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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 15.08.2002
Aktenzeichen: B 7 AL 96/01 R
Rechtsgebiete: SGG


Vorschriften:

SGG § 62
SGG § 106
SGG § 128
SGG § 103
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

Az: B 7 AL 96/01 R

in dem Rechtsstreit

Der 7. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 15. August 2002 durch die Vizepräsidentin Dr. Wolff, die Richter Eicher und Dr. Spellbrink sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Brandenburg und Lohre

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. Dezember 2000 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Im Streit ist die Gewährung von Anschluss-Arbeitslosenhilfe (Anschluss-Alhi) ab 6. März 1997.

Die 1956 geborene Klägerin stand bis 1996 im Alhi-Bezug bei der Beklagten. Einen am 6. März 1997 gestellten Antrag auf Fortzahlung der Anschluss-Alhi lehnte die Beklagte ab, weil die Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht zu ermitteln sei (Bescheid vom 24. Februar 1998; Widerspruchsbescheid vom 27. März 1998).

Die Klage hiergegen blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts <SG> vom 18. November 1998). Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG hat das Landessozialgericht (LSG) als unzulässig verworfen (Urteil vom 6. Dezember 2000). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, es könne offen bleiben, ob die handschriftlichen Anmerkungen der Klägerin auf der dem LSG übersandten Fotokopie des Urteils vom 18. November 1998 als Berufung anzusehen seien. Es bedürfe auch keiner Entscheidung, ob die Berufungsfrist des § 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingehalten sei. Denn die Klägerin habe das Recht auf Anfechtung des Urteils verwirkt. Sie habe die Annahme des Übergabe-Einschreibebriefs vom 3. Februar 1999 mit dem SG-Urteil, als dessen Absender durch den Stempelaufdruck eindeutig das SG zu erkennen gewesen sei, verweigert. Auch später habe sie, nachdem man ihr nach mehreren Eingaben mit Schreiben des SG vom 24. September 1999 mitgeteilt habe, der Rechtsstreit sei bereits rechtskräftig entschieden, nicht etwa das Urteil beim SG angefordert, sondern sich vielmehr mit einem Schreiben an das Bundessozialgericht (BSG) gewandt und beanstandet, das SG-Urteil liege ihr nicht vor. Erst danach habe sie offenbar bei der Beklagten einen Abdruck der angefochtenen Entscheidung erbeten.

Die Klägerin rügt ua eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots des fairen Verfahrens, insbesondere die Verletzung des daraus fließenden Gebots des rechtlichen Gehörs (§§ 62, 106 SGG) sowie die Verletzung des § 128 SGG und des § 103 SGG. Das LSG habe eine Überraschungsentscheidung gefällt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

II

Die Revision ist form- und fristgerecht erhoben. Insbesondere hat die Klägerin ordnungsgemäß iS des § 164 Abs 2 Satz 2 SGG Verfahrensmängel geltend gemacht.

Die Revision ist auch begründet iS des § 170 Abs 2 Satz 2 SGG. Dabei kann dahinstehen, ob die von der Klägerin gerügten Verfahrensfehler vorliegen. Jedenfalls ist die Sache schon deshalb an das LSG zurückzuverweisen, weil entgegen der Ansicht des LSG die von Amts wegen zu prüfende Zulässigkeit der Berufung nicht abschließend geklärt ist. Die abschließende Klärung überlässt der Senat dem LSG (vgl hierzu BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 11 und BSGE 72, 158, 163 = SozR 3-1500 § 67 Nr 7).

Zu Unrecht hat das LSG - ausgehend von den ermittelten Umständen - jedenfalls eine Verwirkung des Rechts zur Einlegung der Berufung angenommen. Soweit das LSG offen gelassen hat, ob die Klägerin überhaupt Berufung eingelegt hat, ist ihm entgegenzuhalten, dass sich aus den Schreiben der Klägerin hinreichend deutlich ergibt, dass sie gegen das Urteil des SG das entsprechende Rechtsmittel einlegen wollte.

Die Berufung der Klägerin war auch nicht verfristet; denn die Berufungsfrist des § 151 SGG ist gewahrt. Danach ist die Berufung beim LSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Vorliegend ist jedoch das Urteil des SG zu keinem Zeitpunkt zugestellt worden. Die Voraussetzungen einer Zustellung durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes (§ 4 Verwaltungszustellungsgesetz <VwZG> iVm § 63 Abs 2 SGG) sind nicht erfüllt, und eine Heilung der fehlerhaften Zustellung scheidet gemäß § 9 Abs 2 VwZG aus.

Eine Zustellung mittels eingeschriebenen Briefes setzt nach § 63 Abs 2 SGG in der bis 30. Juni 2002 geltenden Fassung iVm § 4 VwZG eine Übergabe des Schriftstücks voraus. Eine Übergabe ist aber zu verneinen, wenn der Empfänger die Annahme des Schriftstücks verweigert (BSG Breithaupt 1965, 948, 949; BVerwG vom 25. August 1976 - VIII 33.75; Sadler, VwVG-VwZG, 4. Aufl 2000, § 4 RdNr 28 ff); das SG hätte in der Folge eine andere Art der Zustellung wählen können und müssen, etwa eine Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde (§ 3 VwZG iVm § 186 ZPO in der bis 30. Juni 2002 geltenden Fassung), oder durch die Behörde gegen Empfangsbekenntnis (§§ 5, 10, 13 VwZG iVm § 63 Abs 2 SGG in der bis zum 30. Juni 2002 geltenden Fassung), bei denen im Falle der Annahmeverweigerung eine Zurücklassung des Schriftstücks am Ort der Zustellung zur Bewirkung der Zustellung vorgesehen ist. Für die Annahme des LSG, die Klägerin selbst habe jede Möglichkeit der Zustellung vereitelt, fehlen mangels entsprechenden weiteren Zustellungsversuchs jegliche Anhaltspunkte. Allenfalls könnte der Klägerin entgegengehalten werden, sie habe ihr Recht, Berufung einzulegen, durch treuwidriges Verhalten verwirkt. Dies ist jedoch nach der Rechtsprechung nur bei Vorliegen besonderer Umstände zu bejahen (vgl: BSGE 34, 211 213; BSGE 51, 260, 262 = SozR 2200 § 730 Nr 2; Sadler aaO § 9 RdNr 57 ff). Derartige Umstände sind vom LSG bislang nicht festgestellt. Insbesondere sind die näheren Umstände der Annahmeverweigerung nicht geklärt. Hieraus könnten sich ggf Gründe für die Bejahung einer Verwirkung ergeben; die Annahmeverweigerung als solche genügt hierfür jedenfalls nicht (Sadler aaO).

Das vom LSG angeführte Verhalten der Klägerin nach der Verweigerung der Annahme kann keinesfalls die Annahme einer Verwirkung rechtfertigen. Im Gegenteil: Die Klägerin hat sich gerade mehrfach an das SG mit dem Hinweis gewandt, dass sie von diesem nichts mehr gehört habe. Erst mit Schreiben vom 24. September 1999 hat ihr das SG dann mitgeteilt, der Rechtsstreit sei durch Urteil vom 18. November 1998 rechtskräftig beendet worden, weshalb ihre Schreiben nicht beantwortet werden könnten. Dieses Schreiben leitete die Klägerin in Fotokopie dann an das SG mit einem handschriftlichen, an das BSG gerichteten Vermerk zurück, wonach ihr ein Urteil vom 18. November 1998 nicht vorliege. Erst mit Schreiben vom 13. April 2000 erhielt sie von der Beklagten eine Fotokopie des Urteils vom 18. November 1998 und legte dann am 19. April 2000 die Angelegenheit dem LSG vor.

Das LSG wird im Einzelnen die Umstände der Verweigerung der Annahme des Einschreibebriefs zu ermitteln haben. Ergeben sich hieraus keinerlei Gründe für die Annahme einer Verwirkung, wird es die Berufung der Klägerin als fristgerecht anzusehen

haben und die Voraussetzungen der Zulässigkeit der Berufung im Übrigen sowie die Begründetheit der Berufung näher zu untersuchen haben. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

BundessozialgerichtSelig



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