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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 22.10.2007
Aktenzeichen: 1 BvR 2894/04
Rechtsgebiete: BVerfGG, StGB, VwGO, RVG, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 34a Abs. 3
BVerfGG § 93d Abs. 2 Satz 1
StGB § 284
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80 Abs. 7
RVG § 37 Abs. 2 Satz 2
GG Art. 12 Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2894/04 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. November 2004 - 4 B 1405/04 -,

b) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Minden vom 17. Juni 2004 - 3 L 309/04 -,

c) die Vollziehungsanordnung im Bescheid der Stadt Bielefeld vom 16. Januar 2004 - 320.12.1 -

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hier: Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen und Antrag auf Festsetzung des Gegenstandswerts

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Bryde, Eichberger, Schluckebier gemäß § 93d Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 34a Abs. 3 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 22. Oktober 2007 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die ihm im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe:

Das Verfahren betrifft die sofortige Vollziehung einer Ordnungsverfügung, mit der dem Beschwerdeführer die Vermittlung von Sportwetten an einen Veranstalter in London untersagt wird.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist Buchmacher für Pferdewetten nach dem Rennwett- und Lotteriegesetz. Seit September 2003 vermittelt er in seinem Buchmacherbetrieb zudem Sportwetten an die Firma Happy Bet Ltd. in London.

Mit Ordnungsverfügung vom 16. Januar 2004 untersagte der Oberbürgermeister der Stadt Bielefeld dem Beschwerdeführer die Vermittlung von Sportwetten an Veranstalter, die über keine Genehmigung nach dem nordrhein-westfälischen Sportwettengesetz vom 3. Mai 1955 (GV. NRW S. 84) in der damals geltenden Fassung durch Gesetz vom 14. Dezember 1999 (GV. NRW S. 687) verfügen und ordnete die sofortige Vollziehung an.

Das Verwaltungsgericht lehnte den gegen die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung gerichteten Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab. Zur Begründung verwies es insbesondere darauf, dass sich Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit insbesondere nicht aus den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts ergäben, mit denen dieses die grundsätzliche Billigung der Monopolstellung der staatlichen Sportwettveranstalter im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG insoweit eingeschränkt habe, als bei einer mit aggressiver Werbung einhergehenden extremen Ausweitung des Spielangebots nicht mehr davon ausgegangen werden könne, dass das staatliche Monopol wirklich geeignet sei, die mit der Veranstaltung von Glücksspielen verbundenen Gefahren einzudämmen.

Das Oberverwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde zurück. Die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs seien allenfalls als offen zu betrachten. Auf dieser Grundlage gehe die Abwägung des Suspensivinteresses des Beschwerdeführers mit den für die sofortige Vollziehung der Untersagungsverfügung streitenden öffentlichen Interessen, insbesondere der in § 284 StGB zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Bewertung, zu Lasten des Beschwerdeführers aus. Es sprächen nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung auch keine überwiegenden Gesichtspunkte dafür, dass den Anforderungen, die das Gemeinschaftsrecht an die Rechtfertigung der Begrenzung des Glücksspiels durch die Mitgliedstaaten stellt, nicht mehr entsprochen werde. Dies gelte auch mit Blick auf die vielfältigen Werbemaßnahmen staatlicher Sportwetten-Veranstalter. Es sei zwar davon auszugehen, dass die der Untersagungsverfügung zugrundeliegende Regelung des nordrhein-westfälischen Sportwettengesetzes (§ 1 Abs. 1 Satz 1 und 2) sowie des § 284 StGB eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs (Art. 49 EG) sowie zugleich eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 und 48 EG) bewirkten, die aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein müssten. Der Senat gehe insoweit - vorläufig - davon aus, dass mit der Veranstaltung von Sportwetten das dem Glücksspiel eigene Gefahrpotenzial verbunden sei und diese Einschätzung auch den Regelungen des nordrhein-westfälischen Sportwettengesetzes zugrundeliege; ferner, dass den staatlichen Anbietern maßgeblich die Aufgabe obliege, die natürliche Neigung zum Spiel in einem ordnungspolitisch noch vertretbaren Rahmen zu befriedigen und in diesem Sinne zu kanalisieren. Diese Aufgabenstellung, der auch die vom Beschwerdeführer kritisierten Erwägungen des nordrhein-westfälischen Gesetzgebers zur Beschränkung des "Wildwuchses ausländischer illegaler Sportwettenanbieter" und zur Zurückgewinnung "abgewanderten Spielkapitals" zuzuordnen seien, könne nur dann effektiv erfüllt werden, wenn für das staatliche Wettangebot geworben werde. Dabei seien Werbemaßnahmen umso notwendiger, als gegenüber gewerblichen Veranstaltern ein "Attraktivitätsgefälle" zu Lasten der staatlichen Veranstalter bestehe. Ferner sei in Rechnung zu stellen, dass in einer durchweg "reizstarken" Werbewelt allzu moderate Werbemethoden grundsätzlich nicht geeignet wären, das von den staatlichen Spielveranstaltern anzusprechende Publikum zu erreichen. Ob unter Zugrundelegung dieser Gesichtspunkte den aufgezeigten rechtlichen Maßstäben noch genügt werde, könne erst nach umfänglicher Aufklärung und einer komplexen Bewertung der dann vorliegenden tatsächlichen Feststellungen im Hauptsacheverfahren beurteilt werden.

2. Gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts erhob der Beschwerdeführer fristgerecht eine mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde, mit der er eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG rügte.

Zur Begründung bezog sich der Beschwerdeführer auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in vergleichbaren Fällen (Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. August 2004 - 1 BvR 1446/04 - sowie vom 15. Dezember 2004 - 1 BvR 2495/04 -), durch die weitgehend identisch begründete Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen wegen eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG aufgehoben worden waren. Die Interessenabwägung in den angegriffenen Entscheidungen lasse ebenfalls den notwendigen Bezug zum konkreten Einzelfall vermissen. Das Oberverwaltungsgericht nehme - insbesondere mit Blick auf die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen - keine hinreichende Prüfung des tatsächlichen und rechtlichen Streitstoffs vor.

3. Im Wege des Verfahrens nach § 80 Abs. 7 VwGO hat der Beschwerdeführer die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Hauptsacherechtsbehelfs erwirkt. Daraufhin hat er das Verfassungsbeschwerdeverfahren für erledigt erklärt.

Im Hinblick darauf wurde das Verfassungsbeschwerdeverfahren eingestellt.

II.

1. Der Beschwerdeführer hat im Zusammenhang mit der erklärten Erledigung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens beantragt, die Erstattung seiner Auslagen gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG anzuordnen.

2. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hatte Gelegenheit, sich zum Antrag auf Anordnung der Auslagenerstattung zu äußern.

III.

1. Die Anordnung der Erstattung der dem Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen entspricht der Billigkeit im Sinne von § 34a Abs. 3 BVerfGG. Die angegriffenen Entscheidungen waren bei ihrem Erlass mit dem Grundgesetz unvereinbar. Dem Beschwerdeführer durfte die Erhebung der auf einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde daher angezeigt erscheinen.

Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts verkennt die verfassungsrechtlichen Anforderungen, die Art. 12 Abs. 1 GG an die rechtliche und tatsächliche Ausgestaltung eines staatlichen Sportwettmonopols stellt und deren Wahrung Voraussetzung für eine gerechtfertigte Untersagung der Veranstaltung und Vermittlung gewerblicher Sportwetten durch private Wettunternehmen und Wettvermittler ist (vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 28. März 2006 - 1 BvR 1054/01 -, BVerfGE 115, 276). Die verfassungsgerichtlichen Aussagen im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 treffen dabei in gleicher Weise auf die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen zu. Auch das nordrhein-westfälische Sportwettengesetz kennt keine Regelungen, die gemäß den verfassungsrechtlichen Anforderungen eine konsequente Ausrichtung des staatlich verantworteten Sportwettangebots am Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft und Bekämpfung der Wettsucht gewährleisten. Dieses (Regelungs-)Defizit wird auch nicht durch die Regelungen des Staatsvertrags zum Lotteriewesen in Deutschland (vgl. GV. NRW 2004, S. 315) aufgefangen, von deren unmittelbarer Geltung aufgrund des nordrhein-westfälischen Gesetzes zur Ausführung des Staatsvertrags zum Lotteriewesen in Deutschland (Lotterieausführungsgesetz - LoAG) vom 16. November 2004 (GV. NRW S. 686) auszugehen ist. Auch das staatliche Sportwettmonopol in Nordrhein-Westfalen ist danach in seiner derzeitigen Ausgestaltung als verfassungswidrig anzusehen. Im Rahmen der Interessenabwägung nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Oberverwaltungsgericht insoweit aber eine - mögliche - unverhältnismäßige Beschränkung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers schon nicht erwogen.

2. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

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