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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 19.09.2000
Aktenzeichen: B 9 V 6/00 R
Rechtsgebiete: BVG, SGG


Vorschriften:

BVG § 1 Abs 2 Buchst b
SGG § 163
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

Verkündet am 19. September 2000

in dem Rechtsstreit

Az: B 9 V 6/00 R

Kläger und Revisionskläger,

Bevollmächtigter:

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Land Baden-Württemberg, vertreten durch das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg, Rosenbergstraße 122, 70193 Stuttgart,

Beklagter und Revisionsbeklagter.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 19. September 2000 durch den Vorsitzenden Richter Kummer, die Richter Dr. Kocher und Dau sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Roos und Hofmann

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. Mai 1999 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Der Kläger lebt in Estland. Er ist estnischer Staatsangehöriger. Im Februar 1942 wurde er als Angehöriger des im Rahmen der deutschen Wehrmacht kämpfenden estnischen Schutzmannschaftsbataillons 39 an der Ostfront verwundet. Von Sommer 1943 bis Sommer 1944 leistete er als Angehöriger des estnischen Schutzmannschaftsbataillons 41 erneut militärischen Dienst im Rahmen der Wehrmacht. Nach seiner Festnahme durch sowjetische Behörden aufgrund eines Haftbefehls vom 20. Juni 1945 wurde er am 25. August 1945 von einem Militärgericht nach § 58 Abs 1a und 11 des Strafgesetzbuches (StGB) der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) wegen Landesverrats zu 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Diese Strafe hat er bis 1955 verbüßt. Während seiner Haft erfroren ihm Hände und Füße. Seither fehlen die Zehen beider Füße; die Fingergelenke beider Hände sind leicht deformiert.

Der Beklagte lehnte es ab, dem Kläger Beschädigtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren (Bescheid vom 1. September 1994; Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 1995). Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 22. September 1998); das Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten verurteilt, als Schädigungsfolgen "ausgedehnte Narben im Bereich der rechten Beckenschaufel mit Knochendefekten und Verlötung der rechten Kreuzbein-Darmbeinfuge nach zur Ruhe gekommener chronischer Knochenentzündung" festzustellen. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 7. Mai 1999). Der Kläger sei zwar wegen der 1942 erlittenen Verwundung versorgungsrechtlich geschützt. Die Folgen der Beckenverletzung bedingten aber nur eine nicht rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH. Erfrierungsfolgen seien nicht zu berücksichtigen. Der Kläger sei von 1945 bis 1955 nicht in Kriegsgefangenschaft, sondern in Strafhaft gewesen.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1 Abs 2 Buchst b BVG und macht geltend: Er sei Kriegsgefangener gewesen. Die Sowjetunion (UdSSR) habe ihn rechtstaatswidrig als eigenen Staatsangehörigen in Anspruch genommen und wegen seines Dienstes im Rahmen der deutschen Wehrmacht als Landesverräter bestraft.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. Mai 1999 zu ändern, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 22. September 1998 in vollem Umfang aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 1. September 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 1995 zu verurteilen,

a) als zusätzliche Schädigungsfolgen den Verlust aller Zehen des rechten Fußes mit verhornten Narben, Verlust der Zehen vier und fünf und Teilverlust der Zehen eins bis drei des linken Fußes ebenfalls mit verhornten Narben anzuerkennen,

b) dem Kläger Beschädigtenrente nach einer MdE um 40 vH zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angegriffene Entscheidung für richtig.

II

Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.

Nach §§ 8 Satz 1, 7 Abs 3 BVG iVm den Richtlinien-Ost vom 7. Dezember 1990 (abgedruckt in Hdb des sozialen Entschädigungsrechts 1999/2000, 267) und § 1 Auslandsversorgungsverordnung haben ausländische Kriegsopfer mit Wohnsitz in Estland Anspruch auf Teilversorgung, wenn sie - wie der Kläger - durch militärischen Dienst im Rahmen der deutschen Wehrmacht gesundheitlich geschädigt worden sind (vgl zum Umfang der Teilversorgung § 64e BVG). Nach §§ 30 Abs 1 und 2, 31 Abs 1 und 2 BVG haben Anspruch auf Grundrente Beschädigte, deren Erwerbsfähigkeit durch die Schädigungsfolgen um mindestens 25 vH gemindert ist. Diesen MdE-Grad erreicht der Kläger nicht. Denn nach den mit begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffenen und deshalb im Revisionsverfahren verbindlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 163 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) beträgt die MdE für die festgestellte Schädigungsfolge nur 20 vH. Ein rentenberechtigender Grad wird auch durch die Erfrierungsfolgen nicht erreicht, weil diese Schädigung - entgegen der Auffassung des Klägers - nicht durch Kriegsgefangenschaft herbeigeführt worden ist (§ 1 Abs 2 Buchst b BVG).

Der versorgungsrechtliche Begriff der Kriegsgefangenschaft entspricht dem völkerrechtlichen (BSGE 3, 268, 269; 30, 115, 118 = SozR Nr 8 zu § 7 BVG; Urteile vom 14. März 1967 - 10 RV 909/65 - BVBl 1968, 27 und vom 8. September 1970 - 9 RV 130/68 - KOV 1972, 15; Dahm in Rohr/Straesser, Bundesversorgungsgesetz mit Verfahrensrecht, Stand 1999, § 1 BVG Anm 19; ebenso für das Rentenversicherungsrecht BSG SozR 3-3200 § 1251 Nr 3 mwN). Nach dem Genfer Abkommen über Behandlung von Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929 (RGBL II 1934, 227), ersetzt durch das 3. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 (BGBl II 1954, 781, 838), ist Kriegsgefangener, wer wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband gefangengenommen worden ist und von einer feindlichen (ausländischen) Macht festgehalten wird. Ihre eigenen Staatsangehörigen braucht eine kriegführende Macht nach Völkerrecht nicht als Kriegsgefangene zu behandeln. Sie ist berechtigt, innerstaatliches Recht, also regelmäßig die einschlägigen Strafvorschriften anzuwenden (BSGE 30, 115, 119 = SozR Nr 8 zu § 7 BVG; SozR 2200 § 1251 Nr 117; SozR 3-2200 § 1251 Nr 3; Strebel in Stropp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Band 2, 1961, 345). So ist die Sowjetunion hier mit dem Kläger verfahren. Seine Festnahme, Verurteilung und Lagerhaft diente nicht - wie bei Kriegsgefangenen - einer Schwächung der feindlichen Kampfkraft, sondern der Sühne einer vom Militärgericht angenommenen Straftat, deren eigentlicher Grund die Verletzung der Treuepflicht des Staatsbürgers gegenüber seinem Heimatland gewesen ist, nicht der militärische Dienst in feindlichen Streitkräften.

Dieses Ergebnis folgt aus den vom LSG festgestellten Umständen: Der Kläger hat als Angehöriger der estnischen Schutzmannschafts(später: Polizei)bataillone 39 und 41 nur bis zum Sommer 1944 militärischen Dienst im Rahmen der Deutschen Wehrmacht (§ 7 Abs 1 Nr 3 BVG) geleistet, war also zur Zeit seiner Festnahme im Sommer 1945 seit etwa einem Jahr Zivilist. Als solcher ist er nicht wie ein Soldat gefangengenommen, sondern aufgrund eines Haftbefehls gesucht und festgenommen worden. Dies geschah lange nach der Wiedereroberung Estlands durch sowjetische Truppen (Ende September 1944) und erst mehr als einen Monat nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Kläger wurde einer Straftat angeklagt und in einem gerichtlichen Verfahren nach Art 58 Abs 1a und 11 des StGB der RSFSR zu Freiheitsstrafe verurteilt. Art 1a stellte alle Handlungen zum Nachteil der militärischen Macht der UdSSR, ihrer staatlichen Unabhängigkeit oder der Unversehrtheit des Staatsgebietes unter Strafe; Abs 11 erfaßte jede organisatorische Tätigkeit zur Vorbereitung konterrevolutionärer Delikte (vgl Schröder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 1970, 252). Die Verurteilung konnte am 25. August 1945 nur durch ein Militärgericht erfolgen, weil die ordentlichen Gerichte 1941 zu Militärtribunalen umgestaltet worden waren und bis zum 21. September 1945 strafprozessuale Sondervorschriften galten (vgl dazu Geilke, Einführung in das Sowjetrecht, 1983, 104 f).

Ohne Erfolg macht der Kläger gegen das Berufungsurteil geltend, seine Verurteilung wegen Landesverrats sei als rechtsstaatswidrig und die Strafhaft deshalb als Kriegsgefangenschaft anzusehen. Die Rechtsstaatswidrigkeit strafrechtlicher Verfolgung durch sowjetische Behörden ergibt sich jedenfalls - anders als vom Kläger angenommen - nicht aus einem Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot, welches es der Sowjetunion nicht erlaubt habe, den Kläger wegen Landesverrats zu verurteilen, weil Estland erst im Anschluß an die Eroberung durch sowjetische Truppen im Jahre 1944 auch sowjetisches Staatsgebiet geworden und der Kläger erst hierdurch die sowjetische Staatsangehörigkeit erlangt habe. Estland ist - ebenso wie die anderen baltischen Staaten - im Sommer 1940 von der Sowjetunion annektiert worden (vgl Baade in Strupp/Schlochauer, Band 1, 1960, 143, 147 f; Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl 1990, 266). Mit Dekret der UdSSR vom 7. September 1940 erwarben die Staatsangehörigen der Litauischen, Lettischen und Estnischen Sowjetrepubliken - darunter der Kläger - die Staatsbürgerschaft der UdSSR (vgl Geilke, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Sowjetunion, 1964, 82; Schulze in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Stand 1999, "Estland", 14; Meder, Das Staatsangehörigkeitsrecht der UdSSR und der Baltischen Staaten, 1950, 60 f; OLG Koblenz, RzW 1968, 519).

Der Senat hatte nicht darüber zu entscheiden, ob die Annexion Estlands durch die Sowjetunion völkerrechtswidrig gewesen ist (vgl einerseits Schulze aaO 314; andererseits - zurückhaltend - Baade aaO 149). Die Antwort auf diese Frage ändert nichts daran, daß der Kläger als Staatsangehöriger Estlands durch das Dekret vom 7. September 1940 Staatsbürger der UdSSR geworden und über die Besetzung Estlands durch deutsche Truppen hinaus bis zu seiner strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung nach Rückeroberung durch die Sowjetunion geblieben war. Denn die Staatsangehörigkeit wird ausschließlich durch nationales und nicht durch Völkerrecht geregelt (Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 2. Aufl 1962, 57 f; Ipsen aaO 300). Innerstaatliche Staatsangehörigkeitsregelungen stoßen völkerrechtlich lediglich auf zwei Schranken: Auf das Verbot, fremde Staatsangehörigkeit zu regeln und auf das Gebot, nur solche Personen als eigene Staatsangehörige in Anspruch zu nehmen, zu denen engere tatsächliche Beziehungen bestehen (vgl Ipsen aaO 300 und - umfassend - Makarov aaO 64 ff), verbunden mit der Verpflichtung, bei Gebietswechseln, zB durch Annexion, seine Staatsangehörigkeit denjenigen Personen zu verleihen, die die Staatsangehörigkeit des abtretenden oder untergegangenen Staates besitzen oder besessen haben und in dem abgetretenen Gebiet wohnen (Makarov aaO 97; ders JZ 1952, 403, 404 f). Es deutet nichts darauf hin, daß diese völkerrechtlich begründeten Vorgaben nationalen Staatsangehörigkeitsrechts hier verletzt worden sind.

Der Senat kann ferner offenlassen, ob die von der Sowjetunion ausgesprochene militärgerichtliche Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe und deren Vollstreckung rechtsstaatlichen Grundsätzen widerspricht. Denn auch, wenn das der Fall sein sollte, wandelt sich die tatsächlich vollstreckte Freiheitsstrafe wegen Landesverrats nicht in eine Kriegsgefangenschaft um, deren Folgen Deutschland nach dem BVG zu entschädigen hätte. Für die gesundheitlichen Folgen rechtsstaatswidriger Strafhaft wäre der Kläger, wenn überhaupt, von den Nachfolgestaaten der UdSSR zu entschädigen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Ende der Entscheidung

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