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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 13.07.2005
Aktenzeichen: 1 BvR 215/05
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 6 Abs. 2 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 1 BvR 215/05 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 20. Dezember 2004 - II-9 UF 177/04 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Hohmann-Dennhardt und den Richter Hoffmann-Riem am 13. Juli 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 20. Dezember 2004 - II-9 UF 177/04 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes; er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.

2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu ersetzen.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Einräumung eines lediglich begleiteten Umgangs.

Der Beschwerdeführer ist Vater des am 6. Dezember 2001 geborenen D., der aus der gemeinsamen Ehe des Beschwerdeführers mit der Kindesmutter hervorgegangen ist und seit der Trennung der Kindeseltern im August 2002 zusammen mit dem aus der Vorehe der Kindesmutter hervorgegangenen dreizehnjährigen Halbbruder S. bei der Kindesmutter lebt.

Mit Beschluss vom 21. September 2004 regelte das Amtsgericht S. nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Sachverständigen den Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Sohn dahingehend, dass er ihn wöchentlich mehrere Stunden zu sich nehmen dürfe. Der Beschwerdeführer habe ferner das Recht, das Kind S. alle zwei Wochen mehrstündig zu sich zu nehmen. Auch die von der Gutachterin festgestellten pädophilen Neigungen des Beschwerdeführers rechtfertigten keine Beschränkung des Umgangsrechts auf begleiteten Umgang. Die Sachverständige habe insoweit verdeutlicht, dass eine Pädophilie im Sinne einer behandlungsbedürftigen Störung beim Beschwerdeführer nicht vorliege. Im Übrigen sei von Bedeutung, dass nach den Angaben des Fachpsychologen der psychosomatischen Kliniken D. Hinweise auf eine Einschränkung der Verhaltenskontrolle des Beschwerdeführers nicht vorlägen.

Auf die Beschwerde der Kindesmutter hin änderte das Oberlandesgericht den Beschluss des Amtsgerichts mit Beschluss vom 20. Dezember 2004 dahingehend ab, dass der Beschwerdeführer die beiden Kinder nur begleitet sehen dürfe. Der Umgang mit dem Kind S. dürfe nicht gegen dessen ausdrücklich erklärten Willen erfolgen. Es bestehe die konkrete Gefahr eines sexuellen Missbrauchs der beiden Kinder. Die Therapeutin des Kindes S. sei der Überzeugung, dass die bei diesem Kind aufgetretenen schulischen und häuslichen Probleme auf traumatischen Erlebnissen beruhten und keine Zweifel bestünden, dass S. ein sexualbezogenes Verhalten seitens des Beschwerdeführers erlebt habe. Allein die verifizierte pädophile Neigung berge im Umgang mit den beiden Kindern eine konkrete Gefahr in sich.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Rechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Oberlandesgericht habe unverhältnismäßig in das Elternrecht des Beschwerdeführers eingegriffen. Es habe seinen Beschluss ohne mündliche Verhandlung, ohne Anhörung der Kinder und ohne weitere Anhörung der Sachverständigen erlassen. Dabei habe das Oberlandesgericht gemeint, aus eigener Kenntnis beurteilen zu können, dass eine pädophile Neigung immer die Gefahr für die betroffenen Kinder darstelle, was nicht den Ausführungen der Sachverständigen entspreche.

Die Verfassungsbeschwerde ist der Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Kindesmutter als Verfahrensbeteiligter des Ausgangsverfahrens zugestellt worden. Beide haben von einer inhaltlichen Stellungnahme abgesehen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Elternrechts des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt ist (§§ 93 b, 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden; die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Das Oberlandesgericht verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, weil es in der angegriffenen Entscheidung die Anforderungen dieses Grundrechts hinsichtlich der Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens verkannt hat.

a) Können sich die Eltern über die Ausübung des Umgangsrechts nicht einigen, haben die Gerichte eine Entscheidung zu treffen, die sowohl die beiderseitigen Grundrechtspositionen der Eltern als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigt (vgl. BVerfGE 31, 194 <206>; 64, 180 <188>). Die Gerichte müssen sich im Einzelfall um eine Konkordanz der verschiedenen Grundrechte bemühen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>); das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung geeignet und angemessen sein, um der Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen wirkungsvoll zu dienen (vgl. BVerfGE 84, 34 <49>). Diesen Anforderungen werden die Gerichte nur gerecht, wenn sie sich mit den Besonderheiten des Einzelfalles auseinander setzen, die Interessen der Eltern sowie deren Einstellung und Persönlichkeit würdigen und auf die Belange des Kindes eingehen (vgl. BVerfGE 31, 194 <210>). Die Gerichte müssen ihr Verfahren so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>).

b) Diesen Anforderungen ist das Oberlandesgericht nicht gerecht geworden. Ausweislich seiner Beschlussbegründung ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass die Sachverständige verdeutlicht habe, eine Pädophilie im Sinne einer behandlungsbedürftigen Störung liege beim Beschwerdeführer nicht vor. Auch habe die Sachverständige in ihrer fast dreistündigen Anhörung überzeugend dargelegt, dass es keinen Hinweis darauf gebe, dass der Junge S. missbraucht worden sei. Das Amtsgericht hat diese Darlegungen der Sachverständigen im Rahmen eines persönlichen Gesprächs selbst aufgenommen. Dementsprechend ist anzunehmen, dass es die Ausführungen der Sachverständigen im Rahmen seiner Entscheidungsbegründung authentisch interpretiert hat. Hierfür spricht auch die weiterhin getroffene Aussage der Sachverständigen, sie habe unbegleitete Umgangskontakte vorgeschlagen, weil sie keine Anhaltspunkte für eine ungünstige Prognose beim Beschwerdeführer habe. Auch ein Fachpsychologe der D... Kliniken habe darauf verwiesen, dass er beim Beschwerdeführer, selbst als dieser sich in einem stark belasteten psychischen Zustand befunden habe, keine Hinweise auf eine Lockerung der Kontrolle feststellen habe können.

Das Oberlandesgericht kann sich von Verfassungs wegen zwar über solche Feststellungen eines Sachverständigengutachtens hinwegsetzen, hierfür ist aber Voraussetzung, dass es eine anderweitige zuverlässige Grundlage für seine am Kindeswohl orientierte Entscheidung hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 5. Juli 2001 - 1 BvR 1055/01 -, FamRZ 2001, S. 1285 f.). Eine solche hinreichende Tatsachengrundlage ist vorliegend indes nicht ersichtlich: Das Oberlandesgericht hat zwar in Übereinstimmung mit der gerichtlich bestellten Sachverständigen festgestellt, der Beschwerdeführer zeige eindeutige Verhaltensweisen, die auch pädophile Täter zeigten. Seine Schlussfolgerung, dementsprechend liege in der Person des Beschwerdeführers eine konkrete Gefährdung der beiden Kinder vor, steht jedoch im erheblichen Widerspruch zu den von ihm selbst zitierten, in der Anhörung vor dem Amtsgericht getroffenen Ausführungen der Sachverständigen. Diese hat dargelegt, die Tatsache einer pädophilen Neigung bedeute lediglich, dass ein (auch körperlicher) Kontakt mit Kindern einen Erregungszustand auszulösen vermöge. Das besage jedoch nicht, dass Personen mit pädophilen Neigungen auch pädophil agierten. Bei dem Beschwerdeführer seien keine Anhaltspunkte vorhanden, die auf eine Einschränkung seiner Verhaltenskontrolle im Sinne einer Gefährdung der Kinder durch sexuelles Verhalten hindeuteten. Demgegenüber hat das Gericht seine Annahme einer konkreten Gefahr im Wesentlichen allein auf den Verdacht der Kindertherapeutin gestützt, dass es bereits einmal zu einem sexualbezogenen Übergriff auf das Kind S. gekommen sei. Dabei hat sich das Oberlandesgericht jedoch nicht mit der ausführlich begründeten Darlegung der Sachverständigen auseinander gesetzt, dass der therapeutische Deutungsansatz der Kindertherapeutin nicht den Anforderungen einer wissenschaftlich fundierten Diagnostik genüge. Das Verhalten des Kindes S. könne auf eine unsichere Bindung des Kindes zurückgeführt werden.

Angesichts der Intensität des Eingriffs in das Elternrecht des Beschwerdeführers einerseits sowie der unsicheren Tatsachengrundlage andererseits hätte das Oberlandesgericht deshalb die von ihm angenommene Gefährdungslage eingehender überprüfen müssen. Die Annahme einer Entscheidungsreife, ohne dass das Gericht zuvor die gerichtlich bestellte Sachverständige nochmals angehört, ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt, die Kindeseltern oder das Kind S. angehört hat, genügt nicht den Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG an eine hinreichende gerichtliche Sachverhaltsermittlung und verletzt den Beschwerdeführer in diesem Recht.

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Im Übrigen wird von einer Begründung abgesehen (§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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