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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 13.12.2000
Aktenzeichen: B 9 V 8/00 R
Rechtsgebiete: AHP


Vorschriften:

AHP Nr 19 Abs 1
AHP Nr 19 Abs 3
AHP Nr 19 Abs 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 9 V 8/00 R

Kläger und Revisionsbeklagter,

Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Land Sachsen-Anhalt, vertreten durch das Landesamt für Versorgung und Soziales, Neustädter Passage 15, 06122 Halle,

Beklagter und Revisionskläger.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat am 13. Dezember 2000 ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden Richter Kummer, die Richter Dr. Kocher und Dau sowie die ehrenamtliche Richterin Szopinski und den ehrenamtlichen Richter Ihl

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 28. Oktober 1999 aufgehoben, soweit der Beklagte verurteilt worden ist, dem Kläger Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 25 vH zu gewähren.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. August 1996 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Der Beklagte erkannte bei dem Kläger als Folgen von Kriegsdienstbeschädigungen einen chronisch rezidivierenden Harnwegsinfekt und eine Hörminderung rechts nach chronischer Mittelohrentzündung und Explosionstrauma an, lehnte es aber ab, Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) erreiche den rentenberechtigenden Grad von mindestens 25 vH nicht. Der Harnwegsinfekt sei mit einer Einzel-MdE um 10 vH, die Hörminderung mit 15 vH zu bewerten, die Gesamt-MdE betrage 15 vH (Bescheid vom 24. März 1993; Widerspruchsbescheid vom 31. März 1994).

Das Sozialgericht hat den Beklagten verurteilt, zusätzlich eine geringgradige Innenschwerhörigkeit links als Schädigungsfolge anzuerkennen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen, weil die Hörminderung insgesamt nicht zu einem rentenberechtigenden MdE-Grad führe und wegen der geringfügigen MdE um 10 vH für den Harnwegsinfekt auch nicht auf mindestens 25 vH zu erhöhen sei (Urteil vom 29. August 1996).

Während des Berufungsverfahrens stellte der Beklagte mit Bescheid vom 14. Dezember 1998 fest, daß die Anerkennung des rezidivierenden Harnwegsinfekts als Schädigungsfolge rechtswidrig sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat die dagegen kraft Gesetzes anhängig gewordene Klage zurückgewiesen und den Beklagten im übrigen verurteilt, Versorgung nach einer MdE um 25 vH zu gewähren (Urteil vom 28. Oktober 1999). Die Einzel-MdE um mindestens 15 vH (für die Hörminderung) sei wegen der weiteren Einzel-MdE um 10 vH (für den Harnwegsinfekt) auf 25 vH zu erhöhen, da die Funktionsbeeinträchtigungen völlig unabhängig voneinander beständen und verschiedene Lebensbereiche beträfen. Das bis auf Ausnahmefälle geltende Verbot in Nr 19 Abs 4 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP <Ausgabe 1996>), eine MdE wegen einer weiteren MdE von nicht mehr als 10 vH zu erhöhen, gelte nur insoweit, als sich die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen überschnitten und im wesentlichen - anders als hier - den gleichen Lebensbereich beträfen.

Der Beklagte macht mit der - vom Senat zugelassenen - Revision geltend, das Berufungsurteil verletzte die wie unter gesetzliche Rechtsnormen anzusehenden AHP.

Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 28. Oktober 1999 insoweit aufzuheben, als es das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. August 1996 und den Bescheid des Beklagten vom 24. März 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 1994 abändert und den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1991 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben um 25 vH zu gewähren,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. August 1996 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

II

Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Das LSG hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, dem Kläger Beschädigten-Grundrente zu gewähren. Darauf hat der Kläger keinen Anspruch, weil er durch die Schädigungsfolgen nicht in rentenberechtigendem Grade in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist.

Nach § 31 Abs 1 BVG erhalten Beschädigte ab einer MdE um 30 vH eine monatliche Grundrente; nach § 31 Abs 2 BVG umfaßt dieser Vom-Hundert-Satz auch eine um 5 vH geringere MdE (von 25 vH). Den danach für die Rentenberechtigung maßgeblichen Grenzsatz von 25 vH erreicht der Kläger weder mit der Einzel-MdE für die Hörschädigung, noch mit der MdE um 10 vH für den Harnwegsinfekt, noch mit der wegen der Auswirkungen beider Schädigungsfolgen aus den Einzel-MdE-Graden von 15 vH und 10 vH zu bildenden Gesamt-MdE.

Das LSG hat bei Einschätzung der von ihm mit 25 vH angenommenen Gesamt-MdE die normähnlichen (BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr 6; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 19 mwN) AHP verletzt. Die AHP 1996 schreiben in Nr 19 Abs 1 vor, daß die Einzel-MdE-Grade mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren sind und aus ihnen auch durch andere Rechenmethoden der Gesamt-MdE-Grad nicht gebildet werden darf. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Nach Nr 19 Abs 3 AHP ist bei der Bildung der Gesamt-MdE in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-MdE-Grad bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten MdE-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Schließlich bestimmen die AHP in Nr 19 Abs 4, daß - von Ausnahmefällen abgesehen - zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen MdE-Grad von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, und zwar auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Mit diesen Grundsätzen zur Bildung der Gesamt-MdE widersprechen die AHP nicht dem Gesetz (aA Ockenga, SozVers 1991, 281, 284), und sie befinden sich im Einklang mit dem gegenwärtigen Kenntnisstand der sozialmedizinischen Wissenschaft. Darüber hinaus erlauben sie die Berücksichtigung von Sonderfällen, die aufgrund ihrer individuellen Verhältnisse einer gesonderten Beurteilung bedürfen (vgl zum Prüfungsmaßstab BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr 6).

Das LSG hätte danach ausgehend von dem höheren Einzel-MdE-Grad von "mindestens" 15 vH für die durch Hörminderung hervorgerufenen Funktionsstörungen prüfen müssen, ob sich durch die mit dem Harnwegsinfekt verbundenen Funktionsstörungen insgesamt eine größere Erwerbsminderung ergibt. Dabei hätte es das Erhöhungsverbot der Nr 19 Abs 4 AHP beachten müssen und hätte nur unter Feststellung eines Ausnahmefalles den mit einer Einzel-MdE um 10 vH bewerteten Harnwegsinfekt Gesamt-MdE erhöhend berücksichtigen dürfen.

Das LSG hat statt dessen eine neue Regel aufgestellt und auf diesen Fall angewendet. Es gelangt damit entgegen dem - relativen - Erhöhungsverbot der Nr 19 Abs 4 AHP zu einer rentenberechtigenden Gesamt-MdE um 25 vH. Das LSG meint (ähnlich Schürmann, SGb 1994, 240, 241), das Erhöhungsverbot gelte nur dann, wenn sich mehrere Funktionsbeeinträchtigungen überschnitten und im wesentlichen den gleichen Lebensbereich beträfen. Dadurch werde dem Grundgedanken Rechnung getragen, wonach maßgeblich für die Gesamt-MdE die Auswirkungen in den verschiedenen Lebensbereichen seien (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 9), im vorliegenden Fall bei der Kommunikation einerseits und der räumlichen Mobilität andererseits.

Diese Auffassung verkennt den Grund für das Erhöhungsverbot in Nr 19 Abs 4 AHP und nimmt zu Unrecht Rechtsprechung des erkennenden Senats für sich in Anspruch. Die Auswirkungen einer nur mit einer Einzel-MdE um 10 vH bewerteten Funktionsstörung vermögen die Gesamt-MdE in aller Regel deshalb nicht zu erhöhen, weil sie zu geringfügig sind. Die AHP drücken diesen Gedanken durch die Formulierungen "leichte Gesundheitsstörungen" und "wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung" aus. Danach läßt sich statt der vom LSG aufgestellten Regel deren Gegenteil in folgendem Rechtssatz formulieren: Das Erhöhungsverbot der Nr 19 Abs 4 AHP gilt ausnahmslos, wenn die Funktionsbeeinträchtigungen verschiedene Lebensbereiche betreffen. Eine Erhöhung der Gesamt-MdE wegen einer zusätzlichen Einzel-MdE um 10 vH und damit ein Ausnahmefall iS der AHP wird - anders als hier - nur dann in Betracht kommen, wenn sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt (vgl dazu den in den AHP aaO angeführten Fall hochgradiger Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit).

Mit der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung (SozR 3-3870 § 4 Nr 9) hat der Senat für die Festsetzung des (Gesamt-)Grades der Behinderung (GdB) nach § 4 Abs 3 Satz 1 Schwerbehindertengesetz zweierlei klargestellt: Es ist zusammenfassend zu beurteilen, ob und wie sich mehrere Funktionsbeeinträchtigungen, die von Gesundheitsstörungen auf verschiedenen medizinischen Gebieten ausgehen, in einem Lebensbereich auswirken; deshalb ist eine Addition mehrerer, aus den Gesundheitsstörungen auf verschiedenen medizinischen Gebieten folgender Einzel-GdB nicht zulässig. Eben diesen Grundsatz hat das Berufungsgericht nicht beachtet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ende der Entscheidung

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