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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 06.02.2007
Aktenzeichen: 1 BvR 191/06
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 1 BvR 191/06 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10. November 2005 - IX ZR 189/02 -,

b) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 3. Mai 2005 - IX ZR 189/02 -

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs-gerichts durch den Präsidenten Papier und die Richter Steiner, Gaier am 6. Februar 2007 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 3. Mai 2005 - IX ZR 189/02 - und vom 10. November 2005 - IX ZR 189/02 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem allgemeinen Justizgewährungsanspruch aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs werden aufgehoben.

Die Sache wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.

2. Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Beschlüsse des Bundesgerichtshofs im Zusammenhang mit einer Nichtzulassungsbeschwerde.

1. Die Beschwerdeführerin, die für eine Rentnerin Sozialhilfeleistungen erbrachte, nahm aus übergegangenem Recht den geschiedenen Ehemann der Sozialhilfebezieherin auf Unterhalt gerichtlich in Anspruch. Das Amtsgericht wies die Klage ab, da schon dem Grunde nach kein Unterhaltsanspruch bestehe. Daraufhin beauftragte die Beschwerdeführerin eine Rechtsanwaltssozietät mit der Berufungseinlegung. Diese versäumte jedoch die Berufungsbegründungsfrist. Die Beschwerdeführerin entschloss sich daher zur Berufungsrücknahme und verlangte anschließend von den Mitgliedern der Sozietät Schadensersatz wegen der Verletzung der Pflichten aus dem Anwaltsvertrag.

Mit ihrer Klage auf Zahlung und Feststellung der Ersatzpflicht für alle künftigen Schäden scheiterte die Beschwerdeführerin vor dem Landgericht. Auch die Berufung der Beschwerdeführerin blieb ohne Erfolg. Das Oberlandesgericht gelangte zu der Ansicht, die Schlechterfüllung des Anwaltsvertrages habe sich nicht zum Nachteil der Beschwerdeführerin ausgewirkt, weil die Berufung in der Unterhaltssache erfolglos geblieben wäre. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision hielt das Gericht nicht für gegeben, nahm jedoch in die Gründe seines Urteils den Hinweis auf, dass "vom Wert her ... eine Nichtzulassungsbeschwerde in Betracht" komme.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Berufungsurteil legte die Beschwerdeführerin Beschwerde ein. In der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde beantragte sie, "die Revision gegen das Urteil des ... Oberlandesgerichts ... in vollem Umfang zuzulassen".

Mit Beschluss vom 3. Mai 2005 hat der Bundesgerichtshof die Nichtzulassungsbeschwerde - bei gleichzeitiger Festsetzung des Gegenstandswerts auf 28.905,35 € - als unzulässig verworfen. Die Beschwerdeführerin habe nicht dargelegt, dass die in § 26 Nr. 8 des Gesetzes, betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung (im Folgenden: EGZPO) normierte Wertgrenze von 20.000 € überschritten sei. Auch dem der Beschwerde beigefügten Berufungsurteil lasse sich zur Beschwer nichts entnehmen, weil die Berufungsanträge nicht wiedergegeben seien.

Die hiergegen von der Beschwerdeführerin erhobene Anhörungsrüge und Gegenvorstellung wies der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 10. November 2005 zurück. Der Senat habe in dem Beschluss vom 3. Mai 2005 sämtliche Argumente der Beschwerdeführerin in Erwägung gezogen.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 sowie von Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.

Entgegen der Auffassung des Bundesgerichtshofs seien im Zusammenhang mit der Statthaftigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde nur die Zulassungsgründe nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 der Zivilprozessordnung (im Folgenden: ZPO) darzulegen, nicht jedoch der Wert der Beschwer. Es habe daher kein Anlass bestanden, entsprechende Ausführungen zu machen, zumal die Beschwerdeführerin ihren Anspruch auch in der dritten Instanz uneingeschränkt weiterverfolgt und das Oberlandesgericht obendrein abschließend festgestellt habe, dass der Wert der Beschwer für eine Nichtzulassungsbeschwerde vorliege. Der Bundesgerichtshof habe der Beschwerdeführerin mithilfe einer von Verfassungs wegen nicht mehr hinnehmbaren Überspannung der Darlegungserfordernisse eine Sachentscheidung verwehrt.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Justizgewährungsanspruchs der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.

1. Die angefochtenen Entscheidungen verletzen den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes.

Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 <26>; 41, 323 <326 f.>; 42, 128 <130>; 44, 302 <305 f.>; 52, 203 <207>; 69, 381 <385>). Hieraus folgt, dass auch bei Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsmittels die Anforderungen an die Darlegungslast nicht überspannt werden dürfen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. November 1994 - 2 BvR 2079/93 -, DVBl 1995, S. 35 f.).

a) Hierbei begegnet es allerdings keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass der Bundesgerichtshof für die Nichtzulassungsbeschwerde im Hinblick auf die Zulässigkeitsvoraussetzung aus § 26 Nr. 8 EGZPO verlangt, der Beschwerdeführer müsse innerhalb der laufenden Begründungsfrist nicht nur die Revisionszulassungsgründe vortragen, sondern auch darlegen, dass er mit der beabsichtigten Revision die Abänderung des Berufungsurteils in einem Umfang, der die Wertgrenze von 20.000 € übersteige, erstrebe (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2002 - V ZR 148/02 -, NJW 2002, S. 2720 f.; Beschluss vom 15. Juli 2003 - XI ZR 93/02 -, BGHR EGZPO, § 26 Nr. 8 Darlegungen 1). Diese Auffassung ist zumindest vertretbar; denn es leuchtet ohne Weiteres ein, dass die Kenntnis von dem in der Revisionsinstanz beabsichtigten Rechtsschutzziel und Informationen zur Bewertung dieses Anliegens unverzichtbar sind, um dem Bundesgerichtshof die Prüfung der Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde auch hinsichtlich des Überschreitens der Wertgrenze zu ermöglichen. Hiernach scheidet eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts aus, weshalb die aufgeworfenen Fragen der Darlegungslast als Teil der fachgerichtlichen Sachverhaltsauslegung und Rechtsanwendung einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht zugänglich sind (vgl. BVerfGE 1, 418 <420>).

Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn an die Darlegungen einer Partei zur Zulässigkeit des Rechtsmittels Anforderungen gestellt werden, die nicht mehr dem Erfordernis einer sachgerechten Zulässigkeitsprüfung durch das Rechtsmittelgericht geschuldet sind. Unter diesen Umständen wird dem Rechtsmittelführer die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>).

b) So liegt der Fall hier. Die Beschwerdeführerin hatte mit der Nichtzulassungsbeschwerde beantragt, die Revision "in vollem Umfang" zuzulassen. Der für die Frage der Zulassung des Rechtsmittels maßgebliche Beschwerdegegenstand entsprach folglich ohne jede Einschränkung dem Umfang des Unterliegens in der Vorinstanz. Nachdem das Oberlandesgericht die Berufung der Beschwerdeführerin zurückgewiesen und im Hinblick darauf in den Urteilsgründen den ausdrücklichen Hinweis gegeben hatte, "vom Wert her" komme "eine Nichtzulassungsbeschwerde in Betracht", war auch ohne Wiedergabe der Klageanträge in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde und in dem Berufungsurteil das Überschreiten der Wertgrenze hinreichend geklärt. Diese Umstände waren für das Revisionsgericht zudem, wie von ihm gefordert, innerhalb noch laufender Begründungsfrist erkennbar. Das Berufungsurteil soll nach § 544 Abs. 1 Satz 3 ZPO der Beschwerdebegründung beigefügt werden, und dies war - ausweislich der Begründung des angegriffenen Beschlusses vom 3. Mai 2005 - auch beachtet worden.

Vor dem Hintergrund dieser offenkundigen Umstände (vgl. § 291 ZPO), deren Berücksichtigung auch im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entspricht (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2004 - V ZR 222/03 -, NJW 2004, S. 1960 <1961>), überspannen die angegriffenen Entscheidungen die Anforderungen, die an die Darlegungen zum Wert des Beschwerdegegenstandes zu stellen sind. Es gibt keine sachlich gerechtfertigten Gründe, von der Beschwerdeführerin weitere Darlegungen zur Überschreitung der Wertgrenze aus § 26 Nr. 8 EGZPO zu fordern. Selbst wenn die Beschwerdeführerin, um das Darlegungsgebot zu erfüllen, zur Angabe eines bezifferten Betrages gehalten wäre, hätte dies gegenüber der hier erfolgten Erklärung einer Anfechtung in vollem Umfang und der Einschätzung des Oberlandesgerichts zur wertmäßigen Zulässigkeit des Rechtsmittels keinen weiterreichenden Informationsgehalt. Das Revisionsgericht ist weder in dem einen noch in dem anderen Fall der Überprüfung enthoben. Dass diese auch im vorliegenden Fall möglich war, zeigt sich an der Festsetzung des Gegenstandswertes des Beschwerdeverfahrens, die der Bundesgerichtshof mit der Verwerfung der Beschwerde verbunden hat.

2. Die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs sind deshalb gemäß § 93 c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, ohne dass es auf die weiter erhobenen Rügen noch ankommt. Die Sache ist an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Ende der Entscheidung

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