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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 06.02.2003
Aktenzeichen: B 7 AL 102/01 R
Rechtsgebiete: SGB X, AFG, GG, SGG


Vorschriften:

SGB X § 24
SGB X § 20
AFG § 128 Abs 1 Satz 2 Alternative 2
AFG § 128
GG Art 100 Abs 1
SGG § 103
SGG § 128 Abs 1
SGG § 128 Abs 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 7 AL 102/01 R

Der 7. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 6. Februar 2003 durch die Vizepräsidentin Dr. Wolff, die Richter Dr. Steinwedel und Eicher sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Dauber und Lasar

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. August 2001 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Das klagende Unternehmen wendet sich gegen die Forderung der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA) auf Erstattung von Arbeitslosengeld (Alg) und der darauf entfallenden Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung für den Zeitraum vom 8. Juli 1996 bis 8. Oktober 1997 in Höhe von 67.666,42 DM.

Der am 8. Juli 1938 geborene H. E. (E.) war seit 1952 bei Rechtsvorgängern der Klägerin beschäftigt. Die Unterlagen der Betriebskrankenkasse (BKK) weisen für die Jahre 1993 und 1994 insgesamt 77 Tage an "Arbeitsunfähigkeitsfällen" des E. auf: vom 26. bis 30. Juli 1993 (5 Tage) wegen einer akuten Gastritis, vom 14. September bis 17. Oktober 1993 (34 Tage) wegen einer vierwöchigen Kur mit anschließender Schonung (Diagnose: funktionelles und degeneratives LWS-Syndrom) sowie vom 19. Januar bis 25. Februar 1994 (38 Tage; davon stationär bis 31. Januar 1994) wegen der operativen Entfernung eines Speiseröhren-Divertikels. Am 24. Mai 1994 schloss E. mit der Klägerin einen Auflösungsvertrag, wonach das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 1994 gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 97.112,-- DM im gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst wurde. E. meldete sich am 30. November 1994 arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alg. In einer von ihm unterzeichneten Stellungnahme vom 20. Dezember 1994 gab er an, den ihm angebotenen Vorruhestand auf Grund seines Gesundheitszustandes angenommen zu haben; diese Angabe bezeichnete er jedoch in einer weiteren Erklärung vom 1. Februar 1995 als "versehentlich", die zuletzt ausgeübte Tätigkeit sei keinesfalls zu schwer gewesen. Daraufhin verzichtete das Arbeitsamt (ArbA) auf eine ärztliche Untersuchung und bewilligte mit Bescheiden vom 3. Februar 1995 Alg ab 6. Mai 1995 unter Annahme des Eintritts einer Sperrzeit vom 1. Januar bis 25. März 1995 sowie eines weiteren Ruhens des Anspruchs auf Alg wegen Erhalts einer Abfindung bis zum 5. Mai 1995; als Anspruchsdauer wurden 832 Tage, gemindert um 72 Tage, angesetzt, die Höhe betrug zunächst 99,40 DM täglich (Leistungsgruppe C; Kindermerkmal 0). E. bezog in der Folgezeit Alg bis zum 8. Oktober 1997 und seit dem 1. August 1998 eine Altersrente.

Die Beklagte unterrichtete die Klägerin erstmals mit Schreiben vom 24. August 1995 über eine mögliche Erstattungspflicht gemäß § 128 Arbeitsförderungsgesetz (AFG); die Klägerin beschrieb den Arbeitsplatz des E. und machte geltend, bei diesem seien in der letzten Zeit erhebliche Leistungseinschränkungen deutlich geworden. Mit Bescheid vom 19. Oktober 1995 stellte die Beklagte fest, die im Rahmen der Anhörung vorgetragenen Umstände rechtfertigten auch nach einem arbeitsamtsärztlichen Gutachten nicht den Nichteintritt der Erstattungspflicht. Das anschließende Widerspruchsverfahren ließen die Beteiligten zunächst ruhen. Mit Bescheid vom 22. Oktober 1996 (sog Grundlagenbescheid) entschied die Beklagte, dass die Klägerin verpflichtet sei, das dem E. ab 8. Juli 1996 gezahlte Alg einschließlich der hierauf entfallenden Beiträge zur gesetzlichen Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung längstens für 624 Tage zu erstatten. Mit weiteren Bescheiden vom 10. Februar 1997 (Bescheid 1), 7. Mai 1997 (Bescheide 2 und 3), 1. September 1997 (Bescheid 4) und 12. November 1997 (Bescheid 5) setzte die Beklagte für - unterschiedlich lange - Zeiträume zwischen dem 8. Juli 1996 und dem 8. Oktober 1997 Erstattungsbeträge in Höhe von insgesamt 67.666,42 DM fest. Nachdem ihre vorherigen Schreiben an E. (vom 17. April und vom 24. Oktober 1997) unbeantwortet geblieben waren, übersandte die Beklagte E. mit erneutem Schreiben vom 2. September 1998 Fragebögen zu den Gründen der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses und zu Veränderungen in seinem Gesundheitszustand betreffend den Zeitraum vom 1. Januar 1995 bis 8. Oktober 1997. E. antwortete unter dem 3. September 1998 - durch Ankreuzen entsprechender Formulierungen- ua, er habe in den letzten beiden Beschäftigungsjahren keine krankheitsbedingten Fehlzeiten gehabt, gesundheitliche Gründe seien für die Aufgabe der Beschäftigung nicht maßgebend gewesen; nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses sei er weder arbeitsunfähig erkrankt gewesen noch habe er Sozialleistungen wie Krankengeld oder Rente beantragt. Im folgenden Anhörungsverfahren erhielt die Klägerin auf ihre Anforderung vom 7. April 1999 Kopien der an E. gerichteten Schreiben der Beklagten sowie von dessen Antwort vom 3. September 1998; die Klägerin äußerte sich abschließend am 6. Mai 1999. Durch Bescheid vom 18. Juni 1999 wies die Beklagte den Widerspruch gegen "die Bescheide vom 19.10.1995, 22.10.1996, 10.02.1997, 07.05.1997" wegen Erstattung in Sachen E. "für die Zeit vom 08.07.1996 bis 08.10.1997" als unbegründet zurück.

Klage und Berufung blieben erfolglos (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Stuttgart vom 25. Februar 2000, Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Baden-Württemberg vom 24. August 2001). Das LSG hat eine schriftliche Zeugenaussage des E. vom 10. Oktober 2000 und - nachdem dieser die ihn behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbunden hatte - den Entlassungsbericht über die stationäre Behandlung im Januar 1994 beigezogen sowie Auszüge der BKK zu E. betreffenden "Krankenhausfällen", "Arbeitsunfähigkeitsfällen" und "sonstigen Leistungen". Zur Begründung seines im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteils führt das LSG im Wesentlichen aus:

Ein Anspruch auf Aufhebung des Grundlagenbescheides vom 22. Oktober "1995" (richtig 1996) bestehe ebenso wenig wie hinsichtlich des vorangegangenen "Teilbescheides" vom 19. Oktober 1995, da beide durch die nachfolgenden Entscheidungen ersetzt worden seien. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten seien im Übrigen formell und materiell rechtmäßig. Die erforderliche ordnungsgemäße Anhörung der Klägerin sei jedenfalls im Widerspruchsverfahren nachgeholt worden. Die Voraussetzungen für die Erstattungspflicht der Klägerin nach § 128 AFG lägen vor; diese Vorschrift sei auch verfassungsmäßig. Die Erstattungspflicht entfalle nicht auf Grund des § 128 Abs 1 Satz 2 AFG. E. habe im Erstattungszeitraum keinen Anspruch auf eine anderweitige Sozialleistung auf Grund gesundheitlicher Einschränkungen gehabt. Wie E. in seiner schriftlichen Antwort auf die vom ArbA gestellten Fragen angegeben habe, sei während des Erstattungszeitraums keine Änderung in seinem Gesundheitszustand im Vergleich zur Zeit der Antragstellung eingetreten. Dies bedeute, dass E. nicht erkrankt und demnach auch nicht arbeitsunfähig gewesen sei. Dies entspreche auch den sonst vorliegenden Erkenntnissen. Insbesondere habe die schriftliche Aussage des E. als Zeuge gegenüber dem Senat bestätigt, dass er im maßgeblichen Zeitraum nicht erkrankt und auch nicht arbeitsunfähig geschrieben gewesen sei, ebenso wenig auch im Krankenhaus oder in der Kur. Diese Angaben seien durch die Auskunft der BKK bestätigt worden, aus denen sich ergebe, dass E. seit 1996 nur noch Leistungen zur ambulanten Vorsorgeuntersuchung, Bäder, eine Sehhilfe und Zahnersatz erhalten habe. Arbeitsunfähigkeiten seien nicht mehr aktenkundig geworden. Die früheren Arbeitsunfähigkeitszeiten während der Beschäftigungsjahre 1993 und 1994 seien durch die Auskunft der Kasse und den beigezogenen Arztbericht hinreichend erläutert und lieferten keine Anhaltspunkte dafür, dass E. 1996 und 1997 wiederum hätte arbeitsunfähig erkrankt sein müssen. Die Erkrankung, die zum stationären Aufenthalt geführt habe, sei durch diesen behoben worden. Die im Jahr 1993 durchgeführte Kur habe sich erkennbar nicht auf schwerwiegende Erkrankungen bezogen, was sich schon daraus ergebe, dass eine Kurwiederholung nicht erforderlich geworden sei. Gleiches gelte für die Arbeitsunfähigkeit wegen akuter Gastritis und zur Abklärung des Zwölffingerdarmgeschwürs im Jahr 1993, zumal anzunehmen sei, dass dies durch die stationäre Behandlung im Januar 1994 erledigt worden sei. Damit komme es nicht mehr darauf an, ob sich E. mit Rücksicht auf seine Gesundheit entschlossen habe, vom Angebot des Arbeitgebers Gebrauch zu machen, wie er dies noch nach der Antragstellung auf Alg angegeben gehabt habe, oder ob sein späterer Widerruf gegenüber dem Arbeitsvermittler zutreffe. Denn es leuchte auch ein, dass die erfolgte Rücksichtnahme auf die Gesundheit durch Abschied von der Arbeit durchaus den gewünschten positiven Erfolg habe bringen können, da man im Ruhestand besser auf Beschwerden im Magen-/Darm-Bereich und im orthopädischen Bereich habe eingehen bzw ihnen begegnen können als im Berufsleben. Dies gelte verstärkt dann, wenn der Arbeitnehmer, wie dies die Klägerin noch im Verwaltungsverfahren angedeutet habe, auf Grund des Alters durch die beruflichen Anforderungen etwas überfordert gewesen sei. Nach alldem bestehe auch kein Anlass zu der Annahme, dass E. während des Erstattungszeitraums Anspruch auf Sozialleistungen gehabt hätte, die einer Erstattung (teilweise) entgegenständen. Auch insoweit stimmten die Angaben des E. mit den vorliegenden Erkenntnissen in plausibler Weise überein. Es habe kein Anlass zu weiteren Ermittlungen bestanden. Der Senat folge der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach die amtliche Sachaufklärungspflicht nicht erfordere, nach Tatsachen zu forschen, für deren Bestehen die Umstände des Einzelfalles keine Anhaltspunkte böten. Allgemeine statistische Angaben als Erfahrungssätze über Einschränkungen der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit älterer Menschen seien für die Sachaufklärung im Einzelfall unergiebig, vor allem dann, wenn, wie hier, der Sachverhalt konkret aufgeklärt worden sei, wodurch auch dem hilfsweise gestellten Beweisantrag der Klägerin nachgekommen worden sei. Letztlich nicht erheblich sei, ob die Beklagte selbst den Sachverhalt von Amts wegen vollständig und richtig aufgeklärt habe. Auch eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) führe für sich allein nicht zur Aufhebung der angefochtenen Bescheide. Die Befreiungstatbestände des § 128 Abs 1 Satz 2 Nr 1 bis 7 AFG seien im vorliegenden Fall nicht zu prüfen. Die einzelnen Erstattungsbeträge habe die Beklagte in den maßgebenden Bescheiden zutreffend berechnet.

Die Klägerin rügt die Verletzung von materiellem Recht wie von Prozessrecht. Das angefochtene Urteil beruhe auf einer fehlerhaften Anwendung von § 24 und § 20 SGB X iVm § 128 Abs 1 Satz 2 Alternative 2 AFG. Darüber hinaus hätten die Tatsacheninstanzen nicht beachtet, dass § 128 AFG idF vom 18. Dezember 1992 erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliege und deshalb der Rechtsstreit gemäß Art 100 Abs 1 Grundgesetz auszusetzen sei. Ferner sei das Berufungsurteil verfahrensfehlerhaft; das LSG habe gegen § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie § 128 Abs 1 und Abs 2 SGG verstoßen; darüber hinaus habe das LSG nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, da das erstinstanzliche Verfahren durch einen Gerichtsbescheid abgeschlossen worden sei. Zu den gerügten Verfahrensmängeln trägt die Klägerin ua vor, das LSG habe sich gedrängt sehen müssen, den E. persönlich zu befragen. Das LSG habe sich in den Urteilsgründen mehrfach auf die "plausiblen" Angaben des E. verlassen. Bei seiner schriftlichen Befragung habe E. jedoch unter ausdrücklichem Widerspruch zu den Angaben der Klägerin seine Angabe gegenüber dem ArbA aufrechterhalten, in den letzten beiden Beschäftigungsjahren keine Fehlzeiten gehabt zu haben. Hierzu ständen die vom LSG eingeholten Auskünfte der BKK in Widerspruch. Widersprüchlich seien auch die Angaben des E. gewesen, soweit dieser ursprünglich gegenüber dem ArbA angegeben gehabt habe, den Auflösungsvertrag mit Rücksicht auf seine Gesundheit geschlossen zu haben, diese Angabe jedoch später widerrufen habe. Nach alledem hätten zahlreiche konkrete Anhaltspunkte vorgelegen, welche die Vorinstanzen zu weiteren Ermittlungen hätten veranlassen müssen. Von "Ermittlungen ins Blaue" könne hier nicht die Rede sein. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschrift des § 103 SGG eine andere Entscheidung in der Sache hätte ergehen können.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. August 2001 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. Februar 2000 sowie die Bescheide vom 10. Februar 1997, 7. Mai 1997, 1. September 1997 und 12. November 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 1999 aufzuheben.

Die Beklagte verteidigt das Berufungsurteil und beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

II

Die Revision ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Zu Recht rügt die Klägerin, dass es das LSG unter Verletzung von Verfahrensrecht unterlassen hat, notwendige weitere Feststellungen zum Gesundheitszustand des früheren Arbeitnehmers der Klägerin, E., im Erstattungszeitraum zu treffen.

1. Gegenstand des Rechtsstreits sind die Bescheide der Beklagten vom 10. Februar 1997 (Bescheid 1), 7. Mai 1997 (Bescheide 2 und 3), 1. September 1997 (Bescheid 4) und 12. November 1997 (Bescheid 5), sämtlich in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 1999. Letzterer erwähnt zwar die Bescheide 4 und 5 in seinem Entscheidungssatz nicht, weist jedoch als Erstattungszeitraum, über den entschieden wurde, den - nur mit Hilfe auch der Bescheide 4 und 5 abzudeckenden - Gesamtzeitraum vom 8. Juli 1996 bis 8. Oktober 1997 aus. Die Bescheide vom 19. Oktober 1995 und vom 22. Oktober 1996, die das LSG als erledigt angesehen hat, ficht die Klägerin ausweislich ihres Revisionsantrags nicht mehr an, sodass das Berufungsurteil insoweit rechtskräftig geworden ist, als es die Berufung gegen das SG-Urteil bezogen auf diese Bescheide zurückgewiesen hat.

Soweit die Klägerin meint, das LSG habe im vorliegenden Fall nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, da bereits das SG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 Abs 1 SGG entschieden hatte, liegt in dieser Verfahrensweise des LSG kein Verfahrensfehler. Hat das SG durch Gerichtsbescheid entschieden, verbietet § 153 Abs 4 Satz 1 SGG lediglich die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter: § 12 Abs 1 Satz 2 SGG); nicht verfahrensfehlerhaft ist es jedoch, über eine Berufung gegen einen Gerichtsbescheid durch Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil zu entscheiden, wenn sich die Beteiligten übereinstimmend damit einverstanden erklären (§ 124 Abs 2 SGG) - wie hier im Berufungsverfahren geschehen. Auch die Garantie mindestens einer öffentlichen Anhörung im Laufe eines mehrinstanzlichen Verfahrens in Art 6 Abs 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II 685, 953) schützt lediglich gegen Vorenthaltung durch das Gericht, nicht jedoch gegen den Verzicht auf mündliche Verhandlung durch die Beteiligten (BSG vom 21. Juni 1994 - 9 BV 38/94, nicht veröffentlicht; Pawlak in Hennig, SGG, § 105 RdNr 77, Stand 2002).

2. Rechtsgrundlage des Erstattungsanspruchs ist § 128 AFG (idF des Gesetzes zur Änderung der Förderungsvoraussetzungen im AFG und in anderen Gesetzen vom 18. Dezember 1992, BGBl I 2044), der gemäß § 242x Abs 6 und Abs 3 Satz 1 Nr 1 AFG (idF des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes vom 24. März 1997, BGBl I 594) hier anzuwenden ist, weil E. innerhalb der Rahmenfrist (hier: 1. Januar 1992 bis 31. Dezember 1994) mindestens 360 Kalendertage vor dem 1. April 1997 in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gestanden hat.

Nach § 128 Abs 1 Satz 1 AFG erstattet der Arbeitgeber, bei dem der Arbeitslose innerhalb der letzten vier Jahre vor dem Tag der Arbeitslosigkeit, durch den nach § 104 Abs 2 AFG die Rahmenfrist bestimmt wird, mindestens 720 Kalendertage in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gestanden hat, der BA vierteljährlich das Alg für die Zeit nach Vollendung des 58. Lebensjahres, längstens für 624 Tage. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, denn der am 18. Juli 1938 geborene E. war seit 1952 bis 31. Dezember 1994 bei der Klägerin bzw deren Rechtsvorgänger beitragspflichtig beschäftigt. Dabei mag das LSG auch überprüfen, ob es sich jedenfalls im Vier-Jahres-Zeitraum gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 AFG um denselben Arbeitgeber iS dieser Vorschrift (ggf auch gemäß § 128 Abs 5 AFG) gehandelt hat. Bedenken dagegen wurden allerdings von der Klägerin nicht erhoben und sind bislang auch nicht ersichtlich. Das Arbeitsverhältnis wurde auch nicht vor Vollendung des 56. Lebensjahres des Arbeitslosen beendet (§ 128 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 Alternative 1 AFG).

3. Die Feststellungen des LSG zu der Frage, ob die Erstattungspflicht der Klägerin für ihren Arbeitnehmer E. deshalb nicht eingetreten ist, weil die Voraussetzungen des § 128 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 Alternative 2 AFG erfüllt sind, sind jedoch verfahrensfehlerhaft getroffen. Nach der genannten Vorschrift tritt die Erstattung für die Zeit nicht ein, für die der Arbeitslose auch die Voraussetzungen für eine der in § 118 Abs 1 Satz 1 Nr 2 bis 4 AFG genannten Leistungen oder für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) erfüllt. Dies bedeutet, dass vor allem für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit oder BU (auch soweit die entsprechenden Leistungen - Krankengeld bzw BU-Rente - nicht bezogen wurden, jedoch die Leistungsvoraussetzungen erfüllt waren) kein Erstattungsanspruch der BA besteht. Eine derartige Fallkonstellation hat das LSG verneint und sich zur Begründung vor allem auf die schriftlichen Angaben des E. gegenüber dem ArbA vom 3. September 1998 sowie seine schriftliche Zeugenaussage gegenüber dem LSG vom 10. Oktober 2001 bezogen. Beide Äußerungen genügen jedoch - auch in ihrer Zusammenschau - nicht, um verfahrensfehlerfrei die Überzeugung zu vermitteln, dass der Ausnahmetatbestand des § 128 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 Alternative 2 AFG nicht vorliege. Vielmehr hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, in dieser Hinsicht weitere Ermittlungen anzustellen, um seiner Amtsermittlungspflicht (§ 103 Satz 1 SGG) zu genügen. Da es dies nicht getan hat, hat es die genannte Vorschrift verletzt.

Der vom 11. Senat auch für das Verfahren bei § 128 AFG betonte Grundsatz, die amtliche Sachaufklärungspflicht erfordere nicht, nach Tatsachen zu forschen, für deren Bestehen die Umstände des Einzelfalls keine Anhaltspunkte böten (BSG vom 17. Dezember 1997, BSGE 81, 259, 262 f = SozR 3-4100 § 128 Nr 5 mwN), hilft hier nicht weiter. Denn die schriftlichen Angaben des E., auf die das LSG im Wesentlichen seine Entscheidung stützt, widersprechen anderweitig festgestellten Tatsachen zu seinem Gesundheitszustand bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses, sodass diese Diskrepanz hätte näher aufgeklärt werden müssen. Damit werden die übrigen Angaben des E., auf die sich das LSG stützt, entwertet. E. hat sowohl am 3. September 1998 gegenüber dem ArbA verneint, in den letzten zwei Jahren seines Beschäftigungsverhältnisses krankheitsbedingte Fehlzeiten gehabt zu haben, als auch in seiner schriftlichen Zeugenaussage vom 10. Oktober 2001 folgende Frage des LSG mit "ja" beantwortet: "Sie haben bereits dem AA Nürnberg hierzu einen Fragebogen ausgefüllt und dort angegeben, sie hätten in den letzten zwei Jahren der Beschäftigung keine Fehlzeiten gehabt. Dies entspricht nicht den Angaben der Firma M. . Halten Sie ihre Angaben aufrecht?". Diese Äußerungen stehen im Gegensatz zu den Auskünften der BKK über die oben (unter I) ersichtlichen Arbeitsunfähigkeitsfälle. Dieser Widersprüchlichkeit hätte das LSG nachgehen müssen.

Denn die auf Anforderung des LSG erteilten Auskünfte der BKK anhand von Computerausdrucken zu "Krankenhausfällen", "Arbeitsunfähigkeitsfällen" und "sonstigen Leistungen" können die Angaben des E. nicht bestätigen, er sei im Erstattungszeitraum zwischen dem 8. Juli 1996 und dem 8. Oktober 1997 weder berufsunfähig noch arbeitsunfähig gewesen; insoweit kommt es nicht darauf an, ob eine Berufsunfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger festgestellt oder einer Arbeitsunfähigkeit ärztlich bescheinigt war. Üblicherweise verfügen die Krankenkassen, denen die Abrechnungsgrundlagen fall- und gerade nicht versichertenbezogen übermittelt werden (§ 295 Abs 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch <SGB V> idF des Gesetzes vom 13. Juni 1994, BGBl I 1229), nicht im Hinblick auf einzelne Versicherte über Daten zu den von den Vertragsärzten durchgeführten Behandlungen und deren Diagnosen (zur Datensituation s Stelzer ua, SozVers 2002, 253, 259).

Es ist nicht Aufgabe der Revisionsinstanz, den Tatsachengerichten vorzuschreiben, welche weiteren Ermittlungen angebracht wären. So wird das LSG zu entscheiden haben, ob E. (nochmals) als Zeuge zu hören ist oder ob Zeugenaussagen bzw Befundberichte der behandelnden Ärzte, die E. mit einer Erklärung gegenüber dem LSG pauschal von der Schweigepflicht entbunden hat, beizuziehen sind.

Da nicht erkennbar ist, ob es auf die nachstehende Frage ankommen wird, kann der Senat im vorliegenden Zusammenhang offen lassen, ob die Voraussetzungen des § 128 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 Alternative 2 iVm § 118 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AFG (Nichteintreten der Erstattungspflicht bei Erfüllung der Voraussetzungen für Krankengeld) bereits dann erfüllt sind, wenn der Arbeitnehmer während des Erstattungszeitraums für kürzere Zeiträume, uU sogar nur für einen Tag, arbeitsunfähig erkrankt oder erst dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit die Sechs-Wochen-Frist des § 105b Abs 1 Satz 1 AFG überschreitet. Bei wörtlicher Auslegung des § 128 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 Alternative 2 AFG sind die Voraussetzungen für die "Leistung" Krankengeld in den ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit während der Arbeitslosigkeit nicht gegeben, weil nach § 49 Abs 1 Nr 3 bzw Nr 3a SGB V (Nr 3 in der bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Fassung, die § 49 SGB V durch das Gesetz vom 15. Dezember 1995, BGBl I 1809, erhalten hatte; Nr 3a in der ab 1. Januar 1997 geltenden Fassung, die diese Vorschrift durch das Gesetz vom 7. August 1996, BGBl I 1254, erhalten hat) der Anspruch auf Krankengeld ruht, (bis 31. Dezember 1996: soweit und) solange Versicherte Alg beziehen. Ob sich die Erstattungspflicht des Arbeitgebers auch auf die Zeiten eines Anspruchs auf Leistungsfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit durch das ArbA erstreckt, also auch auf Kurz-Arbeitsunfähigkeitszeiten, wird unterschiedlich beurteilt (vgl zB einerseits Gagel in Gagel, SGB III, § 147a RdNr 92 f, Stand: 2001; ebenso die BA in ihrem Sammelerlass Alg/Alhi DA zu § 147a SGB III, Nr 4.12 Abs 3 = RdNr 120, Stand: 1999; andererseits Pawlak in Hennig, SGB III, § 147a RdNr 173 f, Stand: 2002).

4. Da der Rechtsstreit ohnehin an das LSG zurückzuverweisen ist, bedarf es keiner ausführlichen Auseinandersetzung mit den weiteren (materiell-rechtlichen) Rügen der Klägerin. Auf Folgendes sei jedoch hingewiesen:

a) Einen Anhörungsfehler, der gemäß § 24 Abs 1 iVm § 42 Satz 2 SGB X zur Aufhebung der angefochtenen Bescheide führt, vermag der Senat nicht zu erkennen. Denn eine ordnungsgemäße Anhörung ist im vorliegenden Fall jedenfalls im Widerspruchsverfahren nachgeholt worden (§ 41 Abs 1 Nr 3 SGB X). Zu diesem Zeitpunkt war der Klägerin bereits durch die Bescheide 1) bis 5) - die gemäß § 86 Abs 1 SGG Gegenstand des Vorverfahrens hinsichtlich des Bescheides vom 19. Oktober 1995 geworden waren - im Einzelnen bekannt, welche Erstattungsforderungen die Beklagte ihr gegenüber geltend macht und auf welchen Sachverhalt sie sich insoweit stützt. Auf ihr Ersuchen hin war der Klägerin weiterhin die bisherige Korrespondenz der Beklagten mit E. zur Verfügung gestellt worden. Damit aber waren eventuelle vorherige Anhörungsmängel geheilt (vgl zur Heilung im Widerspruchsverfahren allgemein Wiesner in: von Wulffen, SGB X, 4. Aufl 2001, § 41 RdNr 7).

Zweifel bleiben allenfalls insofern, als die Widerspruchsbehörde die Äußerungen des Betroffenen im Vorverfahren zur Kenntnis nehmen und erwägen muss (so die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, zB BVerwG vom 17. August 1982, BVerwGE 66, 111, 114). Dies war aber der Fall, weist doch der Widerspruchsbescheid (auf seiner Seite 2) darauf hin, dass die Widerspruchsführerin im Rahmen der Anhörung unter Hinweis auf 57 Arbeitsunfähigkeitstage in den letzten beiden Jahren des Arbeitsverhältnisses ("lediglich") vortrage, das ArbA habe bei seiner Tatbestandsfeststellung den Amtsermittlungsgrundsatz verletzt, und führt hierzu gleich im Anschluss (Seite 3) aus, dass keine konkreten Anhaltspunkte für frühere Ansprüche auf alternative Sozialleistungen bzw Rente wegen Berufsunfähigkeit bestanden hätten. Einer weiteren ausdrücklichen Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Klägerin bedurfte es im Widerspruchsbescheid nicht.

Mit der Angabe der "57" Tage von Arbeitsunfähigkeit bezieht sich die Beklagte ersichtlich auf das vorletzte Schreiben der Klägerin im Widerspruchsverfahren (vom 7. April 1999), in der diese eben jene Zahl genannt hatte; in ihrem darauf folgenden, letzten Schreiben im Widerspruchsverfahren (vom 6. Mai 1999) ging die Klägerin hierauf nicht ein. Damit erledigt sich aber auch der Vortrag der Revision, die Beklagte habe aus der wiederholten Mitteilung von 62 Arbeitsunfähigkeitstagen lediglich 57 Tage gemacht.

b) Die von der Beklagten gerügte Verletzung des § 20 SGB X im Verwaltungsverfahren ist im sozialgerichtlichen Verfahren unerheblich (vgl Senatsurteil vom 7. Februar 2002, SozR 3-4100 § 128 Nr 15 S 135).

c) Ebenso wenig sieht sich der Senat in der Lage, den von der Klägerin geäußerten Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 128 AFG der im vorliegenden Fall anzuwendenden Fassung zu folgen. Auch insoweit verweist er auf sein Urteil vom 7. Februar 2002 (SozR 3-4100 § 128 Nr 15 S 142 f).

d) Auf Grund der tatsächlichen Feststellungen des LSG wäre es dem Senat nicht möglich gewesen zu überprüfen, ob die Beklagte die Höhe der Erstattungsforderung richtig festgesetzt hat. Dies gilt auch hinsichtlich der mit der Erstattungsforderung geltend gemachten Beiträge zur Krankenversicherung, Rentenversicherung und Pflegeversicherung, die auf das dem E. gezahlte Alg entfallen. Für den Fall, dass sich auch nach Durchführung weiterer Ermittlungen die angefochtenen Bescheide der Beklagten dem Grunde nach als rechtmäßig erweisen sollten, wird das LSG daher im Einzelnen zu ermitteln haben, inwieweit das gezahlte Alg und der geforderte Erstattungsbetrag von der Beklagten richtig berechnet worden ist. Hierbei kann hinsichtlich der Beitragsberechnung auf die ausführliche Darstellung des Senats in seinem Urteil vom 7. Februar 2002 (SozR 3-4100 § 128 Nr 15 S 143 ff) verwiesen werden.

5. Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits unter Berücksichtigung des Ausgangs des Revisionsverfahrens zu befinden haben. Hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 197a SGG idF des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 7. August 2001 (BGBl I 2144) ist auf das Urteil des BSG vom 30. Januar 2002 (SozR 3-2500 § 116 Nr 24 S 115 ff) hinzuweisen.

Ende der Entscheidung

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