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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 22.07.2005
Aktenzeichen: 1 BvR 1465/05
Rechtsgebiete: BVerfGG, BGB, FGG, HKiEntÜ


Vorschriften:

BVerfGG § 32
BVerfGG § 32 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 5 Satz 2
BVerfGG § 93 Abs. 1 Satz 1
BVerfGG § 93 d Abs. 2
BGB § 1909
FGG § 50
HKiEntÜ Art. 13
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 1 BvR 1465/05 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen 1. den Beschluss des Amtsgerichts Koblenz vom 22. Juni 2005 - 20 F 414/04 -,

2. a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 8. Juni 2005 - 13 WF 501/05 -,

b) den Beschluss des Amtsgerichts Koblenz vom 20. Mai 2005 - 20 F 414/04 -,

3. a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. Mai 2005 - 13 WF 455/05 -,

b) den Beschluss des Amtsgerichts Koblenz vom 4. Mai 2005 - 20 F 414/04 -,

4. a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 28. April 2005 - 13 WF 368/05 -,

b) den Beschluss des Amtsgerichts Koblenz vom 24. März 2005 - 20 F 414/04 -,

5. a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 11. März 2005 - 13 WF 216/05 -,

b) den Beschluss des Amtsgerichts Koblenz vom 11. Februar 2005 - 20 F 414/04 -,

6. a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 4. Januar 2005 - 13 UF 962/04 -,

b) den Beschluss des Amtsgerichts Koblenz vom 1. Dezember 2004 - 20 F 414/04 -

hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Untersagung der Vollstreckung der angegriffenen Beschlüsse

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Hohmann-Dennhardt und den Richter Hoffmann-Riem gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 22. Juli 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Vollziehung des Beschlusses des Amtsgerichts Koblenz vom 1. Dezember 2004 - 20 F 414/04 - in der Fassung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Koblenz vom 4. Januar 2005 - 13 UF 962/04 - wird einstweilen bis zur Entscheidung der Hauptsache, längstens bis zum 22. Januar 2006, ausgesetzt.

Für diese Dauer wird das Verbleiben des Kindes N. beim Beschwerdeführer angeordnet, es sei denn, das Kind ist zu seinem Schutze unterzubringen.

Gründe:

Die Kammer hat die Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG nach Bekanntgabe des Tenors schriftlich abgefasst.

A.

Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer im Namen und im Interesse seines 1994 geborenen Sohnes N. gegen Entscheidungen nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKiEntÜ) und nachfolgende Vollstreckungsentscheidungen.

Dem Beschwerdeführer steht aufgrund gerichtlicher Entscheidung die elterliche Sorge für seinen Sohn gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens, die in Belgien lebt, zu. Als gewöhnlicher Aufenthaltsort des Kindes ist der Wohnsitz der Mutter festgelegt. Am 4. September 2004 holte der Beschwerdeführer seinen Sohn zur Ausübung des Umgangsrechtes ab, brachte ihn jedoch in der Folge nicht wieder nach Belgien zurück.

Im Dezember 2004 entsprach das Amtsgericht einem nach dem HKiEntÜ gestellten Rückführungsantrag der Mutter des Kindes. Die Beschwerde des Beschwerdeführers wurde im Januar 2005 zurückgewiesen. In der Folge scheiterten mehrere Versuche zur Rückführung des Kindes, das teilweise massiven Widerstand leistete. Gegen den Beschwerdeführer wurden Vollstreckungsmaßnahmen angeordnet. Seine hiergegen gerichteten Rechtsmittel blieben weitestgehend ohne Erfolg.

Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer im Wesentlichen geltend, im fachgerichtlichen Verfahren hätte ein Verfahrenspfleger bestellt werden müssen. Die Rückführung verstoße gegen den nach Art. 13 HKiEntÜ maßgeblichen Willen des Kindes und dessen Wohl. Der Beschwerdeführer beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der die Vollstreckung der angegriffenen Beschlüsse untersagt werden soll.

Am Tag der Einlegung der Verfassungsbeschwerde lief das Kind fort und hinterließ einen Brief, in dem es schrieb, dass es sehr enttäuscht sei, dass der Beschwerdeführer es zurückbringe. Es wolle lieber sterben als zurück. Am selben Abend wurde der Beschwerdeführer darüber informiert, dass sich N. bei einem Verwandten befand. Mit amtsgerichtlichem Beschluss vom folgenden Tage wurde unter Bezugnahme auf ein fachärztliches Attest wegen akuter Selbstgefährdung die einstweilige Unterbringung des Kindes genehmigt.

B.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist im bezeichneten Umfange begründet.

Nach den §§ 32, 93 d Abs. 2 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung unter anderem dann vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 91, 328 <332>).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der Beschwerdeführer ist ausnahmsweise befugt, seinen Sohn zu vertreten, um dessen Interessen im Verfahren der Verfassungsbeschwerde wahrzunehmen. Zwar ist dies grundsätzlich Aufgabe eines im Falle eines Interessenwiderstreits zwischen dem Kind und seinem gesetzliche Vertreter gemäß § 1909 BGB zu bestellenden Ergänzungspflegers (vgl. BVerfGE 72, 122 <134 ff.>; BVerfG, Kammerbeschluss vom 13. Oktober 1994, NJW 1995, S. 2023). Zweifel an der Befugnis des Beschwerdeführers, seinen Sohn zu vertreten, stehen dem Erlass einer einstweiligen Anordnung gleichwohl nicht entgegen, weil eine ordnungsgemäße Vertretung nicht rechtzeitig sichergestellt war und dem Sohn des Beschwerdeführers dadurch Schaden drohte, dass er die Entscheidungen über seine Rückführung wegen seiner Minderjährigkeit nicht angreifen kann (vgl. BVerfGE 72, 122 <136>; BVerfG, Kammerbeschluss vom 13. Oktober 1994, NJW 1995, S. 2023). Der Ergänzungspfleger für N. wurde erst am 21. Juli 2005 bestellt, so dass nicht sichergestellt war, dass er dessen Rechte angesichts der möglicherweise unmittelbar bevorstehenden Rückführung wahrnehmen konnte.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht verfristet, da für den Beginn der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auf die Kenntnis des Ergänzungspflegers abzustellen ist (vgl. BVerfGE 75, 201 <215>).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht hat anlässlich eines Falles gegenläufiger Rückführungsanträge nach dem HKiEntÜ ausgeführt, dass, wenn die Eltern zu erkennen gegeben hätten, dass sie vornehmlich ihre eigenen Interessen durchsetzen wollten, ihre Interessen in einen Konflikt zu denen ihrer Kinder geraten könnten. In diesem Fall müsse den Kindern die Möglichkeit eingeräumt werden, ihr eigenes Interesse, das möglicherweise weder von den Eltern noch von dem Gericht zutreffend erkannt oder formuliert werde, in einer den Anforderungen des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) entsprechenden Eigenständigkeit im Verfahren geltend zu machen. Dieses geschehe bei Kindern, deren Alter und Reife eine eigene Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte nicht erlaube, durch einen Vertreter, den § 50 FGG als Verfahrenspfleger vorsehe (vgl. BVerfGE 99, 145 <163>). In einer solchen Situation keinen Pfleger zu bestellen, verletze die Grundrechte des Kindes. Danach erscheint es möglich, dass die Rückführungsentscheidung den Sohn des Beschwerdeführers in seinen Grundrechten verletzt. Denn zwischen seinen Eltern kam es, soweit ersichtlich, schon mehrfach zu Sorgerechts- und Umgangsverfahren. Gegenstand des Ausgangsverfahrens war auch die Frage, ob die Unterschrift der Mutter des N. unter eine den Aufenthalt regelnde Vereinbarung zwischen ihr und dem Beschwerdeführer echt war oder nicht. Die sorgeberechtigten Eltern erhoben damit wechselseitig den Vorwurf der Urkundenfälschung beziehungsweise der Falschaussage. Angesichts dessen erscheint es zumindest möglich, dass eine Situation vorlag, in der sie vornehmlich ihre eigenen Interessen durchsetzen wollten und in der deshalb die Bestellung eines Verfahrenpflegers für N. grundrechtlich geboten gewesen wäre. Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts ersetzt die Beteiligung des Jugendamtes am Verfahren nicht eine Interessenvertretung des Kindes.

3. Die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, überwiegen die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, wäre N. zunächst von Deutschland nach Belgien, und von dort dann wieder nach Deutschland zu verbringen. Je nach dem Ausgang des in Belgien anhängigen Sorgerechtsverfahrens würde sich dem möglicherweise ein erneuter Wechsel des Aufenthaltsortes anschließen. Ein Hin- und Rückführen des Kindes widerspricht grundsätzlich dessen Wohl. Angesichts des massiven Widerstandes, den N. bislang einer Rückführung entgegengesetzt hat und der letztlich dazu geführt hat, dass er wegen akuter Suizidgefahr vorübergehend in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie unterzubringen war, besteht die Gefahr einer erheblichen psychischen Schädigung des Kindes, sollte es nunmehr auf der Grundlage der Rückführungsbeschlüsse nach Belgien verbracht und einem drohenden mehrfachen Orts- und Bezugspersonenwechsel ausgesetzt werden.

Diese Umstände überwiegen die Nachteile, die entstünden, wenn das Kind infolge der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache beim Beschwerdeführer verbliebe.

Diese Nachteile bestünden im Wesentlichen in einer lediglich vorübergehenden Verfestigung der derzeitigen Situation. Die Beziehung des Kindes zum Umfeld des Beschwerdeführers könnte sich dadurch allenfalls noch geringfügig verstärken. Der Umgang der Mutter mit ihrem Kind würde nur vorübergehend erschwert und faktisch eingeschränkt. Die vorübergehende Beeinträchtigung der Zwecke des HKiEntÜ, durch sofortige Rückführung eine Kontinuität der Lebensverhältnisse des Kindes zu erreichen und Kindesentführungen allgemein entgegen zu wirken, ist angesichts der dem Kind drohenden Nachteile ausnahmsweise hinzunehmen, zumal die einstweilige Anordnung gerade bis zur Klärung der Hauptsache einen mehrfachen Ortswechsel des Kindes zu vermeiden hilft.

Mit der vorübergehenden Aussetzung des Vollzugs der Rückführungsentscheidungen entfällt für diese Dauer die Grundlage für die angegriffenen Vollstreckungsmaßnahmen.

Ende der Entscheidung

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