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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 27.02.2000
Aktenzeichen: 2 BvL 4/98
Rechtsgebiete: GVG, GG


Vorschriften:

GVG § 24
GVG § 74
GVG § 24 Abs. 2
GG Art. 100 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvL 4/98 -

In dem Verfahren

zur

verfassungsrechtlichen Prüfung

der §§ 24, 74 des Gerichtsverfassungsgesetzes im Hinblick auf die Zuständigkeit von Strafsachen, die Vergewaltigungen nach § 177 Abs. 1 und Abs. 2 des Strafgesetzbuchs betreffen,

- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Landgerichts Osnabrück vom 3. Juni 1998 - 4 Ns (47/98) -

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Präsidentin Limbach und die Richter Hassemer, Broß gemäß § 81a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 27. Februar 2000 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Vorlage ist unzulässig.

Gründe:

I.

Die Richtervorlage (Art. 100 Abs. 1 GG) betrifft die Frage, ob die in §§ 24, 74 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) bestimmte Abgrenzung der erstinstanzlichen Zuständigkeiten in Strafsachen zwischen Amts- und Landgericht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit darin auch für den Straftatbestand der Vergewaltigung die Zuständigkeit des Amtsgerichts begründet wird, wenn nicht im Einzelfall eine vier Jahre übersteigende Freiheitsstrafe (§ 24 Abs. 2 GVG) zu erwarten ist.

1. §§ 24, 74 GVG in der Fassung des (1.) Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I S. 50) lauten wie folgt:

§ 24 GVG

(1) In Strafsachen sind die Amtsgerichte zuständig, wenn nicht

1. die Zuständigkeit des Landgerichts nach § 74 Abs. 2 oder § 74a oder des Oberlandesgerichts nach § 120 begründet ist,

2. im Einzelfall eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe oder die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus, allein oder neben einer Strafe, oder in der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist oder

3. die Staatsanwaltschaft wegen der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhebt.

(2) Das Amtsgericht darf nicht auf eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe und nicht auf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, allein oder neben einer Strafe, oder in der Sicherungsverwahrung erkennen.

§ 74 GVG

(1) Die Strafkammern sind als erkennende Gerichte des ersten Rechtszuges zuständig für alle Verbrechen, die nicht zur Zuständigkeit des Amtsgerichts oder des Oberlandesgerichts gehören. Sie sind auch zuständig für alle Straftaten, bei denen eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, allein oder neben einer Strafe, oder in der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist oder bei denen die Staatsanwaltschaft wegen der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhebt (§ 24 Abs. 1 Nr. 3).

(2) Für die Verbrechen

1. des sexuellen Missbrauchs von Kindern mit Todesfolge (§ 176b des Strafgesetzbuches),

2. der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung mit Todesfolge (§ 178 des Strafgesetzbuches),

3. des sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen mit Todesfolge (§ 179 Abs. 6 in Verbindung mit § 176b des Strafgesetzbuches),

4. des Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches),

5. des Totschlags (§ 212 des Strafgesetzbuches),

6. (aufgehoben)

7. der Aussetzung mit Todesfolge (§ 221 Abs. 3 des Strafgesetzbuches),

8. der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 des Strafgesetzbuches),

9. der Entziehung Minderjähriger mit Todesfolge (§ 235 Abs. 5 des Strafgesetzbuches),

10. der Freiheitsberaubung mit Todesfolge (§ 239 Abs. 4 des Strafgesetzbuches),

11. des erpresserischen Menschenraubes mit Todesfolge (§ 239a Abs. 2 des Strafgesetzbuches),

12. der Geiselnahme mit Todesfolge (§ 239b Abs. 2 in Verbindung mit § 239a Abs. 2 des Strafgesetzbuches),

13. des Raubes mit Todesfolge (§ 251 des Strafgesetzbuches),

14. des räuberischen Diebstahls mit Todesfolge (§ 252 in Verbindung mit § 251 des Strafgesetzbuches),

15. der räuberischen Erpressung mit Todesfolge (§ 255 in Verbindung mit § 251 des Strafgesetzbuches),

16. der Brandstiftung mit Todesfolge (§ 306c des Strafgesetzbuches),

17. des Herbeiführens einer Explosion durch Kernenergie (§ 307 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches),

18. des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion mit Todesfolge (§ 308 Abs. 3 des Strafgesetzbuches),

19. des Missbrauchs ionisierender Strahlen gegenüber einer unübersehbaren Zahl von Menschen (§ 309 Abs. 2 und 4 des Strafgesetzbuches),

20. der fehlerhaften Herstellung einer kerntechnischen Anlage mit Todesfolge (§ 312 Abs. 4 des Strafgesetzbuches),

21. des Herbeiführens einer Überschwemmung mit Todesfolge (§ 313 in Verbindung mit § 308 Abs. 3 des Strafgesetzbuches),

22. der gemeingefährlichen Vergiftung mit Todesfolge (§ 314 in Verbindung mit § 308 Abs. 3 des Strafgesetzbuches),

23. des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer mit Todesfolge (§ 316a Abs. 3 des Strafgesetzbuches),

24. des Angriffs auf den Luft- und Seeverkehr mit Todesfolge (§ 316c Abs. 3 des Strafgesetzbuches),

25. der Beschädigung wichtiger Anlagen mit Todesfolge (§ 318 Abs. 4 des Strafgesetzbuches),

26. einer vorsätzlichen Umweltstraftat mit Todesfolge (§ 330 Abs. 2 Nr. 2 des Strafgesetzbuches),

ist eine Strafkammer als Schwurgericht zuständig. § 120 bleibt unberührt.

(3) Die Strafkammern sind außerdem zuständig für die Verhandlung und Entscheidung über das Rechtsmittel der Berufung gegen die Urteile des Strafrichters und des Schöffengerichts.

2. Das Amtsgericht - Schöffengericht - verurteilte den Angeklagten des Ausgangsverfahrens wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Hiergegen legten sowohl der Angeklagte als auch - zu seinen Ungunsten und insoweit auf das Strafmaß beschränkt - die Staatsanwaltschaft Berufung ein.

3. Nach Eingang der Akten beim Berufungsgericht hat der Vorsitzende der kleinen Strafkammer mit Beschluss vom 3. Juni 1998 das Verfahren ausgesetzt und die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt zur Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der §§ 24, 74 GVG "im Hinblick auf die Zuständigkeit von Strafsachen, die Vergewaltigungen nach § 177 Abs. 1 und Abs. 2 Strafgesetzbuch betreffen".

Zur Begründung führt der Vorsitzende im Wesentlichen aus:

a) Die Verfassungsmäßigkeit der zur Prüfung gestellten Normen sei erheblich; denn die (kleine) Strafkammer wäre zur Entscheidung über die Berufung des Angeklagten zuständig, wenn die §§ 24, 74 GVG nicht verfassungswidrig wären. Anderenfalls wäre die Sache an die große Strafkammer zur (erstinstanzlichen) Verhandlung zu verweisen. Die Entscheidung der Strafkammer, ob sie Termin zur Hauptverhandlung anberaume oder die Sache verweisen müsse, sei einem Eröffnungsbeschluss vergleichbar, weshalb bereits jetzt die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht erforderlich sei. Eine Strafe von mehr als vier Jahren Freiheitsstrafe sei nicht zu erwarten.

b) Die geltende Fassung der §§ 24, 74 GVG verstoße für Opfer von Vergewaltigungen in unerträglicher Weise gegen Art. 1 und Art. 3 GG. Es gebe keine vergleichbare Straftat, die so intensiv auf die körperliche Integrität, die Psyche eines Menschen und seines Selbstbestimmungsrechts einwirke. Die Ermöglichung einer zweiten Tatsacheninstanz für den Täter durch das Rechtsmittel der Berufung bedeute für das Tatopfer eine zusätzliche und unnötige Belastung, weil es regelmäßig in zwei Tatsacheninstanzen aussagen müsse.

Art. 1 und Art. 3 GG geböten deshalb die Aufnahme des § 177 Abs. 1 und Abs. 2 StGB in den Zuständigkeitskatalog des § 74 Abs. 2 GVG und damit in die Zuständigkeit des Schwurgerichts. Der Katalog des § 74 Abs. 2 GVG enthalte nicht nur Straftaten mit Todesfolge, sondern auch andere und hinsichtlich des gesetzlichen Strafrahmens vergleichbare Delikte.

II.

1. Die Vorlage ist unzulässig.

Ein Gericht kann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. BVerfGE 86, 71 <76>). Dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügt ein Vorlagebeschluss daher nur dann, wenn die Ausführungen des Gerichts erkennen lassen, dass es eine solche Prüfung vorgenommen hat. Das Gericht muss nicht nur darlegen, dass seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt, sondern auch seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit dieser Norm näher begründen und sich dabei jedenfalls mit nahe liegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten auseinander setzen (vgl. BVerfGE 86, 52 <57>, 71 <77 f.>; stRspr). Hierbei muss es insbesondere die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 65, 308 <316>; stRspr), auf einschlägige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und gegebenenfalls auch auf die Entstehungsgeschichte der Norm eingehen (vgl. BVerfGE 79, 240 <243 ff.>; 92, 277 <312>). Daran fehlt es hier.

a) Das vorlegende Gericht hat den von ihm zugrunde gelegten verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nicht in der erforderlichen Weise dargelegt. Es stützt zwar seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen §§ 24, 74 GVG auf Art. 1 Abs. 1 GG, setzt sich aber weder mit dessen Gehalt, wie er in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden ist, noch mit einer Auslegung und verfassungsrechtlichen Prüfung der angefochtenen Normen aus diesem Blickwinkel auseinander. Vielmehr benutzt es seinen Vorlagebeschluss dazu, seine rechtspolitische Überzeugung vorzutragen. Die strafprozessualen Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Zuständigkeiten der Amts- und der Landgerichte stehen mit der Menschenwürde als oberstem Wert des Grundgesetzes und tragendem Konstitutionsprinzip, das mit dem Verbot verbunden ist, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen (vgl. BVerfGE 6, 32 <36, 41>; 30, 1 <26>; 87, 209 <228>), in Einklang. Dass allein der Umstand, dass ein Vergewaltigungsopfer sich einer zweifachen Zeugenvernehmung in zwei Tatsacheninstanzen unterziehen muss, die Folge einer Behandlung "als Objekt" durch den Staat oder durch andere Personen sei, ist schon deshalb fern liegend, weil die Geschädigte - über ihre Zeugenrechte hinaus - sich dem Verfahren als Nebenklägerin anschließen kann und eigenständige Verfahrensrechte hat (§§ 397, 397a, 400 StPO).

b) Darüber hinaus lässt der Vorlagebeschluss eine Auseinandersetzung mit nahe liegenden Gesichtspunkten vermissen und berücksichtigt nicht hinreichend die Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur. Das Landgericht übersieht, dass die Ausgestaltung des Rechtswegs (Art. 19 Abs. 4 GG) grundsätzlich Sache des Gesetzgebers ist. Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Sie treffen Vorkehrungen dafür, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne fachgerichtliche Prüfung zu tragen hat (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>). Es obliegt dem Gesetzgeber, das Verfassungsgebot des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auszufüllen und damit die fundamentalen Regeln über die sachliche, örtliche und instanzielle Zuständigkeit der Gerichte und ihrer Spruchkörper selbst aufzustellen (vgl. BVerfGE 19, 52 <60>; 95, 322 <328>). Zu prüfen, ob er dabei die gerechteste und zweckmäßigste Regelung geschaffen hat, ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts.

c) Schließlich hat das vorlegende Gericht zur Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung der zur Prüfung gestellten Norm keine Stellung genommen (vgl. BVerfGE 85, 329 <333 f.>; 86, 71 <77 f.>); in der Rechtsprechung wird die Auffassung vertreten, dass die besondere Bedeutung des Falles mit der Folge der Anklageerhebung beim Landgericht gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG auch dann zu bejahen sei, wenn die Durchführung zweier Tatsacheninstanzen für das Tatopfer mit unzumutbaren Belastungen verbunden wäre (vgl. OLG Zweibrücken, NStZ 95, 357; OLG Düsseldorf, StV 1997, S. 13; vgl. auch BGH, StV 1995, S. 620).

2. Die Rechte der Beteiligten des Ausgangsverfahrens bleiben unberührt; insbesondere ist es dem Angeklagten und der Zeugin als Nebenklägerin unbenommen, nach Erschöpfung des Rechtswegs Verfassungsbeschwerde zu erheben.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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