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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 23.11.2006
Aktenzeichen: 1 BvR 285/06
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 5 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 1 BvR 285/06 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) den Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 30. Dezember 2005 - 6 Ns 306 Js 147702/04 -,

b) das Urteil des Amtsgerichts Landsberg am Lech vom 18. Oktober 2005 - 2 Ds 306 Js 147702/04 fl. -

und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs- gerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Hohmann-Dennhardt und den Richter Hoffmann-Riem am 23. November 2006 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Das Urteil des Amtsgerichts Landsberg am Lech vom 18. Oktober 2005 - 2 Ds 306 Js 147702/04 fl. - und der Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 30. Dezember 2005 - 6 Ns 306 Js 147702/04 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes sowie dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die angegriffenen Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Augsburg zurückverwiesen.

2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Dadurch erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ausdehnung des als grundsätzlich "beleidigungsfrei" anzusehenden Bereichs vertraulicher Kommunikation bei der persönlichen Korrespondenz von Strafgefangenen.

I.

1. Der wegen vielfachen Kindesmissbrauchs zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilte geschiedene Beschwerdeführer befand sich zunächst in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt M. Dort wurde er wegen der Taten, deretwegen er verurteilt worden war, von Mitgefangenen gedemütigt und misshandelt, so dass er seine Zelle nicht verlassen konnte und schließlich auf Betreiben der Anstaltsärztin in die Justizanstalt L. verlegt wurde. Während eines Verschubungsaufenthalts zurück in die Justizvollzugsanstalt M. lernte er einen Mitgefangenen kennen, zu dem sich eine freundschaftliche Beziehung entwickelte. Nachdem der Beschwerdeführer wieder in die Justizvollzugsanstalt L. verlegt worden war, schrieb er dem Mitgefangenen einen Brief, in welchem er die Verhältnisse in der Justizvollzugsanstalt L. lobte und insbesondere auch die dortigen Justizvollzugsbediensteten als "echt super" bezeichnete. In dem Brief heißt es weiter: "Kein Vergleich mit den unfähigen Arschlöchern aus M. Du wirst hier wie ein Mensch behandelt und nicht wie ein Stück Dreck.". Der Brief wurde im Rahmen der Briefkontrolle aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts M. angehalten; ein Abteilungsleiter der Justizvollzugsanstalt M. stellte Strafantrag.

2. Durch das angegriffene Urteil des Amtsgerichts wurde der Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen in Höhe von je 2,00 € verurteilt. In dem Urteil heißt es unter anderem, die Tat sei nicht gemäß § 193 StGB straffrei, da der Beschwerdeführer sich nicht darauf berufen könne, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Rechtswidrigkeit einer beleidigenden Äußerung im Hinblick auf den Schutzbereich des Art. 5 GG entfalle, wenn es sich um Äußerungen in Gefangenenpost handele. Diese Äußerungen unterlägen dem besonderen Schutzbereich des Art. 5 GG nach ständiger Rechtsprechung nämlich nur dann, wenn es sich dabei um Post an Familienangehörige handele. Allein die freundschaftliche Beziehung zu dem Mitgefangenen begründe kein solches Intimitäts- und damit Ausnahmeverhältnis, dass die Äußerungen des Gefangenen im Hinblick auf den Schutzbereich des Art. 5 GG gerechtfertigt wären.

3. Mit dem gleichfalls angegriffenen Beschluss des Landgerichts wurden die Berufungen der Staatsanwaltschaft und des Beschwerdeführers als unzulässig verworfen, weil sie offensichtlich unbegründet seien (§ 313 Abs. 2 StPO).

4. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG). Das Amtsgericht habe verkannt, dass die Rechtswidrigkeit einer beleidigenden Äußerung in der Gefangenenpost nicht nur dann entfalle, wenn es sich um Post an Familienangehörige handele, sondern auch bei Schreiben an nahe stehende Vertrauenspersonen. Für ihn als Strafgefangenen gebe es als Bezugspersonen nur Mitinhaftierte; aus seinem Schreiben lasse sich unschwer das enge freundschaftliche Verhältnis zu dem Adressaten erkennen. Der Brief zeige insgesamt, dass er seiner Vertrauensperson lediglich seine inneren Empfindungen preisgegeben habe, ihr seine Emotionen, auch Frustrationen, habe mitteilen wollen.

5. Der Bundesgerichtshof hat von einer Stellungnahme abgesehen. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, da ein bloßes Freundschaftsverhältnis, das anders als ein verwandtschaftliches Verhältnis oder eine Ehe nicht anhand objektiver Kriterien beurteilt werden könne, nicht die Vermutung begründe, dass sich die beteiligten Personen per se und ausnahmslos ein besonderes Vertrauen entgegen brächten.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93 b in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. insbes. BVerfGE 90, 255 <259 ff.>). Danach ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, indem sie dem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) folgenden Vertraulichkeitsschutz nicht hinreichend Rechnung getragen haben.

1. Die Äußerung des Beschwerdeführers genießt den Schutz der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, die allerdings durch die Vorschriften zum Schutz der persönlichen Ehre beschränkt wird. Bei der Bestimmung dieser Schranken ist wiederum zu beachten, dass das in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Einzelnen auch Schutz im Intim- und Privatbereich gewährt.

Bei Äußerungen gegenüber Familienangehörigen und Vertrauenspersonen, die in eine Sphäre fallen, die gegen die Wahrnehmung durch den Betroffenen oder Dritte abgeschirmt ist, tritt der Aspekt der Ehrverletzung eines von der Äußerung Betroffenen gegenüber dem einer freien Entfaltung der Persönlichkeit des sich Äußernden zurück. Zum Persönlichkeitsschutz gehört unter den Bedingungen eines besonderen Vertrauensverhältnisses die Möglichkeit des Einzelnen, seine Emotionen frei auszudrücken, geheime Wünsche oder Ängste zu offenbaren und das eigene Urteil über Verhältnisse und Personen oder eine entlastende Selbstdarstellung freimütig kundzugeben. Unter solchen Umständen getroffene Äußerungen, die gegenüber Außenstehenden oder der Öffentlichkeit wegen ihres ehrverletzenden Gehalts nicht schutzwürdig wären, genießen in solchen Vertraulichkeitsbeziehungen als Ausdruck der Persönlichkeit und Bedingung ihrer Entfaltung verfassungsrechtlichen Schutz, der dem Schutz der Ehre des durch die Äußerung Betroffenen vor geht (vgl. BVerfGE 90, 255 <259 ff.>). Die strafrechtliche Rechtsprechung und Literatur tragen dem Rechnung, indem sie bei ehrverletzenden Äußerungen über nicht anwesende Dritte in besonders engen Lebensbeziehungen einen Schutz der Vertraulichkeit im Sinne einer beleidigungsfreien Sphäre zugestehen, wenn die Mitteilungen Ausdruck des besonderen Vertrauens sind und mit ihrer Weitergabe an Dritte nicht gerechnet werden muss (vgl. KG, StV 2002, S. 209; Brandenburgisches OLG, StV 1995, S. 420 <421>; Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl. 2006, § 185 Rn. 12; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. 2001, vor §§ 185 ff. Rn. 9 ff.; jeweils m.w.N.). Aus verfassungsrechtlicher Sicht kommt es nicht entscheidend darauf an, wie dieses Ergebnis strafrechtsdogmatisch verankert wird (dazu s. Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. 2001, vor §§ 185 ff. Rn. 9 a), sofern die betroffenen Rechtspositionen einander in verfassungsrechtlich bedenkenfreier Weise zugeordnet werden.

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, dass auch schriftliche Äußerungen von Strafgefangenen, deren Post der Briefkontrolle unterliegt, dem Schutz der Vertrauensbeziehung unterfallen können (vgl. BVerfGE 90, 255 <261>; vgl. auch BVerfGE 35, 35 <40>; 42, 234 <236 f.>; 57, 170 <177>). Der Kreis möglicher Vertrauenspersonen ist dabei nicht auf Ehegatten oder Eltern beschränkt, sonder erstreckt sich auf ähnlich enge Vertrauensverhältnisse (vgl. BVerfGE 90, 255 <262>).

2. Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

a) Die Fachgerichte haben die Reichweite des verfassungsrechtlichen Schutzes vor der strafrechtlichen Bewertung der Äußerung als Beleidigung verkannt, indem sie annehmen, der Vertrauensschutz sei bei Strafgefangenen nur gegeben, wenn es sich um Post zwischen Familienangehörigen handele. Zwar mag in Fällen, in denen ein Gefangenenbrief an einen Familienangehörigen gerichtet ist oder von einem solchen herrührt, das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG den Schutz verstärken. Der durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährte Schutz vertraulicher Äußerungen erstreckt sich jedoch darüber hinaus auf andere, in der Nähebeziehung vergleichbare Arten enger Vertrauensverhältnisse. Einer Ehe, eines Verwandtschafts- oder eines Liebesverhältnisses mit der Vertrauensperson bedarf es nicht. Auch allein stehenden Strafgefangenen, die mit dem Adressaten oder Absender eines Briefes weder verwandt sind noch eine Liebesbeziehung mit diesem unterhalten oder anstreben, aber mit ihm ein enges Vertrauensverhältnis aufgebaut haben, steht der besondere Schutz vor der Beurteilung von Äußerungen als Beleidigung zu.

b) Die Feststellung, ob im Einzelfall zwischen den an der brieflichen Kommunikation Beteiligten ein derartiges Vertrauensverhältnis besteht, obliegt den Fachgerichten. Zu berücksichtigen sind neben dem Charakter der Vertrauensbeziehung die Art und der Kontext der ehrverletzenden Äußerung.

Der Brief des Beschwerdeführers an den Mitgefangenen, in dem die ehrverletzenden Äußerungen enthalten sind, ist in einem sehr vertrauten Ton gehalten. Der Beschwerdeführer vergleicht die von ihm kritisierten Zustände in der Justizvollzugsanstalt M. mit denjenigen in der Justizvollzugsanstalt L., die er positiv hervorhebt. Zudem äußert er sich über seine Freundschaft mit dem Adressaten des Briefs ("Selten, dass man einen solchen Menschen wie dich hier im Knast, aber auch draußen trifft"), schildert seine Pläne für sein Leben nach seiner Haftentlassung ("Man muss aus seinen Fehlern lernen. Man muss es in Zukunft besser machen ...") und spricht dem Empfänger des Briefs Mut zu ("Wenn es einmal ganz Scheiße hier im Knast ist und du denkst, es geht überhaupt nichts mehr. Dann denke daran, dass du nie alleine bist, dass immer einer bei dir ist, wenn du dich zu ihm bekennst. Gott verlässt uns nicht"). Auf diese Umstände sind die Fachgerichte nicht eingegangen, weil sie angenommen haben, nur die Kommunikation mit Angehörigen genieße den besonderen Schutz.

3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem Verfassungsverstoß. Mit der Frage, ob zwischen dem Beschwerdeführer und dem Adressaten des Briefes ein den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts prägendes Vertrauensverhältnis bestand, haben sich die Fachgerichte nicht befasst, weil sie von einem unrichtigen Verständnis der Reichweite des Persönlichkeitsschutzes ausgegangen sind. Die Sache ist an das Landgericht zurück zu verweisen.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Mit der Verpflichtung des Freistaats Bayern, die Auslagen des Beschwerdeführers zu tragen, zu denen die Rechtsanwaltsgebühren zählen (vgl. Kunze, in: Umbach/Clemens/Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, Rn. 18 zu § 34 a), erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der bevollmächtigten Rechtsanwältin.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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