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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 18.04.2001
Aktenzeichen: B 9 VG 5/00 R
Rechtsgebiete: OEG


Vorschriften:

OEG § 1 Abs 5 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 9 VG 5/00 R

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 18. April 2001 durch den Vorsitzenden Richter Kummer, die Richter Dr. Kocher und Prof. Dr. Bürck sowie die ehrenamtlichen Richter Szablewski und Franke

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. März 2000 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten um Ansprüche nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG).

Der 1963 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er lebte seit 1980 in Deutschland. Das Landgericht Bückeburg verurteilte ihn am 10. November 1993 wegen fortgesetzten unerlaubten gewerbsmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Während der anschließenden Strafhaft beantragte der Kläger nicht die Verlängerung der ihm erteilten, bis zum 21. November 1993 befristeten Aufenthaltserlaubnis. In der Justizvollzugsanstalt kam es am 26. Juli 1994 während eines Billardspiels zu einer Auseinandersetzung. Ein Mithäftling versetzte dem Kläger mit einem Billardqueue einen Schlag auf den Kopf. Die dadurch entstandenen Verletzungen mußten stationär behandelt werden.

Im Oktober 1994 beantragte der Kläger Entschädigung nach dem OEG. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10. Oktober 1995 und Widerspruchsbescheid vom 2. Januar 1996 ab. Der Kläger habe sich nicht rechtmäßig im Inland aufgehalten. Zum Zeitpunkt des Angriffs habe er keine Aufenthaltsgenehmigung nach dem Ausländergesetz (AuslG) besessen. Die dagegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 22. Juli 1997 und Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Niedersachsen vom 24. März 2000). Beide Tatsacheninstanzen gingen davon aus, daß ein Entschädigungsanspruch jedenfalls deswegen nicht bestehe, weil dem Kläger nach dem 21. November 1993 weder eine Aufenthaltsgenehmigung noch eine Duldung erteilt worden sei.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger, daß die Vorinstanzen den Begriff des rechtmäßigen Aufenthaltes iS des § 1 Abs 5 Satz 1 OEG verkannt hätten. In Strafhaft befindliche Ausländer seien von Entschädigungsansprüchen nach dem OEG nicht ausgeschlossen. Der Vollzug der Strafhaft im Inland ersetze eine Aufenthaltsgenehmigung. Jedenfalls führe er zu einer Gleichstellung mit geduldeten Ausländern, da das öffentliche Interesse an der Strafvollstreckung das Verbleiben des Häftlings im Inland erfordere. Wegen der Unfreiwilligkeit einer Strafhaft komme es nicht darauf an, ob eine Duldung tatsächlich erteilt worden sei.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

die Urteile des Sozialgerichts Hannover vom 22. Juli 1997 und des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. März 2000 sowie den Bescheid des Beklagten vom 10. Oktober 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 1996 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Beschädigtenversorgung nach dem OEG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er vertritt die Auffassung, von der Fortdauer eines rechtmäßigen Inlandsaufenthaltes könne nur im Hinblick auf den Strafvollzug, nicht aber im Rahmen des OEG ausgegangen werden. Eine Entschädigung sei zudem unbillig. Der Kläger habe sich außerhalb der Rechtsordnung gestellt, seine Straftaten hätten ihn in die Justizvollzugsanstalt geführt. Zwischen Häftlingen herrsche ein gewaltbereites Klima, in dem die Anstaltsbediensteten Angriffe nur verhindern könnten, wenn sie den Gefangenen jeglichen Freiraum nähmen. Da dies rechtlich unmöglich sei, liege die wesentliche Ursache für die von dem Kläger davongetragene Verletzung in seinem eigenen Verhalten, nicht in einem Versagen der staatlichen Ordnungskräfte.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

II

1) Die Revision des Klägers ist iS der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Entgegen der Rechtsauffassung des LSG ist der Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG nicht bereits deswegen ausgeschlossen, weil der Kläger zur Zeit der tätlichen Auseinandersetzung in der Justizvollzugsanstalt B. weder eine Aufenthaltsgenehmigung besaß noch die Ausländerbehörde ihm eine Duldung erteilt hatte.

a) Aus § 1 Abs 4 bis 6 OEG ergibt sich, daß Ausländern, wenn die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 OEG erfüllt sind, Versorgung nach OEG nur unter besonderen Bedingungen gewährt wird. In § 1 Abs 4 OEG werden Ausländer Deutschen gleichgestellt, wenn sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften (jetzt: der Europäischen Union) sind, Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaften ihre Gleichbehandlung mit Deutschen erforderlich machen, die Gleichbehandlung in einer besonderen zwischenstaatlichen Vereinbarung vorgesehen oder die Gegenseitigkeit gewährleistet ist. Das trifft hier nicht zu. Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger, und die Türkei gehört nicht zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften. Der Senat hat bereits entschieden, daß es keine Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaften gibt, die eine Gleichbehandlung von türkischen und deutschen Staatsangehörigen im Gewaltopferentschädigungsrecht anordnen (Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 6. März 1996 - 9 RVg 10/95 - nicht veröffentlicht - sowie BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 13). An dieser Rechtsprechung wird festgehalten. Das Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 (verkündet mit Gesetz vom 13. Mai 1964 BGBl II, 509) und das dazu abgeschlossene Zusatzprotokoll vom 23. November 1970 (Gesetz vom 19. Mai 1972 BGBl II S 385) enthalten keine allgemeine Gleichstellung von türkischen Staatsangehörigen mit Gemeinschaftsbürgern, sondern nur Programmsätze, die noch weiterer Umsetzung bedürfen. Diese Umsetzung ist nicht mit den Beschlüssen Nr 1/80 oder Nr 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 (Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit 1981, S 4 und Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1983 Nr C 110, S 60) vorgenommen worden. Art 10 Abs 1 des Beschlusses 1/80 sieht eine Gleichstellung der türkischen Arbeitnehmer nur für die Regelungen des Arbeitsmarktes vor. Art 4 Abs 1 des Beschlusses 3/80 enthält eine Gleichstellung in bezug auf Zweige der sozialen Sicherheit, die das OEG nicht erfaßt. Es gibt keine zwischenstaatliche Vereinbarung, die eine Gleichstellung von türkischen Staatsangehörigen mit Deutschen vorsieht; zwischen Deutschland und der Türkei besteht keine Gegenseitigkeit in bezug auf die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten. Das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten vom 24. November 1983, das nach Ratifizierung für Deutschland am 1. März 1997 in Kraft getreten ist (BGBl II 1996, 1120, 1124 sowie BGBl II 1997, 740), hat daran nichts geändert (vgl BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 13). Die Türkei hat das Übereinkommen bisher nicht ratifiziert.

b) Der Kläger kann aber nach § 1 Abs 5 OEG Ansprüche auf Versorgung haben. Die Vorschrift sieht Versorgungsansprüche für Ausländer vor, die sich rechtmäßig für einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten im Bundesgebiet aufhalten. Der Kläger hat sich seit 1980 nicht nur vorübergehend rechtmäßig in Deutschland aufgehalten. Ob sein Aufenthalt in Deutschland nach Ablauf seiner Aufenthaltserlaubnis weiterhin rechtmäßig war, läßt sich nicht ohne weiteres dem Gesetz entnehmen. Die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes eines Ausländers im Inland bestimmt sich grundsätzlich nach dem AuslG (Kunz/Zellner, OEG-Komm, 4. Aufl 1999, § 1 RdNr 106; Behn, ZfS 1993, 289, 298). Nach § 1 AuslG können sich Ausländer nach Maßgabe dieses Gesetzes im Inland aufhalten, soweit nicht in anderen Gesetzen etwas anderes bestimmt ist. Ausländer benötigen für den Aufenthalt im Bundesgebiet eine Aufenthaltsgenehmigung (§ 3 Abs 1 AuslG). Die letzte dem Kläger erteilte Aufenthaltserlaubnis war befristet. Entsprechend § 44 Abs 1 AuslG ist sie mit Ablauf ihrer Geltungsdauer erloschen. Der Kläger war damit seit dem 22. November 1993 zur Ausreise verpflichtet (§ 42 Abs 1 AuslG). Diese Pflicht war gemäß § 42 Abs 2 Nr 2 AuslG auch vollziehbar, da der Kläger keine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung beantragt hatte. Nach dem Strafvollstreckungsrecht war er jedoch gezwungen, sich auch über den 22. November 1993 hinaus wegen der Vollstreckung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe im Inland aufzuhalten. Den Kläger trafen damit zwei miteinander unvereinbare Verhaltenspflichten: Während er einerseits nach dem Ausländerrecht Deutschland verlassen mußte, war er auf der anderen Seite verpflichtet, die Strafvollstreckung im Inland zu dulden.

Das Ausländerrecht normiert außer der nach § 47 Abs 1 und 2 AuslG vorgesehenen Ausweisung, die aber im Falle des Klägers nicht durchgeführt worden war, nicht ausdrücklich, welche Auswirkungen die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe auf eine nach § 42 AuslG bestehende Ausreisepflicht hat. An den Vorschriften der §§ 49 Abs 2, 50 Abs 5 AuslG zeigt sich aber, daß die Strafvollstreckung eine bestehende Ausreisepflicht nicht berührt. In den genannten Bestimmungen ist die Möglichkeit einer Abschiebung aus der Strafhaft vorgesehen. Eine Abschiebung setzt gemäß § 49 Abs 1 AuslG eine Ausreisepflicht voraus. Wenn aus der Strafhaft abgeschoben werden kann, kann die Strafvollstreckung nicht zum Untergang der Ausreisepflicht führen. Die Ausländerbehörde ist jedoch gehindert, eine bestehende Ausreisepflicht ohne Rücksicht auf den Vollzug einer Strafhaft durchzusetzen. Der Strafvollzug hat den Vorrang vor der Durchsetzung der Ausreisepflicht (BayObLGZ 1973, 49, 55; 150, 152). § 456a der Strafprozeßordnung (StPO) bestimmt ua, daß die Strafvollstreckungsbehörde von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe mit Rücksicht auf eine Ausweisung des Verurteilten absehen kann. Im Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Ausländerbehörde ist aber die Vollzugsentscheidung der Staatsanwaltschaft vorrangig (Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 7/RdNr 699). Die Staatsanwaltschaft kann die Strafvollstreckung anordnen, ohne die vorherige Zustimmung der Ausländerbehörde eingeholt zu haben. Die Ausländerbehörde hingegen kann die Ausreisepflicht erst dann durchsetzen, wenn die Staatsanwaltschaft von der weiteren Vollstreckung der Strafhaft abgesehen hat. Dem Kläger drohte demnach zum Zeitpunkt des Angriffes durch den Mitgefangenen nicht nur eine Ausweisung, sondern er war nach dem AuslG auch zur Ausreise verpflichtet.

c) Der Strafvollzug bewirkte hier jedoch für seine Dauer einen rechtmäßigen Inlandsaufenthalt des Klägers iS des OEG. § 1 Abs 5 Satz 2 OEG läßt für einen rechtmäßigen Aufenthalt einen aus humanitären Gründen oder erheblichem öffentlichen Interesse geduldeten Aufenthalt ausreichen. Die ausländerrechtliche Duldung hat die zeitweilige Aussetzung einer Abschiebung zum Inhalt, ohne die Ausreisepflicht aufzuheben (§§ 55 Abs 1, 56 Abs 1 AuslG), vermittelt aber als Teil des verwaltungsrechtlichen Vollstreckungsverfahrens grundsätzlich keinen rechtmäßigen Aufenthalt iS des Ausländerrechts (vgl Renner, aaO, 7/RdNr 685; für das Schwerbehindertenrecht vgl die Senatsentscheidung BSGE 84, 253, 256 ff = SozR 3-3870 § 1 Nr 1). Ein rechtmäßiger Aufenthalt iS des § 1 Abs 5 Satz 2 OEG kann vorliegen, wenn nach dem AuslG eine Ausreisepflicht besteht, diese aber nicht durchgesetzt werden kann. So liegt es jedenfalls dann, wenn die Durchsetzung der Ausreisepflicht deswegen unmöglich ist, weil sich der Ausländer im Strafvollzug befindet. Das OEG hat sich von der Begrifflichkeit des AuslG abgekoppelt, indem es in § 1 Abs 5 Satz 2 OEG eine Regelung enthält, der sich entnehmen läßt, daß der entschädigungsrechtliche Begriff des rechtmäßigen Aufenthaltes nicht notwendig deckungsgleich mit dem ausländerrechtlichen ist (BSGE 84, 253, 256 = SozR 3-3870 § 1 Nr 1 für das Schwerbehindertenrecht). Die in § 1 Abs 5 Satz 2 OEG vorgenommene Erweiterung des Begriffs des rechtmäßigen Aufenthalts meint nicht nur die Fälle einer erteilten ausländerrechtlichen Duldung. Dafür spricht, daß der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren eine Regelung vorgeschlagen hat, nach der "insbesondere" geduldete Ausländer gleichgestellt werden (vgl BT-Drucks 12/4899 S 9) und der Gesetzgeber alle Fälle, in denen eine Ausreisepflicht nicht durchgesetzt werden kann, als rechtmäßigen Aufenthalt ansehen wollte, wenn die Nichtdurchsetzbarkeit entweder auf humanitären Erwägungen oder auf Gründen des öffentlichen Interesses beruht (vgl BT-Drucks 12/5182 S 15 sowie Protokoll der 75. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 16. Juni 1993, S 9, sowie BT-Drucks 12/4899 S 6, 7). Im Rahmen des OEG ist der aus humanitären Gründen oder der aus erheblichem öffentlichen Interesse geduldete Aufenthalt dem ausländerrechtlich rechtmäßigen Aufenthalt gleichgestellt. Der Inlandsaufenthalt des Klägers während seines Gefängnisaufenthaltes lag im öffentlichen Interesse. Denn der anerkannte Strafzweck der Generalprävention verlangt, daß eine Freiheitsstrafe jedenfalls zum Teil vollzogen wird. Dem steht nicht entgegen, daß nach §§ 456a Abs 1 StPO, 47 Abs 1 Nr 2, 48 AuslG bei einer Verurteilung wegen einer Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz auch die Möglichkeit bestanden hätte, von der Strafvollstreckung abzusehen und den Täter auszuweisen bzw abzuschieben (vgl BVerwG InfAuslR 2000, 105).

d) Entgegen der Rechtsauffassung des LSG kann es für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht darauf ankommen, daß die Ausländerbehörde dem Kläger während des Strafvollzugs keine Duldung erteilt hat. Das LSG geht zu Unrecht davon aus, daß § 1 Abs 5 Satz 2 OEG nur Duldungen meint, die tatsächlich erteilt worden sind. Dem steht insbesondere die Entstehungsgeschichte der Vorschrift entgegen. Die Norm ist erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eingefügt worden. Im ursprünglichen Gesetzentwurf war in § 1 Abs 5 Satz 1 eine Regelung vorgesehen, die Ausländer, denen aus humanitären Gründen eine Duldung erteilt wurde, mit jenen gleichstellte, die sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten (BT-Drucks 12/4889 S 4). Der Bundesrat schlug in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf vor, "insbesondere" die aus humanitären Gründen geduldeten Ausländer gleichzustellen, womit eine Verdeutlichung (und zugleich wohl auch eine Öffnung für vergleichbare Fälle) gewollt war (BT-Drucks 12/4889 S 9). Ihre endgültige Gestalt fand die Vorschrift in den Beratungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. Es wurde eine gesonderte Regelung für geduldete Ausländer in § 1 Abs 5 Satz 2 OEG geschaffen, weil klargestellt werden sollte, daß der geduldete Aufenthalt ausländerrechtlich illegal bleibt (BT-Drucks 12/5182 S 6, 15). Ziel des Gesetzgebers war es, die Fälle, in denen ein humanitäres oder öffentliches Interesse an der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebung besteht, von denen abzugrenzen, in denen der weitere Verbleib des Ausländers nur aus verfahrenstechnischen Gründen erforderlich ist (Protokoll der 75. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 16. Juni 1993, S 9, vgl auch schon BT-Drucks 12/4899 S 6, 7). Im letzteren Fall sollte eine Versorgung nach dem OEG ausgeschlossen sein. Mit dieser Absicht wäre entgegen der Auffassung des LSG eine Beschränkung auf nach § 55 Abs 3 AuslG erteilte Duldungen unvereinbar. Das gilt vor allem deshalb, weil bei den nach § 55 Abs 2 AuslG auszusprechenden Duldungen ein stärkeres humanitäres oder öffentliches Interesse an der Aussetzung der Abschiebung vorliegen kann, etwa dann, wenn eine Duldung mit Rücksicht auf eine Aussetzung der Abschiebung gemäß §§ 53 Abs 6 oder 54 AuslG auszusprechen ist (vgl Renner, aaO, 7/RdNrn 697, 698).

Die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung war jedenfalls im Fall des Klägers auch deshalb nicht geboten, weil sich dessen aufenthaltsrechtliche Situation durch Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs 3 oder § 55 Abs 2 AuslG, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich war, nicht rechtserheblich verändert hätte. Ist ein Ausländer nach § 49 AuslG ausreisepflichtig, muß die Ausländerbehörde entweder die Ausreisepflicht durchsetzen oder eine Duldung erteilen. Einen dritten Weg, die Abschiebung tatsächlich nicht vorzunehmen, sieht das Gesetz grundsätzlich nicht vor (vgl BVerwGE 105, 232, 236). Da die Ausländerbehörde die Ausreisepflicht aber im Falle einer vollstreckten Strafhaft nicht aus eigener Kompetenz durchsetzen kann, sondern von der Vollstreckungsentscheidung der Staatsanwaltschaft abhängig ist, würde die Duldung nach § 55 Abs 2 AuslG nur wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Durchführung der Abschiebung erteilt werden (vgl Renner, aaO, 7/RdNrn 699, 700; Funke-Kaiser, GK AuslR, II § 55 RdNr 38). Sie wäre praktisch funktionslos, deshalb ist sie in derartigen Fällen überflüssig. Der Gefängnisaufenthalt hat den Kläger in die Situation eines geduldeten Ausländers iS des § 1 Abs 5 Satz 2 OEG versetzt.

e) Es entspricht auch den Zielen des OEG, einen Aufenthalt im Strafvollzug ungeachtet einer bestehenden Ausreisepflicht als rechtmäßig anzusehen. Die Einbeziehung der Ausländer in den nach dem OEG geschützten Personenkreis ist damit begründet worden, daß der Staat eine Schutzpflicht auch gegenüber denjenigen Ausländern habe, die sich in Deutschland integriert hätten (BT-Drucks 12/4899 S 6). In eine Justizvollzugsanstalt wird der Ausländer in eine inländische staatliche Einrichtung aufgenommen. Unerheblich ist, daß diese "Integration" zum Zweck des Strafvollzugs erfolgt, denn die Strafvollstreckung schließt eine Entschädigung nach dem OEG nicht aus.

Der Senat ist in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, daß eine Entschädigung nach dem OEG dem Grunde nach auch bei einem Angriff in der Strafhaft möglich ist (vgl BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 5). Das OEG enthält keine entsprechende Einschränkung seines Anwendungsbereiches. Im Rahmen des Amtshaftungsanspruches (§ 839 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB> iVm Art 34 Grundgesetz <GG>) sind Rechtsprechung und Literatur einmütig der Auffassung, daß den Beamten im Strafvollzug gegenüber den Häftlingen die Amtspflicht obliegt, sie vor gesundheitlichen Schädigungen zu bewahren, die ihnen durch Angriffe von Mitgefangenen drohen (vgl BGHZ 17, 172, 176; 21, 214, 220; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl 1998, 60). Gelingt das nicht, gilt auch in diesem Rahmen der Grundsatz, daß Opfer von vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffen entschädigt werden, weil es dem Staat nicht gelungen ist, Bürger vor Straftaten zu schützen (vgl BT-Drucks 7/2506, S 7 sowie BSGE 81, 288, 291 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12). Im Gegensatz zur Amtshaftung kommt es für den Entschädigungsanspruch nach dem OEG nicht auf ein Verschulden des Amtsträgers an. Es ist entgegen der Revisionserwiderung auch unerheblich, ob der Staat objektiv in der Lage gewesen ist, den Angriff zu verhindern. Dies hat der Senat bei Angriffen im familiären Nahbereich bereits entschieden (BSGE 77, 7, 9 = SozR 3-3800 § 1 Nr 6; 83, 62, 68 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9). Bei einem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Strafvollzug gilt jedenfalls grundsätzlich nichts anderes. Wesentliche Einschränkungen ergeben sich - vgl nachfolgend - im Einzelfall nur aus § 2 OEG. Ob der Kläger Ansprüche nach § 1 OEG erfolgreich geltend machen kann und welchen Umfang diese ggf haben, vermag der Senat allerdings nicht abschließend zu entscheiden, denn das LSG hat bisher keinerlei Feststellungen über das Vorliegen der nach § 1 Abs 1 OEG erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen getroffen.

2. Die Entscheidung des LSG stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Nach § 2 Abs 1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Entgegen der Ansicht des Beklagten wird ein Versorgungsanspruch des Klägers nicht notwendig durch diese Vorschrift ausgeschlossen.

a) Die Mitverursachung iS der ersten Alternative des § 2 Abs 1 Satz 1 OEG ist ein Sonderfall des in der zweiten Alternative geregelten Ausschlusses des Versorgungsanspruchs wegen Unbilligkeit. Er bestimmt abschließend, wann die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten Leistungen ausschließt. Die erste Alternative ist stets zuerst zu prüfen (vgl BSGE 66, 115, 117 = SozR 3800 § 2 Nr 7; BSGE 83, 62, 65 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9 sowie BSG SozR 3800 § 2 Nr 4). Die Mitursächlichkeit bestimmt sich nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung. Das Opfer hat danach den Angriff mitverursacht, wenn es einen eigenen Beitrag zur Tat geleistet hat, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Angriff entfiele, und wenn der Beitrag von seinem Gewicht her mit dem rechtswidrigen Verhalten des Angreifers vergleichbar ist (stRspr des BSG, vgl zuletzt BSGE 83, 62, 65 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9 sowie BSGE 84, 54, 60 = SozR 3-3800 § 1 Nr 15). Für die Vergleichbarkeit der Tatbeiträge von Opfer und Angreifer ist nach der Rechtsprechung des Senats insbesondere deren strafrechtliche Einordnung von Bedeutung. Die Tatbeiträge sind vergleichbar, wenn sie jeweils strafbare Handlungen darstellen und die Strafandrohungen etwa gleich sind (vgl BSG SozR 3-3800 § 2 Nrn 5 und 7). Nach den bisherigen Feststellungen des LSG ergeben sich indessen keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger seine Schädigung mitverursacht hat. Das angefochtene Urteil enthält keine Feststellungen dazu, ob der Kläger den Streit mit dem Schädiger begonnen oder provoziert oder sonst Anlaß zu einer körperlichen Auseinandersetzung gegeben hatte.

b) Der Senat kann auch nicht abschließend beurteilen, ob der geltend gemachte Versorgungsanspruch des Klägers jedenfalls nach der zweiten Alternative des § 2 Abs 1 Satz 1 OEG ausgeschlossen ist. Unbilligkeit ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der Konkretisierung bedarf. Ein Ausschluß der Versorgung wegen Unbilligkeit kann nur angenommen werden, wenn der Beitrag des Tatopfers ein Gewicht erreicht hat, das dem der Mitverursachung in der ersten Alternative entspricht (vgl BSGE 49, 104 ff = SozR 3800 § 2 Nr 1 sowie BSGE 83, 62, 65 ff = SozR 3-3800 § 2 Nr 9). Der Senat hat die Unbilligkeit bisher für mehrere Fallgruppen konkretisiert. In Betracht kommt hier, daß sich das Opfer durch die Begehung von Straftaten bewußt außerhalb der staatlichen Rechtsordnung gestellt und die damit verbundene Gefahr sich in Schädigungsfolgen durch eine Gewalttat realisiert hat. Dies gilt insbesondere bei Taten im Bereich der organisierten Kriminalität. Jedenfalls sind die Voraussetzungen dieser Fallgruppe insoweit gegeben, als der Kläger in strafbarer Weise mit Betäubungsmitteln gehandelt und sich dadurch außerhalb der Rechtsordnung gestellt hat. Die Straftat war damit eine notwendige Bedingung dafür, daß der Kläger in die Justizvollzugsanstalt verbracht wurde. Dies allein genügt jedoch nicht, die Unbilligkeit einer Entschädigung für eine in der Strafhaft erlittene Schädigung zu bejahen. Denn auch im Rahmen der zweiten Alternative des § 2 Abs 1 Satz 1 OEG bestimmt sich die Mitursächlichkeit des Opferverhaltens nach der Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung (vgl BSGE 49, 104, 105 = SozR 3800 § 2 Nr 1; BSGE 52, 281, 283 = SozR 3800 § 2 Nr 3). Unschädlich ist insoweit, daß die Straftat nur mittelbar, nämlich über die Verurteilung des Klägers, eine Ursache für die von ihm erlittenen Verletzungen gewesen ist. Auch eine nur mittelbare Ursache kann als wesentliche Bedingung für einen Erfolg angesehen werden (vgl BSGE 72, 136, 137 = SozR 3-3800 § 2 Nr 2). Aus den bisherigen Feststellungen des LSG ergibt sich indessen nicht, ob die Straftat des Klägers (mittelbare) wesentliche Bedingung für den Angriff gewesen ist und sie in einer besonderen Beziehung zum eingetretenen Erfolg stand (vgl zur Definition der wesentlichen Ursache zB BSGE 1, 72, 76; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, 12. Aufl, Bd 3, 4. Teil, § 8 RdNrn 309 ff), sich insbesondere eine typische Gefahr der Inhaftierung verwirklicht hat. Der Kläger hat zwar durch seine Straftaten die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe und damit auch den Strafvollzug wesentlich verursacht. Insoweit haben seine Handlungen nur die im Gesetz bestimmten Folgen gefunden. Ob der Strafvollzug wesentliche Ursache für den Angriff war, weil sich in dem Angriff zB eine gefängniseigentümliche Gefahr des Strafvollzuges verwirklichte, läßt sich auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des LSG zwar nicht ausschließen. Dies wäre aber zu verneinen, wenn es bei den Tätlichkeiten zwischen Schädiger und Kläger sich um eine Auseinandersetzung gehandelt haben sollte, die sich unabhängig von typischen Umständen des Strafvollzugs, wie zB dem speziellen gewaltbereiten Gefängnismilieu und den konkreten Haftbedingungen, auch außerhalb des Strafvollzuges, beispielsweise als Wirtshausschlägerei, hätte ereignen können.

Dem Gewaltopfer ist seine eigene Schädigung aber auch dann zuzurechnen und eine Entschädigung nach dem OEG ausgeschlossen, wenn der Angriff im Rahmen einer Auseinandersetzung über eine vorangegangene Straftat des Gewaltopfers erfolgt (vgl BSG SozR 3-3800 § 2 Nr 2). Auch in diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß die Aggressivität und Gewaltbereitschaft innerhalb des Strafvollzuges in der Regel größer ist als in Freiheit (vgl BGHZ 17, 172, 174; 60, 302, 311). Das allein kann allerdings die Unbilligkeit einer Entschädigung nicht begründen. Gefängnisse sind keine rechtsfreien Räume. Es ist vielmehr anerkannt, daß das dort tätige Personal im Rahmen seiner Möglichkeiten für einen ordnungsgemäßen Vollzug sorgen und Inhaftierte vor rechtswidrigen Angriffen Mitgefangener schützen muß.

Das LSG wird die insoweit zur abschließenden Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch noch notwendigen Feststellungen treffen müssen. Insbesondere wird es aufklären und beurteilen müssen, ob es sich vorliegend um einen Streit wie er sich auch außerhalb des Gefängnisses zwischen bisher unbescholtenen Personen in ähnlicher Weise hätte abspielen können oder um einen Tatbestand handelt, in dem eine Entschädigung des Klägers wegen Unbilligkeit ausgeschlossen ist. Sollten sich dabei die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Unbilligkeit weder feststellen noch ausschließen lassen, wird das LSG auch darüber zu befinden haben, ob sich die Beweislast bei der Anwendung des § 2 Abs 1 OEG (dazu s BSGE 78, 270 = SozR 3-3800 § 2 Nr 4) in Fällen der vorliegenden Art ausnahmsweise mit der Folge umkehrt, daß das Nichtfestgestelltsein von Umständen, die gegen eine Mitverursachung des Gewaltopfers oder die Unbilligkeit der Entschädigung sprechen, zu Lasten des Antragstellers geht.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

Ende der Entscheidung

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