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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 27.12.2006
Aktenzeichen: 2 BvR 1814/04
Rechtsgebiete: BVerfGG, EMRK


Vorschriften:

BVerfGG § 93a
BVerfGG § 93a Abs. 2
BVerfGG § 93b
EMRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
EMRK Art. 6 Abs. 3
EMRK Art. 6 Abs. 3 lit. d
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1814/04 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10. August 2004 - 3 StR 252/04 -,

b) das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 5. Februar 2004 - 23 Ks 45 Js 15/03 - 43/03 II -

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richter Di Fabio und Landau gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 27. Dezember 2006 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet. Ein Verstoß gegen den Anspruch des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) liegt nicht vor.

1. a) Die im deutschen Strafprozess durch die Einräumung bedeutsamer Mitwirkungsrechte gekennzeichneten Verteidigungsbelange des Beschuldigten sind von Verfassungs wegen durch verfahrensrechtliche Garantien geschützt, die sich neben den wichtigsten speziellen Verfahrensgrundrechten - wie den Ansprüchen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) oder den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) - aus der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), insbesondere dem Rechtsstaatsprinzip ergeben. Werden diese Verfahrensgrundrechte nicht bereits durch spezielle Ausgestaltungen des Strafprozessrechts gewährleistet, erlangen sie ihre volle verfassungsrechtliche Grundlage erst im Zusammenwirken mit dem Anspruch auf ein faires Verfahren. Seine Wurzeln finden sich in den in einem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip verbürgten Grundrechten und Grundfreiheiten des Menschen, insbesondere in dem durch ein Strafverfahren bedrohten Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), dessen freiheitssichernde Aufgabe auch im Verfahrensrecht Beachtung fordert; ferner in Art. 1 Abs. 1 GG, der es verbietet, den Menschen zum Objekt eines staatlichen Verfahrens herabzuwürdigen. Da der Angeklagte nicht nur Objekt des Verfahrens sein darf, muss er die Möglichkeit erhalten, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2000 - 2 BvR 591/00 -, NJW 2001, S. 2245 <2246> m.w.N.).

b) Dieses allgemeine Prozessgrundrecht setzt verfahrensrechtliche Vorkehrungen zur Ermittlung des wahren Sachverhalts sowie einen Mindestbestand verfahrensrechtlicher Mitwirkungsbefugnisse des Angeklagten voraus (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. August 2003 - 2 BvR 1071/03 -, NJW 2004, S. 209 <211>). Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt ein Anspruch auf materielle Beweisteilhabe, also auf Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung. Dieser Anspruch wird einerseits bestätigt, andererseits ausgeformt durch die als Auslegungshilfe verstandenen Regelungsinhalte des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und Art. 6 Abs. 3 EMRK (vgl. BVerfGK 4, 72 <75> m.w.N.).

c) Das Recht auf ein faires Verfahren enthält keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote, sondern bedarf der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, zwischen möglichen Alternativen bei der normativen Konkretisierung von Verfassungsgrundsätzen zu wählen. Erst wenn sich ergibt, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Prinzip konkrete Folgerungen für die Verfahrensgestaltung gezogen werden (vgl. BVerfGE 57, 250 <276>; 70, 297 <309>; 86, 288 <317 f.>).

d) Zur Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Sind für die Beurteilung eines Sachverhalts Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einschlägig, so sind grundsätzlich die vom Gerichtshof in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung einzubeziehen, und es hat eine Auseinandersetzung mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen stattzufinden (vgl. BVerfGE 111, 307 <323 f.>).

e) Nicht jeder Verstoß gegen die tatrichterliche Verantwortung zur umfassenden Sachaufklärung und Würdigung der Beweise rechtfertigt das Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts. Voraussetzung ist vielmehr, dass sich die Strafgerichte von ihrer Verpflichtung entfernt haben, in Wahrung der Unschuldsvermutung bei jedem Beschuldigten auch die Gründe, die gegen die mögliche Täterschaft sprechen, wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen (vgl. BVerfGK 1, 145 <152>).

2. Hieran gemessen begründen die Entscheidungen der Fachgerichte keine Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren.

Dem Landgericht war es im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nicht verwehrt, die Angaben der Mitangeklagten im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Dass der Beschwerdeführer seinen Anspruch auf eine direkte Konfrontation der Mitangeklagten zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens wahrnehmen konnte, führte hier nicht zur Unverwertbarkeit ihrer Angaben.

Da der Mitangeklagten ein umfassendes, von den Gerichten zu respektierendes Schweigerecht zustand, beruhte die Nichtgewährung des Konfrontationsrechts auf einem tragfähigen Grund. Für eine vom Staat schuldhaft verursachte Beeinträchtigung des Konfrontationsrechts gibt es keine Anhaltspunkte. So war bei Durchführung der Vernehmungen im Ermittlungsverfahren nicht absehbar, dass die Mitangeklagte in der Hauptverhandlung hinsichtlich der Fragen des Beschwerdeführers von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen würde; zudem hätte sich die Mitangeklagte jederzeit auf ihr Schweigerecht berufen können. Es kommt hinzu, dass der Beschwerdeführer Drohungen gegen die Mitangeklagte ausgesprochen hatte. Schließlich hat der Beschwerdeführer weder in der Verfassungsbeschwerde noch im Revisionsverfahren eine Unverwertbarkeit geltend gemacht.

a) Die Fachgerichte haben in der Sache nicht verkannt, dass die fehlende Konfrontationsmöglichkeit durch eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung auszugleichen war. Schon weil das Landgericht von einer alternativen Verantwortlichkeit entweder des Beschwerdeführers oder der Mitangeklagten unter Ausschluss Dritter ausgegangen ist, ist hier nicht zu besorgen, dass es sich des Erfordernisses einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung nicht bewusst gewesen sein könnte. Zudem führt die Antragsschrift des Generalbundesanwalts, welcher sich der Bundesgerichtshof im Ergebnis angeschlossen hat, ausdrücklich aus, dass bereits die mangelnde Befragungsmöglichkeit eine vorsichtige Beweiswürdigung bedingte.

b) Das Tatgericht hat die Angaben der Mitangeklagten einer ausführlichen und sorgfältigen Analyse unterzogen sowie, durch eine Vielzahl von Sachverständigen beraten, den Sachverhalt umfassend aufgeklärt und die Beweise vorsichtig gewürdigt.

c) Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft des Beschwerdeführers schließlich nicht allein durch die Aussage der Mitangeklagten, sondern aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Beweisanzeichen und Indizien gewonnen. So attestierten zwei psychiatrische Sachverständige der Mitangeklagten ein geringes Aggressionspotential, während vom Beschwerdeführer konfrontierte Zeugen diesem eine hohe Reizbarkeit und Impulsivität bescheinigten. Diesem - außerhalb der Aussage der Mitangeklagten liegenden - Umstand durften die Fachgerichte in Anbetracht der nur durch eine massive Gewalteinwirkung erklärbaren todesursächlichen Verletzungen, aber auch wegen der festgestellten älteren Unterblutungen an anderen Körperteilen, die den untersuchenden Arzt zu einer Anzeige wegen Kindesmisshandlung veranlassten, besonderes Gewicht beimessen. Darüber hinaus hatte der Beschwerdeführer der Mitangeklagten schon vor der Geburt ihres Kindes Anlass gegeben, ihn u.a. wegen Körperverletzung anzuzeigen. Weiterhin hatte eine Freundin bei einem Besuch eine Gesichtsverletzung des Kindes bemerkt, welche während der Betreuung des Kindes durch den Beschwerdeführer entstanden sein musste. Ferner findet die Schilderung der Mitangeklagten, während der Tatzeit das Haus für einen Behördengang verlassen zu haben, in den Angaben des (konfrontierten) Zeugen B. eine Bestätigung. Schließlich ist auch die Einlassung des Beschwerdeführers durch das eingeholte Sachverständigengutachten und die Angaben weiterer Zeugen widerlegt. Die Auffassung des Bundesgerichtshofs, jedenfalls bei einer Betrachtung des Verfahrens in seiner Gesamtheit liege ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nicht vor, ist danach verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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