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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 10.12.2002
Aktenzeichen: B 9 VG 7/01 R
Rechtsgebiete: OEG


Vorschriften:

OEG § 1 Abs 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Verkündet am 10. Dezember 2002

Az: B 9 VG 7/01 R

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 10. Dezember 2002 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Loytved, die Richter Prof. Dr. Bürck und Masuch sowie die ehrenamtlichen Richter Prof. Dr. Möllhoff und Kadoke

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. September 2001 aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 8. September 1998 zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für alle drei Rechtszüge nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Der Rechtsstreit betrifft die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen eines sog Schockschadens.

Die 1957 geborene Klägerin war seit 1987 mit dem Röntgenfacharzt O (O.) verheiratet; aus der Ehe waren die am 12. August 1988 geborene Tochter K und der am 2. März 1990 geborene Sohn M hervorgegangen. Durch das Urteil des Amtsgerichts - Familiengerichts - Offenburg vom 2. Mai 1996 wurde die Ehe geschieden und der Klägerin die elterliche Sorge für die beiden Kinder übertragen. Gleichzeitig schlossen die Eheleute vor diesem Gericht eine Vereinbarung, wonach O. ua in der Zeit vom 22. August bis 7. September 1996 die Kinder zu sich nehmen dürfe. O. beabsichtigte erklärtermaßen, in dieser Zeit - wie im Jahr zuvor - mit den Kindern auf M Urlaub zu machen. Am 22. August 1996 nahm O. die zwischenzeitlich gegen das Scheidungsurteil eingelegte Berufung zurück und flog am folgenden Tag mit den Kindern nach M . In der Nacht vom 3. auf den 4. September 1996 tötete O. beide Kinder im Urlaubsquartier in S . Nachdem Hotelangestellte am 6. September 1996 die Leichen aufgefunden hatten, unterrichtete ein Mitarbeiter des Reiseunternehmens N die Klägerin in Deutschland fernmündlich von der Ermordung. O. wurde am 7. September 1996 auf M verhaftet und dort später zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Am 11. November 1996 beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt Freiburg Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Dazu machte sie geltend, sie leide auf Grund der Ermordung ihrer Kinder an verschiedenen Gesundheitsstörungen, ua auf seelischem Gebiet. Nach nerven- und versorgungsärztlichem Untersuchungsergebnis bestand eine posttraumatische Belastungsstörung mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vH vom 6. September 1996 bis 31. Juli 1997, anschließend mit einer MdE um 20 vH. Mit Bescheid vom 18. September 1997 lehnte der Beklagte die beantragte Versorgung mit der Begründung ab, nach den von der Verwaltung zu der Schockschadenrechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) aufgestellten Grundsätzen sei ein unmittelbarer örtlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und dem Schaden beim Dritten erforderlich; hierfür reiche das Überbringen der Todesnachricht nicht aus. Den dagegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 1998 zurück. Dabei stützte er sich auf eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 20. Januar 1998, wonach einer Bewilligung von Versorgung jedenfalls entgegenstehe, dass sich die Gewalttat außerhalb des Geltungsbereichs des OEG ereignet habe.

Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat mit Urteil vom 8. September 1998 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriff habe allein auf M stattgefunden. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg das Urteil des SG aufgehoben und den Beklagten antragsgemäß verurteilt, der Klägerin Entschädigungsleistungen nach dem OEG wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung seit dem 6. September 1996 zu gewähren. In den Entscheidungsgründen seines Urteils vom 27. September 2001 heißt es ua: Die Klägerin habe als Reaktion auf die Nachricht von der Ermordung der Kinder eine längeranhaltende posttraumatische Belastungsstörung erlitten, welche mindestens für ein Jahr ein rentenberechtigendes Maß erreicht habe. Das schadenstiftende Ereignis sei gegenüber der Klägerin für sich und unabhängig von dem Ende der Gewalttat an ihren Kindern zu betrachten; die Ursachenkette habe erst mit der Auswirkung des Angriffs auf ihre Psyche im Geltungsbereich des Gesetzes geendet. Nach dem Wortlaut des § 1 OEG und der dazu vorliegenden Literatur komme es - entgegen der Ansicht des Beklagten - auf den Ort des Eintritts der Schädigung und nicht auf den Ort der Begehung der Tat an. Die von der Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf BSGE 49, 98, 101 f) gestellten Anforderungen an den Nachweis eines eigenen seelischen Schadens seien im Falle der Klägerin gegeben. Darauf, ob der tätliche Angriff gegen die Kinder schon in Deutschland begonnen habe, komme es nicht an.

Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 1 Abs 1 OEG. Dazu trägt er vor: Durch die in Deutschland eintretenden Auswirkungen einer nicht im Geltungsbereich des OEG verübten Straftat könne eine Schädigung iS dieses Gesetzes nicht erfolgen. Nach der Intention des OEG habe der Staat seine Bürger nur dann zu entschädigen, wenn er mit seinen Organen im Einzelfall nicht in der Lage gewesen sei, sie vor einer Gewalttat zu schützen (Hinweis auf BSG vom 7. November 1979 - 9 RVg 2/78). Dieser Pflicht könnten die staatlichen Organe ausschließlich im eigenen Hoheitsgebiet nachkommen, weil ihnen weder Befugnis noch Möglichkeit gegeben sei, Straftaten im Ausland zu verhindern. Die Überbringung einer Todesnachricht sei eine strafrechtlich unerhebliche Folge der im Ausland begangenen Straftat. Eine solche Mitteilung zu verhindern, sei nicht staatliche Aufgabe. Außerdem sei vorliegend die nach dem Rechtsstandpunkt des BMA für die Anerkennung eines sog Schockschadens ua erforderliche "gewisse Nähe" zwischen Schädigungstatbestand und Schaden bei einem Dritten nicht gegeben. Die bloße Übermittlung der Todesnachricht sei - ohne Hinzutreten weiterer Umstände - nicht geeignet, Versorgungsansprüche auszulösen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 27. September 2001 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Freiburg vom 8. September 1998 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angegriffene Urteil und führt ergänzend aus: Der verantwortliche Staat habe nicht nur weder die Vorbereitungshandlungen für den Mord, noch ihre seelische uSchädigung im Geltungsbereich des Gesetzes zu verhindern vermocht, sondern die Tatbegehung durch eine Förderung der Ausreise der Kinder sogar unterstützt.

II

Die Revision des Beklagten ist begründet. Das LSG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Leistungen der Opferentschädigung. Der Senat hält auch nach erneuter Prüfung an seiner Rechtsprechung zu sog Schockschäden fest; wird aber die Straftat außerhalb des Geltungsbereichs des OEG verübt und tritt dort die Primärschädigung ein, sind Entschädigungsansprüche auch wegen eines in Deutschland erlittenen Schocks ausgeschlossen.

In dem als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden § 1 Abs 1 Satz 1 OEG ist geregelt: Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen deren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Die Gewaltopferentschädigung nach dem OEG beruht darauf, dass den Staat eine besondere Verantwortung für Personen trifft, die durch eine vorsätzliche Straftat geschädigt werden. Die Tatsache, dass der Staat es im Einzelfall nicht vermocht hat, durch den Schutz der Rechtsordnung den Bürger vor einem gewaltsamen Angriff zu bewahren, lässt das Bedürfnis nach einem Eintreten der Gesellschaft für Schäden aus einem solchen Angriff hervortreten (vgl BT-Drucks 7/2506 S 7, 10; BSG Urteile vom 8. August 2001, BSGE 88, 240, 244 = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 83, 88; 18. April 2001, SozR 3-3800 § 1 Nr 19 S 74, 80; 21. Oktober 1998, SozR 3-3800 § 2 Nr 9; 18. Juni 1996 - 9 RVg 4/94 - USK 9663; 18. Oktober 1995, SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 21, 24). Allerdings führt der Umstand, dass die Gewalttat innerhalb eines staatsfreien Innenraumes wie dem der Familie oder vergleichbarer Beziehungen stattgefunden hat, nicht zur Versagung der Entschädigung, obwohl dieser Bereich den staatlichen Sicherheitskräften nur beschränkt zugänglich ist (Urteil vom 21. Oktober 1998, SozR 3-3800 § 2 Nr 9 S 42; vgl auch Urteil vom 7. November 2001, BSGE 89, 75, 78 = SozR 3-3800 § 2 Nr 11 S 51, 54; stRspr), und zwar auch dann nicht, wenn der innerfamiliäre Zustand die Gefahr einer Gewalttat in sich barg (zum Leistungsausschluss wegen Mitverursachung bei vermeidbarer Selbstgefährdung vgl Urteil vom 15. August 1996, SozR 3-3800 § 2 Nr 5 S 14, 16 mwN).

In seiner ständigen Rechtsprechung geht der erkennende Senat davon aus, dass - entsprechend dem Regelungssystem der Kriegsopferversorgung - auch der Entschädigungsanspruch nach dem OEG eine unmittelbare Schädigung des Opfers voraussetzt (Urteil vom 8. August 2001, BSGE aaO S 242 = SozR aaO S 86 mwN). Die vor allem aus dem Wortlaut des § 1 Abs 1 BVG ("wer") und des § 1 Abs 2 Buchst a iVm § 5 BVG als Erfordernis abgeleitete Unmittelbarkeit wird grundsätzlich als enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung iS einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente ohne örtliche und zeitliche Zwischenglieder verstanden. Sie betrifft eine Vorfrage der Kausalität und begrenzt den berechtigten Personenkreis (Senatsurteil vom 7. November 1979, BSGE 49, 98,103 = SozR 3800 § 1 Nr 1 S 1, 6). Ob das Opfer einer Gewalttat durch den Angriff "unmittelbar" geschädigt worden ist, beurteilt sich je nach den Umständen des Einzelfalls wertend anhand des Schutzzwecks des Gesetzes (Senatsurteil vom 8. August 2001, BSGE aaO S 242 = SozR aaO S 86 mwN).

Auf dieser Grundlage schützt § 1 Abs 1 Satz 1 OEG auch sog "Sekundäropfer"; im Anschluss an die Rechtsprechung zur Kriegsopferversorgung zählen hierzu auch solche Personen, deren Schädigung und Schädigungsfolgen psychischer Natur sind (BSG vom 7. November 1979, aaO). Im Ergebnis werden die psychischen Auswirkungen einer schweren Gewalttat als mit dieser so unmittelbar verbunden betrachtet, dass beide eine natürliche Einheit bilden (vgl dazu Urteil vom 7. November 1979, aaO). Wie der Senat bereits dargelegt hat, liegt in der Anerkennung von Schockschadensopfern keine Erweiterung des Personenkreises gegenüber dem BVG (Urteil vom 8. August 2001, BSGE aaO S 243 = SozR aaO S 87 mwN; zum Ausschluss der Entschädigung psychischer Beeinträchtigungen von nahen Familienangehörigen infolge der nach Eintritt der Primärschädigung veränderten Lebensumstände vgl Senatsbeschluss vom 17. Dezember 1997 - 9 BVg 5/97 -), wenngleich darin ein weites Verständnis des Begriffs der Unmittelbarkeit zum Ausdruck kommt (vgl zuletzt Senatsurteil vom 16. April 2002, BSGE 89, 199, 202 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 91, 95).

Eine Einbeziehung aller durch Kenntnisnahme von der Gewalttat psychisch geschädigten Personen in den Kreis der Anspruchsberechtigten würde indessen den Rahmen dieser auf dem Ausnahmetatbestand der "aberratio ictus" beruhenden Erweiterung der zu entschädigenden Fälle sprengen (Urteil vom 8. August 2001, BSGE aaO S 245 = SozR aaO S 89 mwN). Der Senat hat den insoweit gebotenen engen Zusammenhang bejaht, wenn das Sekundäropfer am Tatort unmittelbar Zeuge der Tat gewesen ist, als der seelische Schock eintrat (BSGE aaO S 243 = SozR aaO S 87 mwN), und es zudem aus Gründen einer sachgerechten Fassung des Schutzbereichs des OEG als erforderlich angesehen, die Unmittelbarkeit jedenfalls bei nahen Angehörigen auch dann anzunehmen, wenn eine solche Person die Nachricht von der vorsätzlichen Tötung des Primäropfers erhält und dadurch einen Schock erleidet, ohne dass eine Tatzeugenschaft vorliegt (zur Schockwirkung der Nachricht vgl auch Senatsbeschluss vom 17. Dezember 1997, aaO). Da die Nachrichtenübermittlung generell eine räumliche und zeitliche Distanz zum primären Tatgeschehen bedingt, eignet sich dieses Merkmal hier nicht als Abgrenzungskriterium. Es spielt dabei auch keine Rolle, mit welchem Medium die Todesnachricht übermittelt wird (vgl Geschwinder, VersorgB 1981, 101; "öffentliche Medien": Urteil vom 8. August 2001, BSGE aaO S 245 = SozR aaO S 89). Jedenfalls ist eine mangelnde zeitliche und örtliche Nähe in Fällen wie dem vorliegenden, bei dem die obwaltenden Umstände (ua spätes Auffinden der Kinderleichen) dazu geführt haben, dass die Klägerin erst drei Tage nach dem Angriff und der Primärschädigung davon Kenntnis bekommen hat, grundsätzlich nicht dazu angetan, die erforderliche Unmittelbarkeit in Frage zu stellen (zur Frage einer zeitlichen Distanz vgl auch Urteil vom 7. November 1979, BSGE aaO S 101 ff = SozR aaO S 4 ff). Vielmehr wird diese ggf durch die enge persönliche Beziehung zwischen Primär- und Sekundäropfer begründet.

Gemessen an diesen Kriterien käme eine Entschädigung der Klägerin nach dem OEG in Betracht, da sie nach den Feststellungen des LSG infolge der Nachricht über die Tötung ihrer Kinder, also besonders naher Angehöriger, einen Schockschaden erlitten hat (vgl dazu auch Senatsurteil vom 8. August 2001, BSGE aaO S 245 = SozR aaO S 88). Unter diesen Umständen lässt es der Senat weiterhin offen (Urteil vom 7. November 2001, BSGE aaO S 79 = SozR aaO S 55 mit Hinweis auf das Urteil vom 8. August 2001), ob das soziale Entschädigungsrecht den unüberschaubar großen Kreis möglicher Schockschadensopfer durch die Forderung nach einer "unmittelbaren" Schädigung bereits insoweit tatbestandsmäßig begrenzt, als danach von vornherein nur nahe Angehörige geschützt werden. Allerdings hält er es grundsätzlich nicht für angebracht, eine Entschädigung bei Schockschäden von zusätzlichen, vom Gesetzeszweck nicht gebotenen Einschränkungen abhängig zu machen (vgl dazu das Rundschreiben des BMA vom 6. August 1996 - VI 1-52039/3 - BArbBl 1996 Nr 11, 71 f). Ob in Fällen fehlender verwandtschaftlicher oder vergleichbarer Bindungen eine Ausgrenzung von Schockschadensopfern trotz "emotionaler Sonderbeziehung" tatsächlich geboten ist, hat der Senat im Übrigen bereits im Hinblick auf die Ungewöhnlichkeit solcher Schäden bezweifelt (vgl BSGE aaO S 246 = SozR aaO S 89). Soweit in diesem Zusammenhang eine Eingrenzung der Entschädigung von Schockschäden geboten ist, dürfte diese schon hinreichend durch die Prüfung bewirkt werden, ob die Voraussetzungen der Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung erfüllt sind (vgl Urteile vom 7. November 2001, BSGE aaO S 78 f = SozR aaO S 54 f mwN; 18. Oktober 1995, SozR 3-3800 § 1 Nr 4; 26. Januar 1994 aaO Nr 3).

Soweit im Urteil vom 8. August 2001 (BSGE aaO S 244 = SozR aaO S 88) ausgeführt ist, der Bürger erwarte den Opferschutz nicht nur für sich, sondern auch für seine nächsten Angehörigen, stellt der Senat klar: Der Schutzbereich des Gesetzes erfasst die von Gewalttaten an ihren Angehörigen betroffenen Schockgeschädigten nicht auf Grund familiärer Beziehung, sondern infolge der tatbestandlichen Erstreckung. Gewalttaten können sich opferentschädigungsrechtlich auch in seelischen Schäden niederschlagen; Schockschäden sind insoweit ungewöhnliche Folgen besonders schrecklicher Gewalttaten. Soweit zwischen Primär- und Sekundäropfern keine besonders ausgeprägte emotionale Verbindung besteht, wird - zumal bei völlig fremden Personen - eine Schockwirkung nur durch das ganz außergewöhnliche Maß an Brutalität einer Tat hervorgerufen werden, die den Schockgeschädigten persönlich und (zeitlich wie örtlich) unmittelbar (also in seinem "Kernbereich") berührt.

Der Entschädigungsanspruch der Klägerin scheitert hier jedoch daran, dass der tätliche Angriff auf ihre Kinder und deren Schädigung auf M , also im Ausland, stattgefunden hat. Ihm steht das dem OEG innewohnende Territorialitätsprinzip entgegen.

Nach der ausdrücklichen Regelung des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erhält ua nur derjenige Gewaltopferentschädigung, der im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Somit werden jedenfalls solche Fälle vom OEG nicht erfasst, bei denen sich der Angriff und die Schädigung im Ausland ereignet haben. Demgemäß hat ein im Ausland stationierter deutscher Soldat, dessen Ehefrau außerhalb des dortigen NATO-Stützpunktes einer Gewalttat zum Opfer fiel, für sich und seine Kinder keinen Hinterbliebenenrentenanspruch (Senatsurteil vom 18. Juni 1996 aaO).

Der Gewaltopferschutz im Ausland bleibt grundsätzlich der Rechtsordnung des jeweiligen Aufenthaltsstaates überlassen. In seinen Genuss können deutsche Staatsangehörige ggf bei Vorliegen entsprechender zwischen- oder überstaatlicher Vereinbarungen gelangen. Eine weitere Frage ist dann, inwieweit dort auch psychische Sekundärschäden entschädigt werden. Allenfalls kann durch das Erfordernis der Gegenseitigkeit (vgl § 1 Abs 4 Nr 3 OEG) Einfluss genommen werden, Deutschen bei Schädigungen durch Gewalttaten im Ausland einen Versorgungsschutz wie im Inland zu verschaffen (vgl Senatsurteil vom 6. März 1996, SozR 3-3800 § 10 Nr 1 S 4 ff).

Problematisch ist die Anwendung des in § 1 Abs 1 Satz 1 OEG verankerten Territorialitätsprinzips auf Fälle, bei denen - wie hier - der tätliche Angriff und die primäre Schädigung im Ausland erfolgt sind, jedoch ein naher Angehöriger im Inland durch die Nachricht über dieses Geschehen einen Schock, dh eine sekundäre Schädigung, erlitten hat. Hinsichtlich des räumlichen Geltungsbereichs des OEG ist der Gesetzeswortlaut nicht so eindeutig, wie es vom LSG und der von ihm zitierten Literatur (Kunz/Zellner, OEG, 4. Aufl, § 1 RdNr 6) behauptet wird. Die Aussage, maßgeblich sei (allein) der Ort des Eintritts der Schädigung, verfehlt Sinn und Zweck des Gesetzes jedenfalls dann, wenn damit gesagt sein soll, dass unabhängig vom Ort des primären Tatgeschehens der Entschädigungsanspruch in jedem Falle entstehe, soweit nur - wie im Falle der Klägerin - die fragliche (sekundäre) Schädigung innerhalb des Geltungsbereichs eingetreten sei. Diese - dem Wortlaut des Gesetzes nach vertretbare, wenngleich nicht allein mögliche - Auslegung verkennt, dass nach der gesetzgeberischen Konzeption die Entschädigungspflicht des Staates durch die Grenzen seines Sicherheitsregimes beschränkt wird. Nur im räumlichen Geltungsbereich des OEG (einschließlich deutscher Schiffe und Luftfahrzeuge) können die deutschen Organe eine Verantwortung für die Sicherheit der Menschen und für die Aufklärung von Straftaten tragen (vgl BT-Drucks aaO S 13).

Soweit die Straftat außerhalb des Geltungsbereichs des OEG verübt wird und der Primärschaden auch dort eintritt, schließt es der Schutzzweck des Gesetzes aus, dem Sekundäropfer auf Grund der seinerseits innerhalb des Geltungsbereichs erlittenen Schockschädigung einen Entschädigungsanspruch zuzubilligen. In Fällen wie dem vorliegenden ist die Bundesrepublik Deutschland objektiv nicht in der Lage, die Primäropfer (hier die Kinder der Klägerin) vor den an ihnen begangenen Gewalttaten zu schützen und den rechtswidrigen Angriff zu verhindern. Der Ort des Eintritts der Schockschädigung reicht insoweit nicht aus, um einen hinreichenden Inlandsbezug zu begründen. Da die psychischen Auswirkungen eines Gewaltgeschehens mit diesem eine natürliche Einheit bilden, ja ohne dieses nicht zu denken sind, hält es der Senat nicht für sachgerecht, in Ansehung des Territorialitätsprinzips Primär- und Sekundärschädigung unabhängig von einander zu betrachten. Entsprechend der gesetzgeberischen Konzeption, die an die Gewalttat anknüpft, ist dabei vielmehr entscheidend auf den Ort der Gewalttat und der Primärschädigung abzustellen. Fallen diese Vorgänge nicht in den Geltungsbereich des OEG, so kann sich der Schutz dieses Gesetzes auch nicht auf die damit zusammenhängende Schockschädigung erstrecken. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Täter eine sekundäre Schädigung bei nahen Angehörigen seines primären Opfers in seinen Vorsatz mit aufgenommen hat. Mithin ist das Vorbringen der Klägerin, O. habe seinen Angriff gegen ihre seelische Gesundheit gerichtet und sich dazu des Kindesmordes als Mittel bedient, nicht rechtserheblich.

Bei einer anderen Beurteilung ergäben sich auch unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes (vgl Art 3 Abs 1 Grundgesetz <GG>) unzuträgliche Konsequenzen. Denn weder erscheint es angängig, inländische Sekundäropfer zu entschädigen, wenn die im Ausland betroffenen Primäropfer von einer Anwendung des OEG ausgeschlossen sind, noch ließe es sich rechtfertigen, wenn Personen, die im Inland durch die Nachricht über eine ausländische Primärschädigung einen Schock erleiden, entschädigungsrechtlich besser gestellt würden als solche, die durch ein unmittelbares Tatzeugenerlebnis im Ausland psychisch beeinträchtigt werden. Das zeigt auch ein Blick auf den vorliegenden Fall: Hätte die Klägerin den Schockschaden während eines (gedachten) gemeinsamen M -Urlaubs bei sonst vergleichbaren Gegebenheiten (telefonische Benachrichtigung über den Tod der Kinder) erlitten, könnte sie eindeutig nicht nach dem OEG entschädigt werden. Nicht anders verhielte es sich, wenn sie dort sogar unmittelbar nach der Tat Zeugin des Geschehenen geworden wäre. Nur deshalb, weil sie sich seinerzeit in Deutschland aufgehalten hat, darf ihr keine bessere Rechtsstellung erwachsen. Dies gilt auch im Vergleich zu ihren Kindern, für die, wenn sie die Tat überlebt hätten, ebenfalls eine Entschädigung nach dem OEG entfiele.

Der erkennende Senat braucht hier nicht darüber zu befinden, wie Fälle zu behandeln sind, bei denen der tätliche Angriff im Inland erfolgt, die (primäre) Schädigung jedoch im Ausland eingetreten ist (vgl dazu Behn, ZfS 1993, 289, 290). Denn der vorliegende Fall bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass hinreichende Elemente der auf M vollendeten Tat bereits in Deutschland stattgefunden haben. Insoweit kann zur Abgrenzung auf die Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung zurückgegriffen werden: Es wäre darauf abzustellen, ob die zur Schädigung führende Handlung - alle sonstigen Voraussetzungen gegeben - überwiegend in den Geltungsbereich des Gesetzes fällt (vgl dazu Röhmel, JA 1977, 39, 43; Schoreit/Düsseldorf, OEG, 1977, § 1 RdNr 28). Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Bei der auf M begangenen Mordtat stellt sich allenfalls die Frage, ob der Täter vor seiner Abreise schon im Inland Vorbereitungshandlungen getroffen hat. Diese begründen keine hinreichende Anknüpfung für die Feststellung, dass die Schädigung durch eine dem Inland zuzurechnende Gewalttat verursacht wurde. Die in Frage kommenden Handlungselemente stellen keinen im Rechtssinne wesentlichen Teil des zum Tode der beiden Kinder führenden Geschehens dar. Zwar sind die durch Einspritzung tödlicher Substanzen begangenen Mordtaten ohne eine Vorbereitung, wie sie hier bereits in Deutschland getroffen worden sein könnte, nicht zu denken. Dieser Umstand macht sie jedoch nicht zu einem wesentlichen Bestandteil der eigentlichen Gewalttat, die sich auf M vollzogen hat. Dies zeigt schon die Überlegung, dass O. unbeschadet aller angeblich in Deutschland erfolgten Vorbereitungshandlungen von einem Vorsatz der Vergiftung seiner Kinder auf M wieder hätte ablassen können. Insofern ist auch das Vorbringen der Klägerin unerheblich, wonach die Bundesrepublik Deutschland an der Gewalttat in dem Sinne eine Mitverantwortung ("Unterstützung der Tatbegehung") treffe, dass der Täter nicht daran gehindert worden sei, mit den Kindern ins Ausland zu reisen. Im Übrigen steht dieser Darstellung die Feststellung des LSG entgegen, dass die Urlaubsreise auf einer im Mai 1996 getroffenen Vereinbarung der Eltern beruhte.

Ein seelischer Sekundärschaden, der auf eine im Ausland erfolgte Primärschädigung zurückzuführen ist, kann auch nicht im Wege eines Härteausgleichs (§ 1 OEG iVm § 89 BVG) entschädigt werden (Urteil vom 18. Juni 1996, aaO). Ein Härteausgleich darf nämlich nur stattfinden, wenn eine vom Gesetzgeber nicht bewusst in Kauf genommene Härte vorliegt und durch eine Leistungserbringung auch nicht die fundamentalen Vorschriften des sozialen Entschädigungsrechts ausgehöhlt oder umgangen werden. Die Beschränkung des Schutzes von Gewaltopfern auf im Geltungsbereich des OEG begangene Gewalttaten beruht gerade auf einer grundsätzlichen und ausnahmslosen Wertung des Gesetzgebers (so bereits Senatsurteil vom 18. Juni 1996, aaO mwN). Insofern stellt sich der Ausschluss einer Entschädigung bei der vorliegenden Fallkonstellation nach dem Sinn und Zweck des OEG nicht als unbefriedigendes, nicht hinnehmbares Ergebnis dar (vgl Urteil vom 18. Oktober 1995, SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 21, 23).

Ebenso wenig liegt eine verfassungswidrige Regelungslücke vor, die gegebenenfalls nach Art 3 Abs 1 und Art 20 Abs 1 GG zu schließen wäre. Die Bundesregierung hat bereits nach den Ereignissen vom 11. September 2001 in den USA herausgestellt, dass der deutsche Staat vor dererlei Schädigungen seine Bürger nicht zu schützen vermag; dies sei auch vor dem Hintergrund des unkalkulierbaren Kostenrisikos hinzunehmen (vgl BT-Drucks 14/7270). Eine solche Zielstellung ist angesichts des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums nicht willkürlich (BVerfGE 87, 234, 262 ff mwN). Dementsprechend verbietet sich auch unter dem Gesichtspunkt einer Kompensation entsprechender Schwächen im ausländischen oder zwischenstaatlichen Recht eine "lückenfüllende" Rechtsauslegung iS einer Erstreckung der deutschen Gewaltopferentschädigung auf Schockschäden, die infolge von Auslandstaten eingetreten sind (zur Rechtsfortbildung vgl Senatsurteil vom 16. April 2002, BSGE aaO S 202 ff = SozR aaO S 95 ff).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.



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