Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 07.05.2002
Aktenzeichen: 1 BvR 1699/01
Rechtsgebiete: GG, BVerfGG


Vorschriften:

GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
GG Art. 103 Abs. 1
BVerfGG § 93 a Abs. 2 Buchstabe b
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 1699/01 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 30. August 2001 - 20 W 272/01 -

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier und die Richterinnen Haas, Hohmann-Dennhardt

am 7. Mai 2002 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 30. August 2001 - 20 W 272/01 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Kammergericht zurückverwiesen.

2. Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein Prozesskostenhilfeverfahren.

I.

1. Im Klageverfahren will die Beschwerdeführerin Schadenersatz wegen einer ärztlichen Behandlung in der O. C. in der Zeit vom 25. November 1985 bis zum 20. Februar 1986 geltend machen. Sie sei während dieser Zeit ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen mit Psychopharmaka behandelt worden, was zu bleibenden Schäden geführt habe.

2. a) Das Landgericht Berlin hatte den Prozesskostenhilfeantrag mangels ausreichender Erfolgsaussichten zurückgewiesen. Zur Begründung hatte es unter anderem ausgeführt: Ein Zahlungsanspruch sei jedenfalls verjährt. Nach dem einschlägigen Recht der ehemaligen DDR seien im Falle ärztlicher Fehlbehandlung ausschließlich vertragliche Ansprüche in Betracht gekommen. Gemäß § 475 Nr. 3 ZGB der DDR sei für den Beginn der für vertragliche Ansprüche geltenden vierjährigen Verjährungsfrist derjenige Zeitpunkt maßgeblich gewesen, zu dem der Anspruch objektiv hätte geltend gemacht werden können. Demgegenüber habe nach § 475 Nr. 2 Satz 1 ZGB die Verjährungsfrist außervertraglicher Ansprüche erst dann zu laufen begonnen, wenn der Geschädigte positive Kenntnis vom Schaden und von der Person des Schädigers erlangt habe. Der Bundesgerichtshof habe offen gelassen, ob die in der Rechtsliteratur der DDR erwogene analoge Anwendung dieser Vorschrift auf vertragliche Schadenersatzansprüche wegen Gesundheitsschäden in Betracht komme. Nach Auffassung der Kammer sei maßgeblich auf die Rechtspraxis in der ehemaligen DDR abzustellen. Diese lasse indes eine analoge Anwendung des § 475 Nr. 2 Satz 1 ZGB auf Fälle der vorliegenden Art nicht erkennen. Somit sei ein vertraglicher Schadenersatzanspruch verjährt; die vierjährige Verjährungsfrist habe unmittelbar nach Abschluss der ärztlichen Behandlung im Februar 1986 zu laufen begonnen, und habe daher noch vor dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland geendet (Art. 231 § 6 Abs. 1 Satz 1 EGBGB).

b) Das Kammergericht wies die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts mit im Wesentlichen folgender Begründung zurück: Das Landgericht sei zu Recht von einem vertraglichen Anspruch ausgegangen. Der Senat schließe sich auch der Auffassung des Landgerichts an, dass allein die Verjährungsvorschrift des § 475 Nr. 3 ZGB einschlägig sei. Demnach sei ein vertraglicher Schadenersatzanspruch verjährt. Verjährung wäre aber auch eingetreten, wenn sich die Beschwerdeführerin auf einen außervertraglichen Anspruch berufen könnte.

3. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 30. August 2001 und rügt die Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG (i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und des Art. 103 Abs. 1 GG.

II.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ist angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der Beschluss des Kammergerichts vom 30. August 2001 - 20 W 272/01 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Die für die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. a) Aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein verankerten Rechtsstaatsprinzip folgt das Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <356>). So darf die "hinreichende Aussicht auf Erfolg" des Rechtsschutzbegehrens im Sinne des § 114 ZPO nicht unter Beantwortung schwieriger, bislang nicht geklärter Rechtsfragen verneint werden. Dadurch würde der unbemittelten Partei im Gegensatz zur bemittelten die Möglichkeit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und gegebenenfalls von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357 ff.>).

b) Diese Grundsätze werden durch den angegriffenen Beschluss des Kammergerichts verletzt. Die von der Beschwerdeführerin beabsichtigte Klage auf Schadenersatz wirft schwierige, bislang nicht geklärte Rechtsfragen auf. Nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Kammergerichts wäre ein vertraglicher Schadenersatzanspruch nicht verjährt, wenn der Fristlauf nicht gemäß § 475 Nr. 3 ZGB bereits mit der objektiv bestehenden Möglichkeit der Geltendmachung des Anspruchs begonnen hätte, sondern in analoger Anwendung des § 475 Nr. 2 Satz 1 ZGB erst mit Erlangung der Kenntnis von Schaden und Schädiger durch die Beschwerdeführerin. Der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil vom 3. Mai 1994 offen gelassen, ob § 475 Nr. 2 Satz 1 ZGB auf vertragliche Schadenersatzansprüche wegen Gesundheitsschäden analog anzuwenden ist, wie dies in der Rechtsliteratur der ehemaligen DDR erwogen wurde (vgl. BGHZ 126, 87 <96>). Diese schwierige Rechtsfrage ist danach in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht geklärt. Wie sie zu entscheiden ist, muss dem Verfahren in der Hauptsache vorbehalten bleiben. Daher durfte das Kammergericht diese Rechtsfrage nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entscheiden.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

Zurück