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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 28.07.1999
Aktenzeichen: B 9 V 28/98 R
Rechtsgebiete: BVG


Vorschriften:

BVG § 1 Abs 2 Buchst d
Begeht ein Soldat Fahnenflucht, so endet mit dem Verlassen der Truppe - jedenfalls versorgungsrechtlich - die Haftung des Staates für seine Handlungen, auch wenn er noch Uniform trägt und mit der Militärwaffe Dritte verletzt.
BUNDESSOZIALGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Verkündet am 28. Juli 1999

in dem Rechtsstreit

Az: B 9 V 28/98 R

Kläger und Revisionsbeklagter,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Freie Hansestadt Bremen, vertreten durch das Versorgungsamt Bremen, Friedrich-Rauers-Straße 26, 28195 Bremen,

Beklagte und Revisionsklägerin.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juli 1999 durch den Vorsitzenden Richter Kummer, die Richter Prof. Dr. Bürck und Dau sowie die ehrenamtliche Richterin Szopinski und den ehrenamtlichen Richter Ihl

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 5. November 1998 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 21. Dezember 1995 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungs- und im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Am 16. April 1945 hielt ein desertierter Soldat der deutschen Wehrmacht den damals 15-jährigen Kläger an, um dessen Fahrrad "zu beschlagnahmen". Als er sich dem durch Flucht entzog, schoß der Deserteur und verletzte den Kläger am rechten Bein.

Wegen der Folgen der Schußverletzung beantragte er im November 1989 Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, in dem Vorgang vom 16. April 1945 liege keine unmittelbare Kriegseinwirkung iS des § 1 Abs 2 Buchst a iVm § 5 BVG (Bescheid vom 12. Dezember 1989; Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 1990).

Die Klage hatte in erster Instanz keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 21. Dezember 1995). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, beim Kläger eine "Versteifung des rechten oberen und unteren Sprunggelenks in günstiger Stellung" als Schädigungsfolge anzuerkennen und dem Kläger Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 vH ab 1. November 1989 zu zahlen (Urteil vom 5. November 1998). Der Tatbestand des § 1 Abs 2 Buchst d BVG sei erfüllt. Bei den Schüssen des Deserteurs habe es sich um eine offensichtlich unrechtmäßige Straf- oder Zwangsmaßnahme gehandelt.

Mit der dagegen eingelegten Revision macht die Beklagte geltend, die Tat des Deserteurs sei keine "Maßnahme" iS des § 1 Abs 2 Buchst d BVG gewesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 5. November 1998 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 21. Dezember 1995 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Berufungsurteil für zutreffend.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schußverletzungen vom 16. April 1945 keinen Anspruch auf Versorgung nach dem BVG.

Aufgrund der nicht mit zulässigen und begründeten Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG, die das Revisionsgericht gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) binden, geht der Senat davon aus, daß es sich bei der Person, von der die Schüsse auf den Kläger abgegeben worden sind, um einen Soldaten der deutschen Wehrmacht gehandelt hat, der seine Einheit unbefugt verlassen hatte. Die Feststellungen des LSG stimmen insoweit mit den eigenen Angaben des Klägers im Verwaltungsverfahren überein, und es sind auch keine Anhaltspunkte erkennbar, daß - soweit das LSG den Begriff "Deserteur" verwendet hat - eine rechtlich fehlerhafte Beurteilung vorliegen könnte.

Entgegen der Auffassung des LSG läßt sich auf den Vorgang vom 16. April 1945 § 1 Abs 2 Buchst d BVG weder unmittelbar noch entsprechend anwenden. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nicht erfüllt. Die Schußverletzungen beruhen nicht auf einer offensichtlich rechtswidrigen Straf- oder Zwangsmaßnahme iS der genannten Vorschrift.

Wie das LSG unter Hinweis auf die Literatur (Fehl in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, § 1 BVG RdNr 48) selbst ausführt, sollen durch § 1 Abs 2 Buchst d BVG insbesondere Schädigungen erfaßt werden, die in der letzten Phase des Krieges entstanden sind durch das Vorgehen deutscher Wehrmachts-, Partei- und ziviler Dienststellen oder von Einzelpersonen, um die Erfüllung eines Einsatzes zu erzwingen, obwohl der verlangte Dienst den Umständen nach nicht mehr erwartet werden konnte (BT-Drucks 1/1333, S 46 f). Als Straf- oder Zwangsmaßnahme kommt danach nur ein "dienstliches Vorgehen" in Betracht. Eine solch enge Auslegung des Maßnahmebegriffs hält das Berufungsgericht mit dem übrigen Wortlaut des § 1 Abs 2 BVG aber nicht für vereinbar und führt dazu aus: Habe nur "dienstliches Handeln" erfaßt werden sollen, so hätte es der Unterscheidung zwischen "militärischem oder militärähnlichem Dienst" einerseits und "allgemeinen Auflösungserscheinungen" andererseits nicht bedurft. Außerdem seien auch die in § 1 Abs 2 Buchst e und f BVG genannten Maßnahmen nicht auf militärdienstliche Handlungen beschränkt. Diese Interpretation des § 1 Abs 2 Buchst d BVG geht fehl.

Der vom LSG vermißte Grund für die Erfassung auch von Straf- oder Zwangsmaßnahmen, die mit "allgemeinen Auflösungserscheinungen" zusammenhängen, ergibt sich ohne weiteres aus dem Ziel des Gesetzes, sämtliche in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges offensichtlich unrechtmäßig bestraften oder von staatlichen Zwangsmaßnahmen im weitesten Sinne betroffenen Personen ohne Rücksicht auf ihren militärischen oder militärähnlichen Status unter Versorgungsschutz zu stellen. Wem von Wehrmachts-, Partei- und zivilen Dienststellen oder von Einzelpersonen unter Inanspruchnahme staatlicher Strafgewalt offensichtliches Unrecht angetan worden ist, den entschädigt das BVG wegen der gesundheitlichen Folgen der dabei erlittenen Schädigungen. Wer dagegen nicht Opfer staatlichen Unrechts, sondern privater Gewaltkriminalität geworden ist, erhält Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG frühestens wegen Taten, die seit dem 23. Mai 1949 (vgl § 10 Opferentschädigungsgesetz) begangen worden sind.

Die Straftat eines Deserteurs kann daher nicht als Straf- oder Zwangsmaßnahme iS des § 1 Abs 2 Buchst d BVG angesehen werden. Begeht ein Soldat Fahnenflucht, so handelt er von da an als Privatperson und verfolgt eigene, nicht staatliche Ziele. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Deserteur eine Straftat - wie im vorliegenden Fall - mit seiner Militärwaffe ausgeführt und ob er zur Tatzeit noch die Uniform eines Soldaten getragen hat.

Auch auf andere Vorschriften des BVG läßt sich der vom Kläger geltend gemachte Versorgungsanspruch nicht stützen. Insoweit hat das LSG zu Recht insbesondere die Vorschrift des § 1 Abs 2 Buchst a iVm § 5 Abs 1 Buchst e BVG - allerdings ohne nähere Begründung - nicht als erfüllt angesehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl BSGE 7, 183, 184 = SozR Nr 18 zu § 5 BVG; BSG SozR 3100 § 5 Nr 8; SozR 3-3100 § 5 Nr 5) setzt eine Versorgung nach § 5 Abs 1 Buchst e BVG voraus:

a) Kriegerische Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben,

b) eine nachträgliche schädigende Auswirkung dieses Gefahrenbereichs auf den Gesundheitszustand des Betroffenen und

c) einen unmittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen den kriegerischen Vorgängen und den gesundheitlichen Schäden.

Die Vorschrift soll Fälle erfassen, in denen ohne zeitlichen Zusammenhang mit Kampfhandlungen, aber in unmittelbarem Zusammenhang mit kriegerischen Vorgängen, gesundheitliche Schäden, zB durch die Explosion von Munition oder Sprengkörpern, eingetreten sind (vgl BT-Drucks 1/1333, S 50).

Im vorliegenden Fall fehlt es schon an einem "kriegerischen Vorgang" und damit auch an einem dadurch verursachten "kriegseigentümlichen Gefahrenbereich". Aus dem Geschehen des Zweiten Weltkrieges läßt sich hier keine Kampfhandlung oder ein sonstiges Ereignis als kriegerischer Vorgang bestimmen, das eine fortwirkende, dem Kriege typische Gefahr hervorgerufen hätte. Allenfalls ließe sich insoweit an die zur Zeit der Tat nahezu vollständige Einschließung Nürnbergs durch US-amerikanische Truppen denken. Es bleibt aber offen - weil nach mehr als 50 Jahren nicht aufklärbar -, ob gerade dieser Vorgang zur Desertion des unbekannten Soldaten geführt hat und - wenn das der Fall gewesen sein sollte -, ob dies wesentliche Bedingung für die Schüsse auf den Kläger war (vgl zur Frage der unmittelbaren Kriegseinwirkung bei Körperverletzung und Mord durch desertierte Soldaten: Urteil des Bayerischen Landesversicherungsamtes vom 4. November 1952 - KBc 1235/50 - Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge 1953, B 38, 39; Rundschreiben des BMA vom 8. Januar 1957 - Va 6-7382/56 -, abgedruckt bei Schoenleiter, Handbuch der Bundesversorgung, Stand 1973, § 5 BVG, I Nr 26).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Ende der Entscheidung

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