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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 18.01.2002
Aktenzeichen: 1 BvR 2284/95
Rechtsgebiete: TierSchG, BVerfGG, GG


Vorschriften:

TierSchG § 4 a Abs. 1
TierSchG § 4 a Abs. 2 Nr. 2
TierSchG § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2
BVerfGG § 93 c Abs. 1
BVerfGG § 95 Abs. 2
BVerfGG § 34 a Abs. 2
GG Art. 4 Abs. 1
GG Art. 4 Abs. 2
GG Art. 3 Abs. 3 Satz 1
GG Art. 12 Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2284/95 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

a) unmittelbar gegen

das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 1995 - BVerwG 3 C 31.93 -,

b) mittelbar gegen

§ 4 a Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 des Tierschutzgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Februar 1993 (BGBl I S. 254)

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Jaeger und die Richter Hömig, Bryde

am 18. Januar 2002 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 1995 - BVerwG 3 C 31.93 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen für das so genannte Schächten, das heißt das Schlachten warmblütiger Tiere ohne vorherige Betäubung.

1. Die Beschwerdeführerin, eine GmbH, beliefert Muslime in und außerhalb einer zu einer Moschee gehörenden Kantine mit Fleisch- und Wurstwaren. 1988 beantragte sie die Genehmigung, "Schlachtungen nach islamischem Ritus durchführen zu dürfen". Der Antrag wurde abgelehnt. Widerspruch, Klage und Berufung blieben erfolglos. Mit dem angegriffenen Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht die Revision der Beschwerdeführerin gegen das Berufungsurteil zurückgewiesen (vgl. BVerwGE 99, 1):

Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach der zweiten Alternative des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 des Tierschutzgesetzes (im Folgenden: TierSchG) seien nicht erfüllt. Die Kunden der Beschwerdeführerin gehörten keiner Religionsgemeinschaft an, die ihren Mitgliedern durch zwingende Vorschriften den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersage. Der Begriff der Religionsgemeinschaft unterliege staatlicher Beurteilung. Es müsse sich um eine Gemeinschaft handeln, die sich nach außen eindeutig abgrenze und nach innen in der Lage sei, ihre Mitglieder zwingenden Vorschriften zu unterwerfen.

§ 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG verlange die objektive Feststellung zwingender Vorschriften einer solchen Gemeinschaft über das Betäubungsverbot beim Schlachten. Erforderlich sei das eindeutige Vorliegen von Normen, die nach dem staatlicher Beurteilung unterliegenden Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft als zwingend zu gelten hätten. Eine individuelle Sicht, die allein auf die jeweilige subjektive - wenn auch als zwingend empfundene - religiöse Überzeugung der Mitglieder abstelle, sei mit Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des Gesetzes nicht vereinbar.

In dieser Auslegung stehe § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG nicht im Widerspruch zur Verfassung. Die Vorschrift verletze insbesondere nicht das Grundrecht der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. In dieses Recht werde durch die Versagung einer Ausnahme vom Schächtverbot nicht eingegriffen, wenn die religiöse Überzeugung dem Betroffenen nur den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere verbiete. Das Verbot hindere die Anhänger einer solchen Religion nicht an einer dieser entsprechenden Lebensgestaltung. Sie seien weder rechtlich noch tatsächlich gezwungen, entgegen ihrer religiösen Überzeugung Fleisch nicht geschächteter Tier zu verzehren. Mit dem Schächtungsverbot werde nicht der Verzehr des Fleischs geschächteter Tiere verboten. Sie könnten sowohl auf Nahrungsmittel pflanzlichen Ursprungs und auf Fisch ausweichen als auch auf Fleischimporte aus anderen Ländern zurückgreifen. Zwar möge Fleisch heute ein allgemein übliches Nahrungsmittel sein. Der Verzicht darauf stelle jedoch keine unzumutbare Beschränkung der persönlichen Entfaltungsfreiheit dar.

Nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts gebe es für die Sunniten, in denen die Beschwerdeführerin die hier maßgebliche Religionsgemeinschaft sehe, wie für die Muslime insgesamt keine zwingenden Glaubensvorschriften, die den Genuss des Fleischs von Tieren verböten, die vor dem Schlachten betäubt worden seien.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 4 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 1 GG.

Die Versagung der Ausnahmegenehmigung für das Schächten verstoße gegen Art. 4 Abs. 2 GG. Das Bundesverwaltungsgericht habe verkannt, dass das nach islamischem Ritus gebotene Schlachten, so wie es die nach islamischen Regeln strenggläubigen Kunden der Beschwerdeführerin verstünden, Ausdruck der religiösen Überzeugung und damit Bestandteil der Religionsausübung sei. So wie es § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG auslege, stehe die Norm nicht mit der Verfassung in Einklang, weil große Teile der in Deutschland lebenden islamischen Bevölkerung in ihrer ungestörten Religionsausübung gehindert seien.

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts verletze die Beschwerdeführerin zudem in ihrem Grundrecht auf freie Berufsausübung. Die Versagung einer Ausnahmegenehmigung berühre dieses Grundrecht, weil dies einem Berufsverbot gleichkomme. Sie versorge ausschließlich strenggläubige Kunden, die aus religiösen Gründen auf Fleisch angewiesen seien, das von betäubungslos geschlachteten Tieren stamme. Damit sei die Versagung der Ausnahmegenehmigung auch in Ansehung der Belange des Tierschutzes nicht mehr verhältnismäßig.

Soweit das Bundesverwaltungsgericht eine Ungleichbehandlung im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verneint habe, könne auch dem nicht gefolgt werden. Unbestritten und sicher auch gerichtsbekannt sei, dass Juden regelmäßig eine Ausnahmegenehmigung gemäß § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG erhielten und ihnen das betäubungslose Schächten gestattet werde. Es stelle eine unzulässige Diskriminierung gläubiger Muslime dar, diesen zu verwehren, was anderen erlaubt werde.

3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben die Justizbehörde für den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg und der Deutsche Tierschutzbund Stellung genommen. Die Justizbehörde hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93 c Abs. 1 BVerfGG liegen vor. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin.

1. Dies ergibt sich im Wesentlichen aus den Gründen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2002 - 1 BvR 1783/99 -, in dem sich dieses auch schon mit der hier angegriffenen Entscheidung befasst hat (vgl. Urteilsumdruck, S. 5 f. und 24 f.). Danach steht § 4 a Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG bei verfassungsgemäßer Auslegung mit dem Grundgesetz im Einklang. Dagegen wäre § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG verfassungswidrig, wenn der Tatbestand dieser Regelung so zu verstehen wäre, wie er im angegriffenen Urteil ausgelegt worden ist. Dieses Ergebnis lässt sich jedoch durch eine Auslegung der Tatbestandsmerkmale der "Religionsgemeinschaft" und der "zwingenden Vorschriften" vermeiden, die dem Grundrecht der Berufsfreiheit in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Rechnung trägt.

Dass die Beschwerdeführerin des vorliegenden Verfahrens eine juristische Person des Privatrechts ist, ändert nichts daran, dass auch sie sich auf die Berufsfreiheit berufen kann. Sie hat ihren Sitz in Deutschland und ist damit inländische juristische Person. Derartige juristische Personen können gemäß Art. 19 Abs. 3 GG grundrechtsfähig sein, soweit das jeweilige Grundrecht seinem Wesen nach auf eine juristische Person anwendbar ist (vgl. auch BVerfGE 21, 207 <208 f.>). Auf das Grundrecht der Berufsfreiheit trifft dies grundsätzlich zu. Schutzgut dieses Grundrechts ist bei juristischen Personen die Freiheit, eine Erwerbszwecken dienende Tätigkeit, insbesondere ein Gewerbe, zu betreiben, soweit diese Tätigkeit ihrem Wesen und ihrer Art nach in gleicher Weise von einer juristischen wie von einer natürlichen Person ausgeübt werden kann (vgl. BVerfGE 50, 290 <363>; 65, 196 <209 f.>; 95, 173 <181>). Diese Voraussetzung ist bei der Beschwerdeführerin erfüllt. Nach dem vorgelegten Handelsregisterauszug sind Gegenstand ihres Unternehmens unter anderem der An- und Verkauf von Lebensmitteln mit allen damit im Zusammenhang stehenden Geschäften, unter Einschluss also auch des Schächtens, für das die Beschwerdeführerin im Ausgangsverfahren die Genehmigung nach § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 BVerfGG erstrebt hat. Diese Tätigkeit kann ihrem Wesen und ihrer Art nach in gleicher Weise von einer juristischen wie von einer natürlichen Person ausgeübt werden.

Ob sie im Hinblick auf den Sitz der Beschwerdeführerin im Inland von Art. 12 Abs. 1 GG erfasst wird, kann deshalb zweifelhaft sein, weil sämtliche Gesellschafter der Beschwerdeführerin türkische Staatsangehörige sind (vgl. dazu einerseits Krüger, in: Sachs, Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 19 Rn. 51; Jarass, in: Ders./Pieroth, Grundgesetz, 5. Aufl. 2000, Art. 12 Rn. 10, Art. 19 Rn. 17; andererseits Dreier, in: Ders., Grundgesetz, Bd. 1, 1996, Art. 19 III Rn. 32). Die Frage bedarf hier keiner Entscheidung, weil der Beschwerdeführerin jedenfalls - wie dem Beschwerdeführer in dem mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2002 entschiedenen Verfahren - der Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG zusteht.

Art. 4 Abs. 1 und 2 GG tritt dabei vorliegend nicht in der Weise verstärkend zu diesem Grundrecht hinzu, wie dies bei natürlichen Personen der Fall ist, die den Beruf des Schächters ausüben (vgl. dazu das Urteil vom 15. Januar 2002 - 1 BvR 1783/99 -, Umdruck S. 14 f.). Als juristische Person des privaten Rechts verfolgt die Beschwerdeführerin gewerbliche Ziele. Sie dient also nicht religiösen oder weltanschaulichen Zwecken und ist deshalb selbst nicht Trägerin des Grundrechts der Religionsfreiheit (vgl. BVerfGE 44, 103 <104>). Gleichwohl ist dieses Grundrecht auch hier im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit zu berücksichtigen (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 15. Januar 2002 - 1 BvR 1783/99 -, Umdruck S. 19 ff.). Derjenige, der im Betrieb der Beschwerdeführerin für diese die Schlachtungen vornehmen soll, ist dabei nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin im Ausgangsverfahren streng an die Beachtung der Regeln des Islam gebunden. Die Berufsausübung durch ihn ist also für ihn glaubensgeprägt. Dazu kommt - wie im Fall des Beschwerdeführers in dem Verfahren 1 BvR 1783/99 -, dass die berufliche Tätigkeit der Beschwerdeführerin durch die Zielsetzung gekennzeichnet ist, Kunden mit dem Fleisch geschächteter Tiere zu versorgen, denen ihre Glaubensüberzeugung gebietet, auf den Verzehr von Fleisch nicht geschächteter Tiere zu verzichten. Der zuletzt angeführte Umstand erfordert es auch in Fällen der hier vorliegenden Art, die Begriffe der Religionsgemeinschaft und der zwingenden Vorschriften, die den Angehörigen einer solchen Gemeinschaft den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen, in § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG so auszulegen, wie dies in dem schon mehrfach erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2002 näher ausgeführt ist (vgl. Urteilsumdruck S. 25 ff.).

2. Dem wird das angegriffene Urteil nicht gerecht. Es ist deshalb gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG unter Zurückverweisung der Sache an das Bundesverwaltungsgericht aufzuheben.

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.



Ende der Entscheidung

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