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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 19.03.1998
Aktenzeichen: 1 BvR 264/97
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 12 Abs. 1
GG Art. 33 Abs. 2
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 1 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 264/97 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn H...

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Johannes Eisenberg und Partner, Görlitzer Straße 74, Berlin -

gegen

a) das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 11. November 1996 - 17 Sa 87/96 -,

b) das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 29. Mai 1996 - 58 Ca 6283/96 -

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Kühling, die Richterin Jaeger und den Richter Steiner

am 19. März 1998 einstimmig beschlossen:

Die Urteile des Arbeitsgerichts Berlin vom 29. Mai 1996 - 58 Ca 6283/96 - und des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 11. November 1996 - 17 Sa 87/96 - verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 Absatz 2 und aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

G r ü n d e :

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anfechtung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers, der Fragen seines Arbeitgebers nach Tätigkeiten für das Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik (MfS) unzutreffend beantwortet hat.

1. a) Der Beschwerdeführer war seit dem 1. Juli 1993 als Pförtner bei dem im Ausgangsverfahren beklagten Land Berlin beschäftigt. Im April 1993 hatte er auf einem Zusatzbogen zum Personalfragebogen Fragen nach unter anderem einer Tätigkeit für das MfS verneint. Zur Frage nach dem Wehrdienst gab er an, diesen in der Zeit von 1958 bis 1962 beim Wachregiment Berlin als Kraftfahrer abgeleistet zu haben. Ein Bericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes von Januar 1996 ergab, daß der Beschwerdeführer aufgrund persönlicher Verpflichtungserklärungen von Dezember 1958 und Mai 1962 inoffizielle Dienste für das MfS unter einem Decknamen geleistet habe. Das MfS hatte den Vorgang des Beschwerdeführers im Juli 1965 eingestellt. Das beklagte Land focht im Februar 1996 seine auf Begründung des Arbeitsverhältnisses mit dem Beschwerdeführer gerichtete Willenserklärung an.

b) Das Arbeitsgericht wies die auf Feststellung des Fortbestandes seines Arbeitsverhältnisses gerichtete Klage des Beschwerdeführers ab. Das beklagte Land sei zur Anfechtung des Arbeitsvertrages berechtigt gewesen, da der Beschwerdeführer es durch die Verneinung einer Tätigkeit für das MfS arglistig getäuscht habe.

c) Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Der Beschwerdeführer habe vor Vertragsschluß eine zulässige Frage des beklagten Landes unrichtig beantwortet. Hierbei habe er auch arglistig gehandelt, da er seine Tätigkeit für das MfS wissentlich verschwiegen habe.

d) Mit seiner fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seiner Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG und seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG durch die Entscheidungen des Arbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts.

e) Die von dem Beschwerdeführer fristgerecht erhobene und begründete Nichtzulassungsbeschwerde wies das Bundesarbeitsgericht durch Beschluß vom 18. März 1997 zurück, weil die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision wegen Divergenz nicht gegeben seien.

2. Zu der Verfassungsbeschwerde haben die Senatsverwaltung für Inneres des Landes Berlin, der Vorsitzende des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts und der Deutsche Gewerkschaftsbund Stellung genommen.

Die Senatsverwaltung für Inneres hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig. Der Beschwerdeführer habe versäumt, die Nichtzulassungsbeschwerde in einer Weise zu begründen, die erfolgversprechend gewesen wäre. Er habe nicht dargelegt, daß das anzufechtende Urteil des Landesarbeitsgerichts sowohl von zwei Urteilen des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt als auch von einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts abgewichen sei, welche die Wirksamkeit von Kündigungen zum Gegenstand gehabt hätten.

Jedenfalls seien die mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen materiell unbegründet. Es gehe nicht um die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses, sondern um die Einstellung eines Bewerbers in den öffentlichen Dienst. Dem öffentlichen Arbeitgeber stehe aber bei der Einstellung ein gewisser Beurteilungsspielraum zu, der nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliege.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

Der Zulässigkeit steht insbesondere nicht eine mangelnde Erschöpfung des Rechtsweges im Sinne von § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG entgegen. Auch der allgemeine Subsidiaritätsgrundsatz führt nicht zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer hatte eine zumindest nicht unzulässige Nichtzulassungsbeschwerde erhoben. Daß sie mit anderer Begründung hätte Erfolg haben müssen, ist nicht ersichtlich. Insbesondere lag eine Divergenz der anzufechtenden Entscheidung des Landesarbeitsgerichts von den von der Senatsverwaltung für Inneres des Landes Berlin herangezogenen Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt und des Bundesarbeitsgerichts nicht vor, da diese die Wirksamkeit von Kündigungen betrafen.

III.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG und seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Urteile des Arbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in den genannten Grundrechten. Die für diese Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. a) Art. 12 Abs. 1 GG schützt unter anderem die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Diese umfaßt neben der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung auch den Willen des Einzelnen, den Arbeitsplatz beizubehalten. Das Grundrecht entfaltet seinen Schutz gegen alle staatlichen Maßnahmen, die diese Wahlfreiheit beschränken (vgl. dazu im einzelnen BVerfGE 84, 133 <146>; 92, 140 <150>). Soweit es um Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes geht, trifft Art. 33 Abs. 2 GG eine ergänzende Regelung.

b) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verleiht jedem unter anderem die Befugnis, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen er persönliche Sachverhalte offenbaren will (vgl. BVerfGE 65, 1 <41 f.> - informationelle Selbstbestimmung - m.w.N.; 85, 219 <224>). In besonderer Weise schützt das Grundrecht vor dem Verlangen, Informationen preiszugeben, die den Betroffenen selbst belasten. Auskunftspflichten, die darauf gerichtet sind, berühren daher das allgemeine Persönlichkeitsrecht (vgl. BVerfGE 56, 37 <41 ff.>).

c) Die angegriffenen Entscheidungen, die die Anfechtung des Arbeitsverhältnisses des Beschwerdeführers bestätigen, greifen in diese Rechte des Beschwerdeführers ein. Auch eine Anfechtung führt zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses und berührt damit die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers.

2. a) Die Arbeitsplatzwahl kann ebenso wie die anderen Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 GG durch Gesetz beschränkt werden. Bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts müssen die Gerichte allerdings den Schutz beachten, den Art. 12 Abs. 1 GG insofern gewährt. Steht zugleich die Eignung für den öffentlichen Dienst in Rede, tritt Art. 33 Abs. 2 GG ergänzend hinzu. Diese Rechte sind verletzt, wenn ihre Bedeutung und Tragweite bei der Auslegung und Anwendung der arbeitsrechtlichen Vorschriften grundsätzlich verkannt wird. Dagegen ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die Gerichte den Schutz im einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den bestmöglichen Schutz sichert (vgl. BVerfGE 92, 140 <152 f.>).

b) Wie die Berufsfreiheit strahlt auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Vorschriften aus. Der Richter hat daher von Verfassungs wegen zu prüfen, ob von ihrer Anwendung im Einzelfall dieses Grundrecht berührt wird. Trifft das zu, dann hat er diese Vorschriften im Lichte der Grundrechte auszulegen und anzuwenden (vgl. BVerfGE 84, 192 <194 f.>; 96, 171 <184>).

3. a) Grundsätzlich sind Fragen des öffentlichen Arbeitgebers nach einer früheren Tätigkeit des Arbeitnehmers für das MfS verfassungsrechtlich unbedenklich. Den Betroffenen war daher grundsätzlich die Beantwortung dieser Fragen zuzumuten (vgl. BVerfGE 96, 171 <186 f.>).

b) Tätigkeiten für das MfS, die vor dem Jahre 1970 abgeschlossen waren, taugen jedoch wegen des erheblichen Zeitablaufs regelmäßig nicht mehr als Indiz für eine mangelnde Eignung. Ausnahmsweise relevante Fragen nach Vorgängen, die mehr als 20 Jahre vor dem Beitritt abgeschlossen waren, stehen außer Verhältnis zu der Einschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Befragten; die Arbeitnehmer durften vor dem Jahre 1970 abgeschlossene Vorgänge daher verschweigen, dem öffentlichen Arbeitgeber ist es verwehrt, arbeitsrechtliche Konsequenzen aus einer unzutreffenden Antwort zu ziehen (vgl. BVerfGE 96, 171 <188 f.>).

4. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Sie verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG und aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

Die Tätigkeit des Beschwerdeführers für das MfS beschränkte sich auf einen kurzen Zeitraum Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre während seines Wehrdienstes. Es war ihm danach nicht zuzumuten, die zeitlich unbeschränkte Frage nach Tätigkeiten für das MfS in vollem Umfang wahrheitsgemäß zu beantworten. Die vor dem Jahre 1970 abgeschlossenen Vorgänge durfte er verschweigen. Eine Anfechtung des Arbeitsverhältnisses wegen arglistiger Täuschung aufgrund der insoweit unzutreffenden Antwort des Beschwerdeführers war dem Arbeitgeber daher verwehrt.

Ende der Entscheidung

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