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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 08.03.2005
Aktenzeichen: 1 BvR 1986/04
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 6 Abs. 2 Satz 1
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 1986/04 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über die Verfassungsbeschwerde

gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 9. Juli 2004 - 12 UF 261/03 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Hohmann-Dennhardt und den Richter Hoffmann-Riem am 8. März 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 9. Juli 2004 - 12 UF 261/03 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes; er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

2. Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu ersetzen.

3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für die Verfassungsbeschwerde wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aussetzung eines Umgangs des Beschwerdeführers mit seinem Sohn.

1. Der Beschwerdeführer ist Vater des am 24. Juni 1996 geborenen T., der aus der Ehe des Beschwerdeführers mit der Kindesmutter hervorgegangen ist. Seit der Ehescheidung im Februar 2002 lebt das Kind bei der Kindesmutter, die auch das alleinige Sorgerecht ausübt. In den Jahren 2000 bis August 2002 fanden keine persönlichen Umgangskontakte zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kind statt.

Mit Beschluss vom 26. September 2003 regelte das Amtsgericht W. den Umgang des Beschwerdeführers mit dem Kind dahingehend, dass der Beschwerdeführer jedes zweite Wochenende sowie in den Ferien Recht auf Umgang mit seinem Sohn habe. Das Kind stehe durch eine permanente Beeinflussung der Kindesmutter in einem gravierenden Loyalitätskonflikt. Die jeweiligen Annäherungen des Kindes an den Beschwerdeführer bei mehreren begleiteten Umgängen verdeutlichten, dass das Problem für die Umgangsstörungen nicht im Vater-Sohn-Verhältnis zu suchen sei.

Auf Beschwerde der Kindesmutter hin änderte das Oberlandesgericht Celle nach Anhörung des Kindes mit Beschluss vom 9. Juli 2004 den umgangsrechtlichen Beschluss des Amtsgerichts ab und schloss das Recht des Beschwerdeführers zum persönlichen Umgang mit dem Kind bis zum 8. Juli 2005 aus. Der Junge habe sich bei der Anhörung entschieden gegen jedes Zusammentreffen mit seinem Vater ausgesprochen und erklärt, er wolle ihn nicht sehen. Die vom Kind genannten Gründe ließen erkennen, dass sich das Kind von dem Beschwerdeführer in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt fühle. Anhaltspunkte für eine Beeinflussung des Kindes durch die Kindesmutter habe die Anhörung nicht ergeben. Selbst wenn aber eine - ungewollte - Beeinflussung vorliegen sollte, sei das Kind inzwischen voll davon überzeugt, dass es mit seinem Vater nichts zu tun haben wolle. Der zeitweilige Ausschluss des persönlichen Umgangs diene dazu, dass das Kind Abstand von den es belastenden Ereignissen im Zusammenhang mit den Bemühungen des Beschwerdeführers um Kontakt zu ihm gewinne.

2. Der Beschwerdeführer rügt unter anderem eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 103 Abs. 1 GG. Das Oberlandesgericht habe einseitig Erwägungen zum Persönlichkeitsrecht des Kindes zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Der durch die Aussetzung des Umgangs erfolgte Eingriff in das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 2 GG sei nicht gerechtfertigt, die betroffenen Grundrechtsgüter seien nicht gegeneinander abgewogen worden.

3. Das Bundesverfassungsgericht hat der Niedersächsischen Landesregierung und der Beteiligten des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Niedersächsische Landesregierung hat von einer inhaltlichen Stellungnahme abgesehen. Die Beteiligte des Ausgangsverfahrens vertritt die Auffassung, die angegriffene Entscheidung sei verfassungskonform, vor allem habe das Oberlandesgericht die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens nicht verkannt. Die ablehnende Haltung des zum Entscheidungszeitpunkt achteinhalbjährigen Kindes dem Beschwerdeführer gegenüber sei zu respektieren gewesen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b) BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG sind gegeben. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 2 GG.

1. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>; 64, 180 <187 f.>; 79, 51 <62>). Das Umgangsrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils steht ebenso wie die elterliche Sorge des anderen Elternteils unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Können sich die Eltern über die Ausübung des Umgangsrechts nicht einigen, haben die Gerichte eine Entscheidung zu treffen, die sowohl die beiderseitigen Grundrechtspositionen der Eltern als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigt (vgl. BVerfGE 31, 194 <206>; 64, 180 <188>). Die Gerichte müssen sich daher im Einzelfall um eine Konkordanz der verschiedenen Grundrechte bemühen. Dabei ist Grundrechtsschutz auch durch die Gestaltung des Verfahrens sicherzustellen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>); das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung geeignet und angemessen sein, um der Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen wirkungsvoll zu dienen (vgl. BVerfGE 84, 34 <49>). Diesen Anforderungen werden die Gerichte nur gerecht, wenn sie sich mit den Besonderheiten des Einzelfalles auseinandersetzen, die Interessen der Eltern sowie deren Einstellung und Persönlichkeit würdigen und auf die Belange des Kindes eingehen (vgl. BVerfGE 31, 194 <210>). Der Wille des Kindes ist zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist. Voraussetzung hierfür ist, dass das Kind in dem gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit erhält, seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden zu lassen. Die Gerichte müssen ihr Verfahren deshalb so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). Grundsätzlich bleibt es den Fachgerichten überlassen, wie sie den Willen des Kindes ermitteln. Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch, ob fachgerichtliche Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>).

2. Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Im vorliegenden Fall ist das Oberlandesgericht zwar zutreffend davon ausgegangen, dass das Kindeswohl Richtlinie für die Entscheidung des Umgangsrechts sein müsse. Es hat jedoch seine Entscheidung allein auf den geäußerten Willen des achteinhalbjährigen Kindes gestützt. Aus der Entscheidungsbegründung geht nicht hervor, dass das Oberlandesgericht geprüft hat, inwiefern dieser geäußerte Kindeswille auch tatsächlich mit dem Kindeswohl im Einklang steht. Hierzu bestand jedoch Anlass: Bereits die Annahme des Oberlandesgerichts, dass der Wille des Kindes unbeeinflusst von der Kindesmutter sei, widerspricht den in erster Instanz gemachten Feststellungen. Beispielsweise hatte das Kind die vom Oberlandesgericht zitierten Äußerungen, der Beschwerdeführer habe eine Angel zerbrochen, bereits in der Anhörung des Amtsgerichts vom 28. August 2002 getätigt. Auf Nachfrage des Amtsgerichts hatte das Kind seinerzeit eingeräumt, dass es diesen Vorgang gar nicht selbst erlebt, sondern lediglich von der Mutter erzählt bekommen habe; es habe selbst keine Erinnerung mehr an diesen Vorfall. Das Oberlandesgericht hätte daher eingehender, etwa dem Antrag des Beschwerdeführers gemäß mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens oder mittels eines Verfahrenspflegers, prüfen müssen, ob der Umgangsausschluss nicht nur dem vom Kind geäußerten Willen, sondern auch seinem Wohl entspricht. Überdies hat das Oberlandesgericht die grundrechtlichen Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 GG auch insoweit verkannt, als es nicht unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten geprüft hat, ob ein begleiteter Umgang des Kindes mit dem Beschwerdeführer in Betracht komme, zumal sich ein solcher Umgang nach den Feststellungen des Amtsgerichts bereits schon einmal bewährt hatte. So hatte das Kind bei Zusammentreffen mit dem Beschwerdeführer stets seine Vorbehalte gegenüber diesem nach kurzer Zeit des Zusammenseins aufgegeben.

3. Die angegriffene Entscheidung beruht auf der festgestellten Verletzung des Art. 6 Abs. 2 GG. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Oberlandesgericht bei Beachtung der sich aus Art. 6 Abs. 2 GG ergebenden Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

4. Da der angegriffene Beschluss schon wegen einer Verletzung des Art. 6 Abs. 2 GG aufzuheben ist, kann dahinstehen, ob die Entscheidung darüber hinaus gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 103 Abs. 1 GG verstößt.

5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Verfassungsbeschwerde beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für die Verfassungsbeschwerde wird auf 8.000 Euro festgesetzt (§ 37 Abs. 2 RVG, vgl. BVerfGE 79, 365 <369>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.



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