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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 23.01.2004
Aktenzeichen: 2 BvR 1109/01
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 13
GG Art. 2 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1109/01 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen den Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 7. Mai 2001 - Jug Qs 227/98 -

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 23. Januar 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 7. Mai 2001 - Jug Qs 227/98 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 13 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Augsburg zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine erledigte Durchsuchung, die bereits Gegenstand des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens 2 BvR 1034/98 war.

1. a) Der Beschwerdeführer wurde am Nachmittag des 16. August 1997 in München wegen Verdachts des Landfriedensbruchs (§ 125 StGB) festgenommen. Er befand sich in einer Gruppe, aus der heraus Bierflaschen auf Teilnehmer einer "Antifaschistischen Aktion" geworfen worden sein sollen. In der folgenden Nacht zwischen 0.45 Uhr und 1.15 Uhr wurde das Zimmer des Beschwerdeführers in der Wohnung seines Vaters ohne richterliche Anordnung durchsucht, um Beweismittel insbesondere über die politische Gesinnung des Beschwerdeführers im rechtsextremistischen Bereich aufzufinden. Die dabei beschlagnahmten Gegenstände wurden ihm nach seinem rechtskräftigen Freispruch wieder ausgehändigt. Während der Durchsuchung befand sich der Beschwerdeführer in polizeilichem Gewahrsam.

b) Der Beschwerdeführer stellte Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchsuchung. Amts- und Landgericht lehnten eine Prüfung der Durchsuchung in der Sache ab, da das erforderliche rechtliche Interesse an der Feststellung mangels Beeinträchtigung oder Wiederholungsgefahr fehle. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Mit Beschluss vom 16. Februar 1999 hob die 2. Kammer des Zweiten Senats die landgerichtliche Entscheidung wegen Verletzung von Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 13 GG auf.

c) Das Landgericht verwarf mit Beschluss vom 7. Mai 2001 nunmehr die ursprüngliche Beschwerde vom 19. März 1998 als unbegründet. Es habe ein Tatverdacht wegen Landfriedensbruchs (§ 125 StGB) vorgelegen. Es sei zwar nicht zu erwarten gewesen, dass unmittelbare Beweisstücke für eine Täterschaft des Beschwerdeführers gefunden würden. Gleichwohl sei jedoch zu erwarten gewesen, dass bei der Durchsuchung der Wohnung aufgefundene Gegenstände die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zu der gewalttätigen Gruppe der Skinheads erweisen und damit gegenteilige Einlassungen des Beschwerdeführers gegebenenfalls entkräften würden. Eine Gefahr im Verzug wurde damit begründet, es bestünde die nahe liegende Möglichkeit, dass Personen aus dem Umfeld des Beschwerdeführers, denen die vorläufige Festnahme des Beschwerdeführers bekannt war, noch in der betreffenden Nacht eine Beseitigung von Beweismitteln in der Wohnung des Beschwerdeführers bei seinen Eltern hätten veranlassen können.

2. Mit seiner fristgerechten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 13 und Art. 2 Abs. 1 GG.

3. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Kammer ist zur Entscheidung berufen, weil das Bundesverfassungsgericht die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§§ 93b Satz 1, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe von Art. 13 Abs. 1 und 2 GG sind entschieden (vgl. BVerfGE 42, 212 <219 ff.>; 71, 64 <65>; 96, 44 <51 f.>; 103, 142 <150 ff.>). Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Durchsuchung bei Gefahr im Verzug verfassungsgemäß ist (vgl. BVerfGE 103, 142 <150 ff.>). Eine Gefahr im Verzug muss mit Tatsachen begründet werden, die auf den Einzelfall bezogen sind. Die bloße Möglichkeit eines Beweismittelverlusts genügt nicht. Im Konkreten sind reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf kriminalistische Alltagserfahrungen gestützte, fallunabhängige Vermutungen als Grundlage einer Annahme von Gefahr im Verzug nicht hinreichend (vgl. BVerfGE 103, 142 <155>).

Die Strafverfolgungsbehörden müssen regelmäßig versuchen, eine Anordnung des instanziell und funktionell zuständigen Richters zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen. Nur in Ausnahmesituationen, wenn schon die zeitliche Verzögerung wegen eines solchen Versuchs den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde, dürfen sie selbst die Anordnung wegen Gefahr im Verzug treffen, ohne sich zuvor um eine richterliche Entscheidung bemüht zu haben (BVerfGE 103, 142 <155 f.>).

2. Das Landgericht hat bei der Auslegung des Begriffs "Gefahr im Verzug" die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 13 Abs. 1 und 2 GG nicht beachtet, obwohl die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 2001 (BVerfGE 103, 142 ff.) schon bekannt war. Es hat verkannt, dass Gefahr im Verzug mit Tatsachen begründet werden muss und von den Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich nur dann angenommen werden darf, wenn diese erfolglos versucht haben, eine richterliche Entscheidung herbeizuführen, es sei denn, schon die zeitliche Verzögerung infolge des Versuchs würde zur Gefahr eines Beweismittelverlusts führen.

Nach der Begründung des Landgerichts liegt schon im Hinblick auf den konkreten Tatverdacht des Landfriedensbruchs nicht die Gefahr eines Beweismittelverlusts nahe. Die ohne konkrete Tatsachen benannte bloße Möglichkeit, dass Personen aus dem Umfeld des Beschwerdeführers eine Beseitigung von Beweismitteln in der Wohnung des Beschwerdeführers bei seinen Eltern veranlassen könnten, ist rein spekulativ und hat keinerlei Bezug zu den vorgeworfenen Straftaten. Im Übrigen wird nicht deutlich, um welche möglichen Beweismittel es sich handeln könnte, zumal das Landgericht selbst davon ausgeht, dass "unmittelbare Beweisstücke für eine Täterschaft des Beschwerdeführers" "nicht zu erwarten" seien. Mit dieser Begründung kommt das Landgericht seiner Aufgabe nicht nach, einen konkreten Tatverdacht zu benennen, auf den sich ein konkreter Beweismittelverlust beziehen könnte. Auch in der Stellungnahme des Bayerischen Staatsministeriums werden keine Umstände genannt, die auf das Vorliegen konkreter Tatsachen hindeuten, die eine Gefahr im Verzug hätte begründen können.

Der Beschluss des Landgerichts ist daher aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.

III.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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