 8 mwN).

Das LSG durfte den Beweisantrag nicht mit der Begründung übergehen, der Sachverhalt sei angesichts der umfangreichen neurologischen Begutachtung durch Prof. Dr. W. im Januar 2003 geklärt. Eine Stammhirnschädigung sei aus neurologischer Sicht ausgeschlossen und könne somit durch ein weiteres neurootologisches Sachverständigengutachten nicht nachgewiesen werden. Das LSG hätte sich vielmehr gedrängt fühlen müssen aufzuklären, ob eine Verschlechterung im Gesundheitszustand des Klägers hinsichtlich seiner Schwindelzustände und Gleichgewichtsstörungen eingetreten ist. Denn mit dem vom Kläger vorgelegten Bericht von Dr. M. vom 11.5.2006 wird eine Verschlechterung im Gesundheitszustand des Klägers beschrieben, deren Abklärung - unabhängig von der Ursache der Erkrankung - nicht offenbleiben durfte. Dr. M. verweist in seinem Bericht auf massive Gleichgewichtsstörungen, während der Sachverständige in seinem im Januar 2003 erstellten Gutachten derartige Störungen nicht festgestellt hatte. Zwar zwingt allein der Umstand, dass die Erstellung eines Sachverständigengutachtens schon länger zurückliegt, nicht bereits zu einer erneuten Beweiserhebung, wenn neuere Untersuchungsergebnisse vorgelegt werden. Ebenso wenig vermögen einander widersprechende Bewertungen des gesundheitlichen Leistungsvermögens eines Rentenantragstellers durch verschiedene Ärzte das Gericht in jedem Fall zu weiteren Begutachtungen verpflichten (vgl BSG vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die Entscheidung der Tatsacheninstanz ist aber dann vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht mehr gedeckt, wenn deren Tatsachengrundlage erschüttert wird - etwa indem eine erhebliche Befundverschlechterung oder eine bisher nicht berücksichtigte gravierende Gesundheitsstörung bescheinigt wird. Denn solche neuen Befunde können von einem mehrere Jahre zuvor erstellten Gutachten nicht als mitbewertet angesehen werden. Es liegen auch keine Anzeichen dafür vor, dass der von Dr. M. vorgelegte Bericht aus bloßer Gefälligkeit gegenüber dem Kläger abgegeben worden ist. Der behandelnde Arzt hat darauf hingewiesen, dass sich die Verschlechterung auf Grund einer aktuellen neurootologischen Untersuchung ergeben habe. Allein dieser Umstand hätte das LSG veranlassen müssen, dem näher nachzugehen. Dagegen hat sich das LSG mit diesem Bericht nicht auseinandergesetzt und ihn noch nicht einmal in seinem Urteil erwähnt. Auch die zuletzt von Prof. Dr. W. abgegebene Stellungnahme vom 15.5.2006 zur Fähigkeit des Klägers, als Produktionshelfer tätig sein zu können, hat den Bericht von Dr. M. vom 11.5.2006 nicht berücksichtigen können, weil dieser dem Sachverständigen nicht vorgelegt worden war.

Das LSG hätte sich vorliegend umso mehr gehalten sehen müssen, das beantragte neurootologische Gutachten einzuholen, weil mit dem neuerlichen Befund von Dr. M. die Zweifel an der vollständigen Erfassung des Gesundheitszustands des Klägers durch Prof. Dr. W. bestärkt wurden. Ungeachtet des umstrittenen Kausalzusammenhangs der vom Kläger geklagten Beschwerden mit seinem Arbeitsunfall sind diese Beschwerden doch von einer Vielzahl von Ärzten vor und vor allem auch in der Zeit nach der Untersuchung durch Prof. Dr. W. bestätigt worden. So ist ua auffällig, dass die für die Berufsgenossenschaft tätige Gutachterin Prof. Dr. E. in ihrem Gutachten vom 27.4.2001 mit Rücksicht auf Koordinations- und Sehstörungen sowie Muskelzittern ungeachtet der Kausalitätsfrage eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 vH annimmt und diese Einschätzung auch in ihrem zweiten Gutachten vom 26.5.2004 bestätigt. Außerdem haben Prof. Dr. F. in dem Gutachten vom 15.8.2001, der Arzt F. im Gutachten vom 27.10.2004, Dr. Fi. in seiner Stellungnahme vom 12.9.2002 und die behandelnde Ärztin Dr. St. in ihrem Bericht vom 31.3.2006 über Schwindelerscheinungen und Leistungsschwäche beim Kläger berichtet. Zu all diesen medizinischen Stellungnahmen und Berichten ist ausschließlich Prof. Dr. W. immer wieder gehört worden, der seine gegenteilige Ansicht, eine Minderung der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit sei nicht objektivierbar, allein auf die von ihm selbst durchgeführte einmalige Untersuchung gestützt hat. Als einzige Bestätigung für die Richtigkeit der Beurteilung durch Prof. Dr. W. vermochte sich das LSG demzufolge auch nur auf den Entlassungsbericht vom 22.11.1996 und den Befundbericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Fr. vom 28.11.1995 stützen. Diese letzteren Berichte sind indes ungeeignet, die spätere Entwicklung im Krankheitsverlauf des Klägers im Sinne der Feststellungen von Prof. Dr. W. zu untermauern.

Dabei geht es - wie schon erwähnt - nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie um die unterschiedliche Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers durch den Sachverständigen Prof. Dr. W. einerseits und durch Prof. Dr. E., den Arzt F. und den Sachverständigen Prof. Dr. F. andererseits. Die voneinander abweichenden Beurteilungen beruhen vielmehr auf völlig unterschiedlichen Diagnosen und Befunden, sodass die Frage, ob der Kläger tatsächlich an den behaupteten Schwindelerscheinungen und Gleichgewichtsstörungen leidet, trotz des Gutachtens von Prof. Dr. W. nicht als endgültig geklärt erscheint. Schließlich hat nicht nur Dr. M. in seinem Bericht vom 11.5.2006 auf bestehende Gleichgewichtsstörungen und Schwindelerscheinungen hingewiesen. Zwar hat Prof. Dr. W. als Neurologe diese Gesundheitsstörungen nicht objektivieren können, doch könnte im Hinblick darauf, dass gerade von HNO-ärztlicher Seite (Dr. K., Dr. M.) und auch aus arbeitsmedizinischer Sicht (Prof. Dr. E.) das Vorhandensein dieser Gesundheitsstörungen bescheinigt wird, ein neurootologisches Gutachten geeignet sein, zu einer endgültigen Klärung beizutragen. Insoweit sind - wie der Kläger zu Recht rügt - nicht alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Der Beweisantrag des Klägers zielt nicht nur auf die Wiederholung einer rein neurologischen Untersuchung, wie sie von Prof. Dr. W. durchgeführt wurde, sondern weist auch auf die Möglichkeit der Objektivierung der behaupteten Gesundheitsstörungen von Seiten eines spezielleren, nämlich des neurootologischen Fachgebiets hin. Das vom Kläger beantragte neurootologische Gutachten kann somit zur endgültigen Klärung des Krankheitsbildes beitragen und zusammen mit den bereits eingeholten Gutachten eine besser geeignete Grundlage für eine zuverlässige Einschätzung des Leistungsvermögens abgeben.

Auf dem oben aufgezeigten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach Einholung des beantragten Gutachtens zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre, weil bei einer Bestätigung der vom Kläger geklagten Beschwerden die Tätigkeit eines Produktionshelfers nicht mehr in Betracht kommt. Da das LSG offengelassen hat, ob eine Summierung von Leistungseinschränkungen vorliegt und deshalb eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen ist, wäre es bei der Annahme einer Summierung unter Umständen gehalten, eine andere Verweisungstätigkeit zu benennen.

Die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG liegen somit vor. Der Senat hebt gemäß § 160a Abs 5 SGG in Ausübung seines Ermessens die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück. Da es im Rechtsstreit hauptsächlich um Tatsachenfeststellungen geht, sprechen prozessökonomische Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache, zumal ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren zu keinem anderen Ergebnis führen könnte.

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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