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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 10.12.2003
Aktenzeichen: B 9 V 7/03 R
Rechtsgebiete: BVG


Vorschriften:

BVG § 35
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 9 V 7/03 R

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 10. Dezember 2003 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Loytved, den Richter Dau, die Richterin Knickrehm sowie die ehrenamtlichen Richter Söldner und Ihl für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 29. Oktober 2002 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Kläger machen als Rechtsnachfolger ihres am 4. Februar 1999 verstorbenen Vaters (S.) dessen Anspruch auf Übernahme von Kosten der Heimpflege geltend.

Bei dem Kriegsbeschädigten S. waren seit 1953 folgende, mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vH eingeschätzte Schädigungsfolgen anerkannt:

- Erblindung des rechten Auges und Verlust des linken Auges.

- Verformung des kleinen Beckens mit Verschiebung des Schambeines, ausgesprengtem isoliertem Knochenstück und Bewegungseinschränkung beider Hüftgelenke leichten Grades.

- Bewegungseinschränkung des linken Armes und verformende Veränderungen des Schultergelenkes nach Bruch des Schlüsselbeines und Schulterblattes.

- Flächenhafte Narbenbildung der Bauchhaut.

- Weichteilnarben am Hals und rechten Unterarm.

- Zahnverlust.

Zu seinen Versorgungsbezügen wurde S. gemäß § 35 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) eine Pflegezulage gewährt, zunächst nach Stufe III und ab 1993 wegen gewachsenen Hilfebedarfs nach Stufe IV. Anfang 1995 beantragte S., die Pflegezulage wegen der Kosten fremder Hilfe (§ 35 Abs 2 BVG) zu erhöhen. Seine schwerbehinderte, inzwischen 75-jährige Ehefrau könne ihn nicht länger pflegen. Sowohl diesen als auch den weiteren Antrag auf Übernahme der ab 27. September 1995 anfallenden Heimpflegekosten (§ 35 Abs 6 BVG) lehnte das Versorgungsamt Hildesheim ab (Bescheide vom 10. und 11. August 1995). Die Widersprüche wies das Niedersächsische Landesamt für zentrale soziale Dienste mit folgender Begründung zurück (Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 1996): Für die gesteigerte, Fremdpflege erfordernde Hilflosigkeit des S. seien wesentliche Ursache nicht die anerkannten Schädigungsfolgen, sondern schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen (ausgeprägte Hirnleistungsschwäche mit organisch-psychischen Störungen, Mobilitätseinschränkung, Harn- und Stuhlinkontinenz, Schwerhörigkeit).

Das Sozialgericht Berlin (SG) hat den - durch Umzug des S. in ein Berliner Blindenwohnheim zuständig gewordenen - Beklagten verurteilt, durch Erhöhung der Pflegezulage gemäß § 35 Abs 2 BVG die in der Zeit vom 16. Januar bis zum 27. September 1995 entstandenen Kosten für die Einstellung einer fremden Arbeitskraft als Pfleger und ab dem 27. September 1995 gemäß § 35 Abs 6 BVG die durch die Unterbringung des S. im Blindenwohnheim entstandenen Kosten zu übernehmen (Urteil vom 17. Februar 2000). Auch die Demenz des Klägers sei Schädigungsfolge; selbst wenn dies nicht der Fall sei, hätten die anerkannten Schädigungsfolgen den Pflegebedarf jedenfalls annährend gleichwertig mit verursacht.

Nachdem der Beklagte den Anspruch auf erhöhte Pflegezulage bis zum 27. September 1995 anerkannt hatte, hat das Landessozialgericht Berlin (LSG) auf die Berufung des Beklagten die erstinstanzliche Entscheidung im Übrigen aufgehoben und die Klage insoweit abgewiesen (Urteil vom 29. Oktober 2002). Zur Begründung hat es ausgeführt: Werde Pflege im häuslichen Bereich durchgeführt und trete - wie hier - eine weitere, die Unterbringung in einem Heim erfordernde Gesundheitsstörung hinzu, so sei nach der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung zu prüfen, ob die weitere Gesundheitsstörung dem anerkannten Kriegsleiden zugerechnet werden könne (a) oder ob es sich um eine schädigungsunabhängige Gesundheitsstörung handele (b). Liege - wie hier - die Variante zu b) vor, so sei § 35 Abs 6 BVG nicht anzuwenden.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision machen die Kläger geltend: Das LSG habe § 35 BVG verletzt. Anders als die zu dieser Vorschrift ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) fordere das Berufungsgericht, dass auch die letzte, die Unterbringung in einem Heim schließlich erfordernde Gesundheitsstörung - hier die Demenz - auf den anerkannten Kriegsleiden beruhe.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des LSG Berlin vom 29. Oktober 2002 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin vom 17. Februar 2000 zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

II

Die Revision der Kläger ist iS des Hilfsantrages begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Zutreffend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass die Kläger als Erben des S. befugt sind, einen Nachlassanspruch gegen den Beklagten geltend zu machen. Denn nach § 58 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) werden fällige Ansprüche auf Geldleistungen, soweit sie nicht nach §§ 56 und 57 SGB I einem Sonderrechtsnachfolger zustehen nach den Vorschriften des Bürgerlichen Rechts vererbt. Bei Heimpflege nach § 35 Abs 6 BVG handelt es sich zwar nicht um eine Geld- sondern um eine "generalisierte Sachleistung" (vgl BSG, Beschluss vom 27. Oktober 1994 - 9 BV 115/94 - und BSG SozR 3100 § 35 Nr 18 S 67). Wegen rechtswidriger Ablehnung von Heimpflege verauslagte Aufwendungen sind aber - entsprechend § 18 Abs 3 und 4 BVG (BSG SozR 3100 § 35 Nr 18 S 61 f) - zu erstatten. Derartige Erstattungsansprüche sind auf Geldleistungen gerichtet (vgl BSG SozR 3-2500 § 57 Nr 6 für den Anspruch nach § 13 SGB V) und erlöschen mit dem Tode des Berechtigten nur, wenn sie - anders als hier - zu diesem Zeitpunkt weder festgestellt sind noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig ist (§ 59 Satz 2 SGB I). Eine vom Bürgerlichen Recht abweichende Sonderrechtsnachfolge findet nach § 56 Abs 1 SGB I allein für Ansprüche auf laufende Geldleistungen statt. Dazu gehört der Anspruch auf Kostenerstattung für selbstbeschaffte Sachleistungen nicht; er hat eine einmalige Geldleistung zum Gegenstand.

Das Berufungsgericht hat den streitigen Anspruch auf Übernahme von Heimpflegekosten zu Unrecht mit der Begründung verneint, S. habe wegen schädigungsunabhängiger Demenz stationär untergebracht werden müssen. § 35 Abs 6 BVG fordert - anders als vom LSG angenommen - nicht eine durch Schädigungsfolgen verursachte Heimpflegebedürftigkeit. Satz 1 dieser Vorschrift bestimmt: Für Beschädigte, die infolge der Schädigung dauernder Pflege iS des Abs 1 bedürfen, werden, wenn geeignete Pflege sonst nicht sichergestellt werden kann, die Kosten der nicht nur vorübergehenden Heimpflege, soweit sie Unterkunft, Verpflegung und Betreuung einschließlich notwendiger Pflege umfassen, unter Anrechnung auf die Versorgungsbezüge übernommen. Das Gesetz lässt es mithin genügen, dass der Beschädigte infolge der Schädigung dauernder Pflege iS des § 35 Abs 1 BVG bedarf und geeignete Pflege sonst - außerhalb eines Heims - nicht sichergestellt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

S. bedurfte dauernder Pflege iS des § 35 Abs 1 BVG. Das steht auf Grund der Entscheidungen der Versorgungsverwaltung fest, die ihm - entsprechend dem Grad seiner schädigungsbedingten Hilflosigkeit - zuletzt eine pauschale Pflegezulage nach Stufe IV und darüber hinaus bis zum 27. September 1995 die den Betrag dieser Pflegezulage übersteigenden Kosten für eine angestellte Pflegekraft (fremde Hilfe nach § 35 Abs 2 BVG) gewährt hat. Wie das Berufungsgericht weiter festgestellt hat, konnte geeignete Pflege ab 27. September 1995 nur noch durch dauernde Heimpflege sichergestellt werden. Die dafür entstandenen Kosten sind mithin dem Grunde nach von dem Beklagten zu übernehmen. Anders als vom LSG und in der Literatur (Dahm in Rohr/Strässer, Bundesversorgungsrecht, Stand August 1995, § 35 BVG, K-29; Ungewitter, VersorgVerw 2001, 2, 4) angenommen setzt § 35 Abs 6 BVG nicht zusätzlich voraus, dass der Wechsel von häuslicher - auch von fremden Kräften geleisteter - Pflege zur Heimpflege wesentlich durch eine "schädigungsabhängige Gesundheitsstörung" verursacht worden ist.

Das Gesetz unterscheidet nicht danach, ob der Beschädigte aus gesundheitlichen oder aus sonstigen Gründen in einem Heim gepflegt werden muss und trennt insofern (beachtliche) schädigungsbedingte gesundheitliche Umstände nicht von (unbeachtlichen) schädigungsunabhängigen. Es fordert lediglich, dass geeignete Pflege außerhalb eines Heims sich nicht sicherstellen lässt, berücksichtigt mithin Änderungen im sozialen und familiären Umfeld sowie in der Häuslichkeit des Beschädigten ebenso wie zB einen Mangel an Arbeitskräften, die fremde Hilfe auf Grund eines Arbeitsvertrages leisten könnten. Auch gesundheitliche Gründe für Heimpflege erkennt § 35 Abs 6 BVG danach ohne Ausnahme an, also selbst dann, wenn ein Beschädigter, der nach seinem schädigungsbedingten Hilfebedarf nur die (Eingangs-)Pflegezulage I erhält, wegen eines schädigungsunabhängigen Unfalls als Querschnittsgelähmter in ein Heim wechseln muss.

Für seine abweichende Auffassung, die eine zusätzliche, auf Heimpflegebedürftigkeit spezialisierte Kausalitätsprüfung fordert, beruft sich das LSG zu Unrecht auf Rechtsprechung des erkennenden Senats. Das zitierte Urteil vom 10. Dezember 1975 - 9 RV 162/75 - (BSGE 41, 80, 83 = SozR 3100 § 35 Nr 2) behandelt nicht den Wechsel von häuslicher Pflege zu Heimpflege. Es spricht für den dort geltend gemachten Anspruch auf Pflegezulage nach einer höheren als der bereits anerkannten Stufe den Grundsatz aus, dass die Pflegezulage auch dann neu festzustellen ist, wenn die wehrdienstbedingten Gesundheitsstörungen und die auf ihnen beruhende MdE zwar unverändert geblieben sind, die Schädigung aber im Zusammenwirken mit veränderten schädigungsunabhängigen Umständen noch annähernd gleichwertig die gesteigerte Hilflosigkeit verursacht.

Zu einer zusätzlichen, vom Gesetz nicht ausdrücklich geforderten Kausalitätsprüfung zwingt auch nicht der ungeschriebene Grundsatz, nach dem alle versorgungsrechtlichen Ansprüche davon abhängen, dass die Schädigungsfolgen wesentliche Ursache für einen auszugleichenden Mehraufwand sind (vgl BSGE 73, 142, 143 = SozR 3-3100 § 11 Nr 1 und BSG SozR 3-3100 § 320 Nr 16 zur Kontroverse über eine zusätzliche "allgemeine" Kausalitätsprüfung beim Berufsschadensausgleich). Denn im Verhältnis von - ggf erhöhter - Pflegezulage als Geldleistung und - anschließender - Übernahme der Kosten einer Heimpflege als generalisierter Sachleistung geht es nur noch darum, in welcher Form die wegen schädigungsbedingter Hilflosigkeit erforderliche Pflege gewährleistet wird. Über das schädigungsbedingte "Ob" ist bereits zuvor nach § 35 Abs 1 BVG entschieden worden, das "Wie" hängt dann - außer von einem Antrag des Beschädigten (vgl dazu BSGE 84, 61, 63 ff = SozR 3-1300 § 105 Nr 5) - allein von der Möglichkeit ab, die erforderliche Pflege außerhalb eines Heims sicherzustellen.

Diese Interpretation folgt aus der Struktur des § 35 BVG. Das Gesetz passt die den Mehrbedarf abdeckende Leistung "Pflegezulage" in Form und Höhe der jeweiligen Situation des hilflosen Beschädigten an. Solange er in der Familie gepflegt wird oder Nachbarn ihm helfen, erhält er zu seiner Beschädigtenrente einen pauschalen Zuschlag. Müssen Dritte auf Grund eines Arbeitsvertrages herangezogen werden und übersteigen die dafür - konkret - aufzuwendenden Kosten die pauschale Zulage, wird die gewährte Geldleistung um den Mehrbetrag erhöht. Lässt sich die Pflege außerhalb eines Heims durch Familie, Nachbarn und/oder angestellte Dritte schließlich nicht mehr organisieren, so reagiert das Versorgungsrecht wiederum flexibel: Es übernimmt die Heimkosten, rechnet auf diese Sachleistung aber die Versorgungsbezüge des Beschädigten - weitgehend - an (vgl dazu auch Senatsurteil vom 18. September 2003 - B 9 V 10/02 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).

Der mithin dem Grunde nach bestehende Anspruch der Kläger ist allerdings auf die Höhe der Kosten begrenzt, die das Heim wegen des nach § 35 Abs 1 BVG anerkannten Pflegebedarfs berechnet hätte. Denn nach § 35 Abs 6 Satz 1 BVG sind nur die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Betreuung einschließlich (infolge der Schädigung) "notwendiger" Pflege zu übernehmen. Hierzu fehlt es im Berufungsurteil an tatsächlichen Feststellungen. Das Revisionsgericht kann sie nicht nachholen (§ 163 SGG). Die Sache ist deshalb zurückzuverweisen.

Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren zunächst zu prüfen haben, ob der Gesamtzustand der Hilflosigkeit des im September 1995 74 Jahre alten kriegsblinden S. - wie vom SG angenommen - annähernd gleichwertig auf die schädigungsbedingten Gesundheitsstörungen zurückzuführen war. Dabei wird es zu beachten haben, dass auch Gesundheitsschäden, die nach der Schädigung und unabhängig von dieser auftreten - so genannte Nachschäden - als Mitursachen der Hilflosigkeit nicht auszuschließen sind, solange die Hilflosigkeit nur wesentlich auf die Kriegsversehrtheit zurückgeht (BSGE 41, 80, 83 = SozR 3100 § 35 Nr 2). Bejaht das LSG diese Frage, so hat der Beklagte die vollen Heimkosten zu erstatten. War dagegen der Gesamtzustand der Hilflosigkeit beim Wechsel des Klägers ins Heim überwiegend von schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen, insbesondere seiner Demenz, geprägt, so sind die Kosten der Heimpflege nur in Höhe des Satzes zu tragen, den das Heim für die Pflege des Klägers nach dem bei ihm iS von § 35 Abs 1 BVG bestehenden Hilfebedarf erhoben hätte.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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