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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 08.08.2002
Aktenzeichen: 1 BvQ 27/02
Rechtsgebiete: BNotO, AVNot, BVerfGG, GG


Vorschriften:

BNotO § 6
BNotO § 3 Abs. 2
AVNot § 1 Abs. 1
AVNot § 3
BVerfGG § 32 Abs. 1
BVerfGG § 93 d Abs. 2
GG Art. 12 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvQ 27/02 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren über den Antrag

dem Land Niedersachsen, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle, aufzugeben, bis zur Entscheidung über eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, eine Notarstelle im Amtsgerichtsbezirk Hannover freizuhalten,

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Jaeger und die Richter Hömig, Hoffmann-Riem gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 8. August 2002 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle wird aufgegeben, bis zur Entscheidung über eine noch einzulegende Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, eine Notarstelle im Amtsgerichtsbezirk Hannover freizuhalten.

2. Das Land Niedersachsen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen für das Verfahren über die einstweilige Anordnung zu erstatten.

Gründe:

I.

Der isolierte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft die Ablehnung der Bewerbung um eine Notarstelle.

1. Der Antragsteller ist seit 1988 zur Rechtsanwaltschaft zugelassen und seitdem als Rechtsanwalt in Hannover tätig. Derzeit übt er seine Tätigkeit gemeinsam mit einer weiteren Rechtsanwältin und einem Anwaltsnotar aus. Er hat sich bereits seit 1996 in fünf Auswahlverfahren vergeblich auf eine ausgeschriebene Notarstelle im Amtsgerichtsbezirk Hannover beworben.

Am 3. Juni 2002 wurde auch die sechste Bewerbung des Antragstellers um eine von drei Notarstellen abschlägig beschieden. Der Antragsteller stellte am 11. Juni 2002 Antrag auf gerichtliche Entscheidung sowie Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Er begründete die Anträge mit Zweifeln an der Erforderlichkeit der gegenüber dem früheren Recht mit der Neufassung des § 6 BNotO erfolgten verschärften Beschränkung des Zugangs zum Amt des (Anwalts-)Notars. Zudem habe bei der Auswahl der Bewerber in der Realität mittlerweile das Kriterium der Note im Zweiten Staatsexamen alle anderen in der Allgemeinen Verfügung betreffend die Angelegenheiten der Notarinnen und Notare (AVNot) vom 1. März 2001 (Nds. Rpfl. S. 100) vorgesehenen Kriterien verdrängt. Erschwerend komme hinzu, dass die jahrelange Tätigkeit des Antragstellers als Vertreter des in seiner Sozietät tätigen Notars bei der Vergabe von Zusatzpunkten unberücksichtigt bleibe. Die von ihm zwischen 1990 und 2001 vorgenommenen 992 qualifizierten Beurkundungen hätten nur im Rahmen des Kriteriums "beurkundete Niederschriften" mit der Maximalpunktzahl 20 einen Niederschlag gefunden.

2. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung und auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde vom Senat für Notarsachen des Oberlandesgerichts Celle mit Beschluss vom 23. Juli 2002 zurückgewiesen. Die angefochtene Auswahlentscheidung sei rechtmäßig; die Anwendung der Kriterien des § 3 AVNot durch die Justizverwaltung sei nicht zu beanstanden.

3. Der Antragsteller beantragt, der Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle aufzugeben, bis zur Entscheidung über eine noch einzulegende Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, eine Notarstelle im Amtsgerichtsbezirk Hannover freizuhalten.

Zur Begründung des Antrags macht der Antragsteller geltend, es sei zu erwarten, dass aufgrund eines entsprechenden Schreibens der Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle eine Aushändigung der Bestellungsurkunden an die ausgewählten Mitbewerber bereits am 9. August 2002 zu erwarten sei und in absehbarer Zukunft überhaupt keine Notarstellen mehr ausgeschrieben würden.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, über den wegen Eilbedürftigkeit ohne Anhörung der Gegenseite entschieden werden kann, hat Erfolg.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 169 <172>; 91, 328 <332>; stRspr).

a) Der Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass die Entscheidungen im sechsten Bewerbungsverfahren (noch) nicht Gegenstand eines Hauptsacheverfahrens sind (vgl. BVerfGE 7, 367 <371>; 71, 350 <352>; stRspr).

b) Die - noch nicht anhängige - Verfassungsbeschwerde wäre jedenfalls in Bezug auf die Rüge der Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG nicht offensichtlich unbegründet. Es bleibt dem Hauptverfahren vorbehalten zu klären, ob - wie vom Antragsteller vorgebracht - das Kriterium der Punktzahl in der zweiten juristischen Staatsprüfung die übrigen Auswahlkriterien in der Praxis verdrängt und ob eine solche Handhabung des § 3 AVNot einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Berufsfreiheit darstellt. Dasselbe gilt für die Frage, ob es verfassungsrechtlich haltbar ist, eine langjährige Tätigkeit als Notarvertreter bei der Vergabe von Zusatzpunkten unter Hinweis auf eine systemwidrige Doppelbewertung nicht zu berücksichtigen.

2. Die danach gebotene Folgenabwägung führt vorliegend zu einem Überwiegen derjenigen Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, die der Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle aufgibt, bis zur Entscheidung über die - noch nicht anhängige - Verfassungsbeschwerde eine Notarstelle im Amtsgerichtsbezirk Hannover freizuhalten.

Unterbleibt die einstweilige Anordnung, hat die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg, so besteht die Gefahr, dass auf absehbare Zeit keine freie Notarstelle mit dem Antragsteller besetzt werden kann. Zudem wäre der Antragsteller auf ein neues Bewerbungsverfahren zu verweisen, dem insofern ein neuer Lebenssachverhalt zugrunde läge, als er mit anderen Bewerbern konkurrierte.

Sofern die einstweilige Anordnung erlassen wird, die Verfassungsbeschwerde aber später keinen Erfolg hat, muss die vorübergehende Vakanz einer Notarstelle in Kauf genommen werden. Bei den niedersächsischen Notaren handelt es sich um so genannte Anwaltsnotare nach § 3 Abs. 2 BNotO, die als Notare zur gleichzeitigen Amtsausübung neben dem Beruf des Rechtsanwalts bestellt werden. § 1 Abs. 1 AVNot geht von einem Bedürfnis für eine Notarbestellung bei einer durchschnittlichen Beurkundung von jährlich 400 Urkundsgeschäften aus. Angesichts dieser relativ geringen Zahl ist nicht zu besorgen, dass die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege durch die Vakanz einer Notarstelle beeinträchtigt werden könnte.

Der Antragsteller hat seinen Antrag nicht auf eine bestimmte Notarstelle bezogen. Mit der Beschränkung auf eine beliebige Notarstelle im Amtsgerichtsbezirk Hannover wird sowohl der Organisationsgewalt der Justizverwaltung (vgl. BVerfGE 73, 280 <292>) als auch dem Grundrecht der Mitbewerber aus Art. 12 Abs. 1 GG Rechnung getragen.

Ende der Entscheidung

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