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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 18.12.2000
Aktenzeichen: 2 BvR 1706/00
Rechtsgebiete: BVerfGG, StPO, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 93c
BVerfGG § 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG § 93b
BVerfGG § 34a Abs. 2
BVerfGG § 90 Abs. 1
BVerfGG § 93c Abs. 1 Satz 1
StPO § 230 Abs. 2
StPO § 112
StPO § 112a
StPO § 112 Abs. 2 Nr. 1
StPO § 329 Abs. 4 Satz 1
StPO § 329 Abs. 4 Satz 2
StPO § 329 Abs. 4
StPO § 329 Abs. 1
StPO § 329 Abs. 2
StPO § 145a Abs. 2 Satz 1
StPO § 145a Abs. 2
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1706/00 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn S ...

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Conny W. Riebe und Koll., Metzstraße 14, München -

gegen

a) den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 9. August 2000 - 2 Ws 893/00 -,

b) den Haftbefehl des Landgerichts München I vom 29. Juni 2000 - 23 Ns 262 Js 225307/97 -

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Sommer, Broß und die Richterin Osterloh gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 18. Dezember 2000 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl des Landgerichts München I vom 29. Juni 2000 - 23 Ns 262 Js 225307/97 - in der Gestalt des Beschlusses des Oberlandesgerichts München vom 9. August 2000 - 2 Ws 893/00 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Kosten zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft zur Erzwingung der Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung (§ 329 Abs. 4 StPO).

I.

1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts München vom 3. Dezember 1998 wegen Beleidigung und Nötigung zugleich mit Hausfriedensbruch zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung und zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Staatsanwaltschaft legte hiergegen Berufung wegen des ihrer Meinung nach zu milden Strafausspruchs ein; sie hatte vor dem Amtsgericht eine Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten beantragt, die zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Der Beschwerdeführer legte ebenfalls Rechtsmittel ein.

Das Landgericht München I bestimmte Termin zur Berufungshauptverhandlung und verfügte die Ladung des Beschwerdeführers unter der im amtsgerichtlichen Urteil vermerkten Anschrift in München sowie die formlose Benachrichtigung des Verteidigers, für den sich eine Vollmacht zur Entgegennahme von Ladungen nach § 145a Abs. 2 StPO bei den Strafakten befand. Die Ladung des Beschwerdeführers misslang. Der Verteidiger teilte mit, dass ihm keine Ladungsvollmacht vorliege, dass aber der Beschwerdeführer persönlich über seinen derzeitigen Wohnsitz in der Schweiz geladen werden könne. Daraufhin verlegte das Landgericht den Termin und ordnete die Ladung des Beschwerdeführers über dessen schweizer Anschrift im Wege der Rechtshilfe an; das Schriftstück lief allerdings mit dem Vermerk "unbekannt" zurück. Ein weiterer Ladungsversuch an einem angeblichen weiteren Wohnsitz im Inland zu einem mit dem Verteidiger bereits abgesprochenen neuen Termin blieb ebenfalls ohne Erfolg. Vom Landgericht veranlasste Aufenthaltsermittlungen führten zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführer im Inland keine ladungsfähige Anschrift (mehr) habe.

2. Das Landgericht stellte daraufhin das Verfahren vorläufig ein und ordnete am 29. Juni 2000 Untersuchungshaft an. Es bestehe dringender Tatverdacht. Ferner sei der Haftgrund des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO gegeben. Der Beschwerdeführer sei flüchtig. An seinem gemeldeten Wohnsitz im Inland halte er sich nicht mehr auf. An der angegebenen Anschrift in der Schweiz sei er nach Auskunft der dortigen Gemeindeverwaltung unbekannt.

Der Beschwerdeführer legte gegen den Haftbefehl Beschwerde ein. Sein Verteidiger überreichte im Verlauf des Beschwerdeverfahrens dem Landgericht eine weitere Vollmachtsurkunde, in der er (wiederum) zur Empfangnahme von Ladungen nach § 145a Abs. 2 StPO ermächtigt wird. Er trug u.a. vor, dass der Beschwerdeführer die Vollmacht unwiderruflich erteilt habe und dass die Ladung diesem an die schweizer Anschrift deshalb nicht habe zugestellt werden können, weil das Schreiben nicht mit seinem Rufnamen versehen gewesen sei.

Das Landgericht half der Beschwerde nicht ab. Es vertrat die Ansicht, dass der Beschwerdeführer nach wie vor flüchtig sei. Auch die nunmehr vorgelegte Vollmacht biete keine Gründe dafür, dass er sich tatsächlich dem Verfahren stelle. Sie habe denselben Wortlaut, wie die bereits früher vorgelegte, die der Beschwerdeführer offenbar widerrufen habe. Ein solcher Widerruf könne sich durchaus erneut ereignen. Im Übrigen gewährleiste auch eine Ladung allein das Erscheinen des Beschwerdeführers nicht.

Das Oberlandesgericht München verwarf die Beschwerde mit Beschluss vom 9. August 2000 als in der Sache unbegründet. Das Erscheinen des Beschwerdeführers in der Berufungshauptverhandlung sei erforderlich, um über das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und zugleich das des Beschwerdeführers entscheiden zu können. Die in § 329 Abs. 1 und 2 StPO genannten Möglichkeiten der Verwerfung der Berufung des Beschwerdeführers ohne Verhandlung zur Sache und die Verhandlung über die Berufung der Staatsanwaltschaft ohne den Beschwerdeführer schieden aus, weil der Beschwerdeführer nicht ordnungsgemäß geladen werden könne. Deswegen habe das Landgericht zu Recht nach § 329 Abs. 4 Satz 1 StPO die Verhaftung des Beschwerdeführers angeordnet. Hiervon habe nach Satz 2 dieser Vorschrift nicht abgesehen werden können, weil nach dem bisherigen Verfahrensgang nicht zu erwarten sei, dass der Beschwerdeführer ohne Zwangsmaßnahmen in der Berufungshauptverhandlung erscheinen werde. Den Erwägungen des Landgerichts im Nichtabhilfebeschluss schließe das Oberlandesgericht sich an. Die Prozessgeschichte in der Berufungsinstanz lege den Schluss nahe, dass die bisherige Vereitelung der Durchführung der Berufung dem Beschwerdeführer nicht ganz unwillkommen sei. In Anbetracht des Anklagevorwurfs und des Ergebnisses der ersten Instanz sei von der Bedeutung der Sache her auch der Erlass eines Haftbefehls verhältnismäßig.

II.

1. Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Haftbefehl und die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts. Er rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 3 Abs. 1 GG.

2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Es hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

3. Das Landgericht München I hat den Haftbefehl durch Beschluss vom 23. Oktober 2000 unter Auflagen außer Vollzug gesetzt. Es hat dem Beschwerdeführer dabei u.a. aufgegeben, "gerichtlichen Ladungen, die über seine Verteidiger erfolgen, unverzüglich" nachzukommen; ein Widerruf der den Verteidigern erteilten Ladungsvollmacht habe die sofortige Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls zur Folge. Ein (neuer) Termin zur Berufungshauptverhandlung ist bislang nicht bestimmt.

III.

1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich bei verständiger Würdigung des mit ihr verfolgten Rechtsschutzzieles gegen den Haftbefehl vom 29. Juni 2000 in der Gestalt der Beschwerdeentscheidung vom 9. August 2000. Das Oberlandesgericht hat den vom Landgericht angenommenen Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO) ersetzt und den Haftbefehl allein noch auf der Grundlage des § 329 Abs. 4 StPO aufrechterhalten. Nur mit diesem Inhalt berührt der Haftbefehl weiterhin Rechte des Beschwerdeführers. Ein Interesse an der Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Haftbefehls in seiner ursprünglichen Gestalt lässt das Vorbringen nicht erkennen.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde mit diesem Inhalt ist zur Durchsetzung in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannter Rechte angezeigt (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch wenn der (geänderte) Haftbefehl im Laufe des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens unter Auflagen außer Vollzug gesetzt worden ist, würde dem Beschwerdeführer durch die Nichtannahme ein besonders schwerer Nachteil entstehen; denn die Aussetzung des Vollzuges ändert nichts daran, dass der Fortbestand des Haftbefehls insbesondere unter Berücksichtigung der freiheitsbeschränkenden Auflagen nach wie vor mit einer schwer wiegenden Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit verbunden ist (vgl. BVerfGE 53, 152 <159 f.>).

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und - in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eröffnenden Weise - auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. insbesondere BVerfGE 32, 87 <93 ff.> und 53, 152 <158 ff.>).

2. Der Haftbefehl, der in der Gestalt des Beschlusses des Oberlandesgerichts München vom 9. August 2000 auf der Grundlage des § 329 Abs. 4 StPO fortbesteht, verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

a) Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgt, dass Anordnung und Vollzug der Untersuchungshaft von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht werden. Angesichts der Bedeutung des Grundrechts auf persönliche Freiheit kann ein Eingriff nur hingenommen werden, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als dadurch, dass der Verdächtige in Haft genommen wird. Das Gericht muss daher stets im Auge behalten, dass es der vornehmliche Zweck und der eigentliche Rechtfertigungsgrund der Untersuchungshaft ist, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen; ist sie zu einem dieser Zwecke nicht mehr nötig, so ist es unverhältnismäßig und daher grundsätzlich unzulässig, sie anzuordnen, aufrechtzuerhalten oder zu vollziehen (vgl. BVerfGE 32, 87 <93>; 53, 152 <158 ff.>).

Dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch für den Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO (BVerfGE 32, 87 <93>) und - selbstverständlich ebenso - für den Haftbefehl nach § 329 Abs. 4 StPO. Beide Vorschriften dienen der Sicherung der Weiterführung und Beendigung eines begonnenen Strafverfahrens für den Fall, dass der Angeklagte in der (Berufungs-)Hauptverhand-lung ohne genügende Entschuldigung ausbleibt. Die so genannte Ungehorsamshaft setzt nicht die Flucht des Angeklagten oder einen sonstigen Haftgrund nach den §§ 112, 112a StPO voraus (vgl. nur Hilger in Löwe-Rosenberg, StPO <25. Auflage>, vor § 112, Rn. 11). Eine Sicherungsmaßnahme gegen den in der Berufungshauptverhandlung ausbleibenden Angeklagten ist vielmehr gemäß § 329 Abs. 4 Satz 1 StPO dann, aber auch nur dann anzuordnen, sofern nicht nach Absatz 1 oder 2 dieser Bestimmung verfahren wird, wenn mit anderen Worten die Berufung des Angeklagten nicht ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen ist und/oder auf die Berufung der Staatsanwaltschaft nicht ohne den Angeklagten verhandelt werden kann. Nach § 329 Abs. 4 Satz 2 StPO ist von einer Vorführung oder Verhaftung des Angeklagten abzusehen, wenn zu erwarten ist, dass er in der neu anzuberaumenden Hauptverhandlung ohne Zwangsmaßnahmen erscheinen wird. Nur dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck in angemessenem Verhältnis zueinander stehen müssen. Das Gericht muss dementsprechend bei der Entscheidung, ob und welche Maßnahmen nach § 329 Abs. 4 StPO zu treffen sind, im Auge behalten, dass sie den Abschluss des Verfahrens gewährleisten sollen. Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr zu vereinbaren, wenn in der nächsten Hauptverhandlung auch bei unentschuldigtem Fernbleiben des Angeklagten ein Urteil nach Maßgabe des § 329 Abs. 1 und 2 StPO ergehen könnte oder wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt wäre, dass der Angeklagte zu dem Termin erscheinen wird (vgl. BVerfGE 32, 87 <94> zum Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO).

Diese verfassungsrechtlichen Grundsätze gelten auch für den noch nicht vollzogenen und den außer Vollzug gesetzten Haftbefehl (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Juni 1995 - 2 BvR 2537/94 - StV 1996, S. 156).

b) Diesen Anforderungen genügt der Beschluss des Oberlandesgerichts angesichts der Besonderheiten des Falles nicht. Seine Erwägungen sind unklar und verstoßen unter jedem denkbaren Gesichtspunkt gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit.

(1) Ausdrücklich stützt das Oberlandesgericht seine Auffassung, bei Ausbleiben des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung könne weder dessen Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen noch auf die Berufung der Staatsanwaltschaft nach § 329 Abs. 2 StPO verhandelt werden, allein auf die nicht näher begründete Annahme, dass der Beschwerdeführer zur Hauptverhandlung nicht ordnungsgemäß geladen werden könne. Bedenken begegnet bereits die dem zu Grunde liegende Rechtsauffassung, dass Zwangsmaßnahmen nach § 329 Abs. 4 StPO nicht das unentschuldigte Ausbleiben des Angeklagten in einem ordnungsgemäß anberaumten Termin voraussetzen, sondern bereits im Vorfeld der Hauptverhandlung gleichsam zur Erzwingung einer ordnungsgemäßen Ladung - hier sogar durch das Beschwerdegericht - angeordnet werden können. Diese Ansicht ist mit Wortlaut und Systematik des Gesetzes kaum zu vereinbaren (vgl. zur Abgrenzung der Anwendungsbereiche von § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO einerseits und § 230 Abs. 2 bzw. § 329 Abs. 4 StPO andererseits: Hilger in Löwe-Rosenberg, StPO, § 112, Rn. 5 bis 9). Ob sie gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verstößt, kann dahinstehen; denn jedenfalls verletzt die weitere Annahme des Oberlandesgerichts, die Zwangsmaßnahme sei deshalb gerechtfertigt, weil der Bescherdeführer weder persönlich noch über seinen Verteidiger ordnungsgemäß geladen werden könne, das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Diese Begründung kann nicht nachvollzogen werden.

Im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung hatte der Verteidiger eine (zweite) Vollmachtsurkunde mit einer Ermächtigung zur Entgegennahme von Ladungen zu den Gerichtsakten gereicht und ausdrücklich erklärt, dass der Beschwerdeführer ihm diese Vollmacht unwiderruflich erteilt habe. Das Oberlandesgericht teilt offenbar die Ansicht des Landgerichts, es handle sich um eine ausdrückliche Vollmacht im Sinne von § 145a Abs. 2 Satz 1 StPO, die grundsätzlich eine Zustellung der Ladung an den Verteidiger ermögliche, aber widerrufen werden könne, wie dies mit der ersten Vollmacht offenbar geschehen sei. Tatsächliche Anhaltspunkte für eine derartige "Wiederholungsgefahr" sind allerdings angesichts der ausdrücklichen anwaltlichen Versicherung der Unwiderruflichkeit selbst dann nicht zu erkennen, wenn man aus der Mitteilung des Verteidigers auf die erste Ladung hin, "daß uns keine Ermächtigung zur Annahme von Ladungszustellungen im Sinne des § 145a Abs. 2 StPO vorliegt" (vgl. Bl. 263 der Strafakten), überhaupt auf einen Widerruf der Vollmacht durch den Beschwerdeführer schließen wollte. Jedenfalls hätte das Oberlandesgericht der Frage nachgehen müssen, ob ein erst nach erfolgter Zustellung aktenkundig gemachter Widerruf die Wirksamkeit der Zustellung überhaupt berühren kann und - für den Fall, dass dies zu verneinen ist - ob ernstlich zu befürchten ist, dass die Vollmacht noch vor Zustellung dem Berufungsgericht gegenüber widerrufen wird.

Selbst wenn aber eine Zustellung der Ladung an den Verteidiger keinen Erfolg versprechen sollte, so bliebe immer noch die Möglichkeit, den Beschwerdeführer persönlich an seinem Wohnsitz in der Schweiz zu laden. Der Verteidiger hat im Beschwerdeverfahren vorgetragen, dass der Zustellungsversuch im Wege der Rechtshilfe deshalb gescheitert sei, weil das vom schweizer Bezirksgericht übersandte Schreiben nicht mit dem Rufnamen des Beschwerdeführers versehen gewesen sei; dies wird durch die dem Bundesverfassungsgericht vorliegenden Strafakten bestätigt (vgl. Bl. 270 dieser Akten). Das Gebot der Verhältnismäßigkeit hätte vor Anordnung oder Aufrechterhaltung von Zwangsmaßnahmen die Prüfung erfordert, ob die offenbar außerhalb des Verantwortungsbereichs des Beschwerdeführers liegenden Zustellungsschwierigkeiten behoben werden können.

(2) Der Haftbefehl in der Gestalt der Entscheidung des Oberlandesgerichts lässt sich auch nicht auf die - in ihr möglicherweise zum Ausdruck kommende - Hilfserwägung stützen, dass die Anwesenheit des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung zur Verhandlung über die Berufung der Staatsanwaltschaft erforderlich und deshalb eine Verfahrensweise nach § 329 Abs. 2 StPO ausgeschlossen, dass aber sein Erscheinen auch bei ordnungsgemäßer Ladung ohne Zwangsmaßnahmen nicht zu erwarten sei. Diese Argumentation lässt sich ebenfalls nicht auf die vom Oberlandesgericht allein hervorgehobene "Prozessgeschichte der Berufungsinstanz" stützen. Vielmehr spricht bei verständiger Würdigung aller Umstände vieles für die Erwartung, dass der Beschwerdeführer einer ordnungsgemäßen Terminsladung Folge leisten wird. Bleibt er nämlich aus, so muss er nicht nur die Verwerfung seines Rechtsmittels gewärtigen (§ 329 Abs. 1 StPO), sondern auch befürchten, dass das Berufungsgericht seine Anwesenheit zur Verhandlung über die Strafmaßberufung der Staatsanwaltschaft doch nicht für erforderlich hält, also nach § 329 Abs. 2 StPO verfährt und unter Umständen den Strafausspruch des Erstgerichts erhöht. Andererseits erscheint es gerade mit Blick auf die Berufungsbegründung der Staatsanwaltschaft äußerst unwahrscheinlich, dass die im Erstverfahren von der Staatsanwaltschaft beantragte und vom Amtsgericht gewährte Strafaussetzung zur Bewährung selbst bei einer Erhöhung der siebenmonatigen Freiheitsstrafe entfallen sollte. Umso weniger leuchtet die Annahme ein, der Beschwerdeführer würde der Berufungshauptverhandlung fernbleiben und dadurch einerseits seine verfahrensrechtliche Stellung deutlich verschlechtern und andererseits die Gefahr seiner Verhaftung begründen. Zu diesen sich aufdrängenden Fragen verhält sich das Oberlandesgericht nicht. Auch dadurch verstößt der Haftbefehl gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit.

3. Der Haftbefehl vom 29. Juni 2000 in der Gestalt des Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 9. August 2000 ist daher aufzuheben, ohne dass es einer Entscheidung über die weitere Grundrechtsrüge bedarf; die Sache ist an das Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Kosten zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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