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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 18.12.2002
Aktenzeichen: 2 BvR 1660/02
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 13 Abs. 1
GG Art. 13 Abs. 2
GG Art. 19 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1660/02 - In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom 29. Mai 2002 - Qs 144/02 IX - hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 18. Dezember 2002 einstimmig beschlossen: Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Gründe: I. Gegen den Beschwerdeführer wurde ein steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt. Am 7. Februar 2000 ordnete das Amtsgericht die Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume des Beschwerdeführers sowie die Beschlagnahme von Unterlagen an. Der Beschluss wurde am 29. Februar 2000 vollzogen. Nachdem der Beschwerdeführer den Tatvorwurf eingeräumt und den Schaden wieder gutgemacht hatte, wurde am 10. Januar 2002 nach Zahlung einer Geldauflage das Verfahren gemäß § 153a StPO eingestellt. Mit Schreiben vom 24. Januar 2002 legte der Beschwerdeführer Beschwerde gegen den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss ein. Das Landgericht verwarf das Rechtsmittel mangels "Beschwer" wegen "prozessualer Überholung" als unzulässig. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde und rügt eine Verletzung von Art. 13 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG.

II. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt (vgl.BVerfGE 90, 22 <24 ff.> ). Sie hat keine Aussicht auf Erfolg. Die Entscheidung des Landgerichts ist im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

1. a) Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl.BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231> ; stRspr). Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Sie treffen Vorkehrungen dafür, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne gerichtliche Prüfung zu tragen hat (vgl.BVerfGE 94, 166 <213>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Dabei fordert Art. 19 Abs. 4 GG zwar keinen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 49, 329 <343>; 83, 24 <31>; 87, 48 <61>; 92, 365 <410>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231> ; stRspr). Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl.BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 65, 76 <90>; 96, 27 <39>; 104, 220 <232> ; stRspr). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leer laufen" lassen (vgl.BVerfGE 78, 88 <98 f.>; 96, 27 <39>; 104, 220 <232>).

b) Hiervon muss sich das Rechtsmittelgericht bei der Antwort auf die Frage leiten lassen, ob im jeweiligen Einzelfall für ein nach der Prozessordnung statthaftes Rechtsmittel ein Rechtsschutzinteresse besteht. Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. Neben den Fällen der Wiederholungsgefahr und der fortwirkenden Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff kommt ein trotz Erledigung fortbestehendes Rechtsschutzinteresse in Fällen tief greifender Grundrechtseingriffe in Betracht, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es dann, dass der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden - wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden - Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen (vgl.BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <233>).

Zu der Fallgruppe tief greifender Grundrechtseingriffe, die ihrer Natur nach häufig vor möglicher gerichtlicher Überprüfung schon wieder beendet sind, gehört die Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen aufgrund richterlicher Durchsuchungsanordnung einschließlich der in diesem Rahmen erfolgenden Beschlagnahmeanordnungen (vgl.BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <233> ). Deshalb darf die Beschwerde nicht allein deswegen, weil die richterliche Anordnung vollzogen worden sei und die Maßnahme sich deshalb erledigt habe, unter dem Gesichtspunkt prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden. Vielmehr hat das Beschwerdegericht zu prüfen, ob ungeachtet der eingetretenen Erledigung ein Rechtsschutzinteresse des Betroffenen besteht (vgl.BVerfGE 96, 27 <41>). Hierfür spricht bei der Durchsuchung von Wohnungen das Gewicht des Eingriffs in das Grundrecht des Art. 13 GG.

c) Andererseits ist es grundsätzlich mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen und fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen (vgl.BVerfGE 96, 27 <39>; 104, 220 <232> ). Es ist ein allgemein anerkanntes Rechtsprinzip, dass jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt (vgl.BVerfGE 61, 126 <135> ). Diese allen Prozessordnungen gemeinsame Sachentscheidungsvoraussetzung wird abgeleitet aus dem auch im Prozessrecht geltenden Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB), dem Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte sowie dem auch für die Gerichte geltenden Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns. Ein Rechtsschutzinteresse ist zu bejahen, solange der Rechtsschutzsuchende gegenwärtig betroffen ist und mit seinem Rechtsmittel ein konkretes praktisches Ziel erreichen kann (BVerfGE 104, 220 <232>). So kann das Rechtsschutzbedürfnis auch entfallen, wenn die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs gegen Treu und Glauben verstößt. Dies ist anzunehmen, wenn der Berechtigte sich verspätet auf sein Recht beruft und unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (vgl.BVerfGE 32, 305 <308 f.> ). Das öffentliche Interesse an der Wahrung des Rechtsfriedens kann in derartigen Fällen verlangen, die Anrufung des Gerichts nach langer Zeit untätigen Zuwartens als unzulässig anzusehen (vgl.BVerfGE 32, 305, <308 f.> ; OLG Koblenz, wistra 1987, S. 357 <358>). Auch ein an sich unbefristeter Antrag kann deshalb nicht nach Belieben hinausgezogen oder verspätet gestellt werden, ohne unzulässig zu werden (vgl.BVerfGE 4, 31 <37>; 32, 305 <309> ). Allerdings darf hierdurch der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl.BVerfGE 10, 264 <267 ff.>; 11, 232 <233>; 32, 305 <309>).

2. Gemessen an diesen Kriterien ist die angegriffene Entscheidung im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dem Landgericht war bewusst, dass allein der Vollzug sowie die dadurch eingetretene Erledigung der Durchsuchungsanordnung nicht zur Unzulässigkeit der Beschwerde führen. Für die getroffene Prozessentscheidung waren die Besonderheiten des vorliegenden Falles maßgebend. Danach war nicht nur die Ermittlungsmaßnahme vollzogen. Vielmehr war darüber hinaus nach Zahlung der Geldauflage auch das Verfahren wegen Steuerhinterziehung eingestellt worden. Diese Einstellung erfolgte überdies mit Zustimmung des Beschwerdeführers und war endgültig (vgl. § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO). Schließlich hat der Beschwerdeführer erst nahezu zwei Jahre nach dem Vollzug der Durchsuchung und nach endgültigem Abschluss des gesamten Verfahrens gegen die richterliche Anordnung Beschwerde eingelegt. Unter diesen Umständen ist das Rechtsmittel - obgleich nicht fristgebunden - unzulässig geworden, weil der Beschwerdeführer bei einer Sachlage untätig geblieben ist, bei deren Vorliegen vernünftiger Weise etwas zur Wahrnehmung des Rechts unternommen zu werden pflegt (vgl.BVerfGE 32, 305 <308 f.> ; OLG Koblenz, MDR 1985, S. 344; OLG Koblenz, wistra 1987, S. 357 f.; Hanack in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., vor § 296 Rn. 27; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., vor § 296 Rn. 6; Ruß in: Karlsruher Kommentar, StPO, 4. Aufl., vor § 296 Rn. 7 a.E.; Park, Handbuch Durchsuchung und Beschlagnahme, Rn. 327; Ellersiek, Die Beschwerde im Strafprozess, S. 147; a.A. Dütz, NJW 1972, S. 1025 <1027 f.>). Durch die Annahme des Landgerichts, die Beschwerde sei nunmehr unzulässig, wurde dem Beschwerdeführer deshalb der Weg zum Gericht nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG scheidet damit aus.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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