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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 01.04.1998
Aktenzeichen: 2 BvR 1951/96
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 1951/96 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn H ...

gegen

a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Koblenz vom 26. August 1996 - 2 Ws 515/96 -,

b) den Beschluß des Landgerichts Koblenz - Strafvollstreckungskammer Diez - vom 5. Juni 1996 - 7 StVK 151/96 -

hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Präsidentin Limbach und die Richter Kruis, Winter

gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 1. April 1998 einstimmig beschlossen:

1. Der Beschluß des Landgerichts Koblenz - Strafvollstreckungskammer Diez - vom 5. Juni 1996 - 7 StVK 151/96 - hat den Beschwerdeführer in dessen Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes verletzt. Dieser Beschluß und der Beschluß des Oberlandesgerichts Koblenz vom 26. August 1996 - 2 Ws 515/96 - werden im Kostenausspruch aufgehoben. Insoweit wird die Sache an das Landgericht Koblenz zurückverwiesen.

Im übrigen ist der Beschluß des Oberlandesgerichts Koblenz vom 26. August 1996 - 2 Ws 515/96 - gegenstandslos.

2. Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

G r ü n d e :

Der Beschwerdeführer, ein Strafgefangener, begehrt die Gewährung von Ausgang nach langjährigem Strafvollzug.

I.

Der im November 1940 geborene Beschwerdeführer verbüßt unter anderem wegen einer Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz eine Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren. Zwei Drittel der Strafe waren am 1. Oktober 1997 verbüßt. Ihr Rest wird am 1. Februar 2001 verbüßt sein.

1. a) Der Beschwerdeführer hatte "möglichst" für Donnerstag, den 22. Februar 1996 die Bewilligung eines dreistündigen unüberwachten Besuchsausgangs gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG in Begleitung zweier - von ihm als zuverlässig bezeichneter - Bezugspersonen beantragt. Ein solcher Ausgang solle ihm - nach Verbüßung der Hälfte der Strafe - zur Erprobung dienen und die Gewährung von Urlaub sowie die Gestaltung eines freien Beschäftigungsverhältnisses vorbereiten. Der Besuchsausgang sei auch geeignet, seiner Isolation entgegenzuwirken und das Erreichen des Vollzugsziels zu fördern. Seine persönliche Eignung stehe außer Frage. Ein Mißbrauch sei nicht zu befürchten. Eventuelle Bedenken könnten in einem Gespräch ausgeräumt werden.

Mit Bescheid vom 21. Februar 1996 lehnte die Justizvollzugsanstalt den Antrag mit folgender Begründung ab:

"Ihr Antrag wurde in der Vollzugskonferenz am 21. 2. 1996 besprochen und abschlägig beschieden. Sie sind derzeit nicht für die Gewährung von Besuchsausgang geeignet, weil sie noch im geschlossenen Vollzug untergebracht sind und sich vor der Gewährung von Ausgang im offenen Vollzug bewährt haben müssen. Im Hinblick auf das Strafende bestehen Sicherheitsbedenken. Außerdem ist ihnen bekannt, daß aus dem geschlossenen Vollzug weder Urlaub noch Ausgang gewährt wird."

Gegen diesen Bescheid rief der Beschwerdeführer gemäß §§ 109 ff. StVollzG die Strafvollstreckungskammer an und beantragte Prozeßkostenhilfe. Er machte dazu unter anderem geltend, die Begründung der Vollzugsbehörde sei insofern fehlerhaft, als die Versagungsgründe nicht konkretisiert worden seien. Weder sei festgestellt, ob die Anstalt die Negativvoraussetzungen des § 11 Abs. 2 StVollzG annehme, noch ob sie unter Verneinung derselben ihr Ermessen ausgeübt habe. Sicherheitsbedenken ganz allgemein an das Strafende knüpfen zu wollen, sei keine nachvollziehbare Argumentation. Es gehe nicht an, daß die Vollzugsbehörde den Besuchsausgang mit dem Hinweis ablehne, er befinde sich im geschlossenen Vollzug. Das Gesetz mache die Gewährung von Ausgang nicht von einer vorherigen Bewährung im offenen Vollzug abhängig. Andernfalls wären alle Gefangenen im geschlossenen Vollzug ungeeignet für Vollzugslockerungen, die aber gerade den schädlichen Auswirkungen langjährigen Freiheitsentzuges im geschlossenen Vollzug entgegensteuern sollten. Die Ablehnung von Vollzugslockerungen sei rechts- und ermessensfehlerhaft, wenn sie nicht auf einem vollständig ermittelten und zutreffenden Sachverhalt beruhe und die Vollzugsanstalt nicht alle ihr bekannten Sachumstände berücksichtigt und im Einzelfall abgewogen habe. Dies aber sei zu seinem Nachteil nicht geschehen.

Die Strafvollstreckungskammer übersandte den Antrag der Justizvollzugsanstalt mit der Bitte um Stellungnahme, ohne besondere der Aufklärung des Sachverhalts dienende Fragen zu stellen. Daraufhin bekräftigte die Justizvollzugsanstalt lediglich, daß die beantragte Vollzugslockerung gemäß § 11 StVollzG nach Abwägung aller für und gegen den Antragsteller sprechenden Fakten nach Beratung in der Konferenz aus Sicherheitsgründen (langes Strafende, noch im geschlossenen Vollzug untergebracht, noch keine Bewährung im offenen Vollzug) abgelehnt worden sei. Der Antragsteller sei derzeit für Vollzugslockerungen jeglicher Art ungeeignet. Dabei nahm sie Bezug auf eine von ihr in einem anderen Verfahren abgegebene Stellungnahme.

Auf der Grundlage dieser Äußerung bestätigte die Strafvollstreckungskammer den Bescheid der Vollzugsbehörde. Vollzugslockerungen dürften gemäß § 11 Abs. 2 StVollzG nur bei fehlender Flucht- bzw. Mißbrauchsgefahr bewilligt werden. Der Bescheid lasse erkennen, daß er - jedenfalls auch - auf den gesetzlichen Versagungsgrund der Fluchtgefahr gestützt worden sei. Die gerichtliche Prüfung sei darauf beschränkt, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen sei, ob sie ihrer Entscheidung den richtigen Begriff des Versagungsgrundes zugrunde gelegt und dabei die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten habe. Danach sei der ablehnende Bescheid nicht zu beanstanden. Es entspreche herrschender Auffassung und ständiger Rechtsprechung von Landgericht und Oberlandesgericht, daß eine Fluchtgefahr fehlerfrei aus der Länge der noch zu verbüßenden Strafe hergeleitet werden könne. Ein früherer Entlassungszeitpunkt als der zum 1. Februar 2001 sei derzeit nicht ersichtlich. Unschädlich sei, daß die Justizvollzugsanstalt nicht die Zuverlässigkeit der bezeichneten Bezugspersonen und das Gesprächsangebot des Beschwerdeführers beachtet habe. Es sei nicht ersichtlich, wie die von der Justizvollzugsanstalt erhobenen Sicherheitsbedenken dadurch ausgeräumt werden könnten, daß der Beschwerdeführer durch anstaltsfremde Personen begleitet werde. Indem die Vollzugsbehörde auf "Sicherheitsbedenken (=Fluchtgefahr)" abgestellt habe, habe sie entgegen dem Vorbringen des Antragstellers schließlich auch den richtigen Begriff des Versagungsgrundes herangezogen. Schließlich sei es entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ermessensfehlerfrei und nicht zu beanstanden, wenn die Vollzugsbehörde einem Gefangenen, der mit zeitlich fernem Strafende noch im geschlossenen Vollzug untergebracht sei, ohne bisher in den Genuß irgendwelcher Vollzugslockerungen gekommen zu sein, nicht sogleich Vollzugslockerungen in weitgehender, nämlich unüberwachter Form bewillige, sondern zunächst eine Bewährung im offenen Vollzug für erforderlich halte. Mangels hinreichender Erfolgsaussicht sei auch der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe zurückzuweisen.

Das Oberlandesgericht verwarf die Rechtsbeschwerde mit Beschluß vom 26. August 1996 gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG als unzulässig.

b) Gegen die Entscheidungen des Oberlandesgerichts und des Landgerichts wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner rechtzeitig eingegangenen Verfassungsbeschwerde. Er rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und aus Art. 19 Abs. 4 GG.

Die Versagung der beantragten Vollzugslockerung lasse sich nicht auf eine gesetzliche Grundlage stützen; das habe die Strafvollstreckungskammer verkannt. Auszugehen sei von der mangelhaften Begründung des Bescheides der Justizvollzugsbehörde. Sie habe die fehlende Eignung für die Vollzugslockerung daraus abgeleitet, daß der Beschwerdeführer noch im geschlossenen Vollzug untergebracht sei, sich vor der Gewährung von Ausgang zunächst im offenen Vollzug bewähren müsse und daß Sicherheitsbedenken im Hinblick auf das Strafende bestünden. Ihm, dem Beschwerdeführer, sei unbekannt, daß aus dem geschlossenen Vollzug weder Urlaub noch Ausgang gewährt werde. Die fehlende Eignung an die Unterbringung im geschlossenen Vollzug zu knüpfen sei rechtswidrig, weil hierfür das Gesetz keine Stütze gebe. Eine Vollzugslockerung solle gerade den schädlichen Auswirkungen des langjährigen Freiheitsentzuges bei Unterbringung im geschlossenen Vollzug entgegenwirken. Dementsprechend gelte die Grundsatzregelung des § 11 StVollzG für den geschlossenen Vollzug ebenso wie für den offenen. Auch eine vorausgehende Bewährung im offenen Vollzug sei im Gesetz nicht gefordert.

Zu beanstanden sei auch die Begründung der Sicherheitsbedenken mit dem fernen Strafende. Wolle sich die Vollzugsbehörde auf einen gesetzlichen Versagungsgrund berufen, müsse sie diesen im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens zunächst einmal zutreffend festlegen und begründen. "Sicherheitsbedenken" seien kein gesetzlicher Versagungsgrund. Flucht- und/oder Mißbrauchsbefürchtungen seien nicht festgestellt. Um die Aufhebung des angegriffenen Bescheides zu vermeiden, habe die Strafvollstreckungskammer den Begriff "Sicherheitsbedenken" willkürlich in "Fluchtgefahr" umgedeutet. Der Begriff "Sicherheitsbedenken" umfasse ein weites Bedeutungsspektrum, von dem ermessensfehlerfrei nicht zwingend auf "Fluchtgefahr" geschlossen werden könne. Dem Gericht habe es auch nicht zugestanden, sein Ermessen an die Stelle der Vollzugsbehörde zu setzen. Zu Unrecht schließlich gehe das Vollstreckungsgericht davon aus, die Rechtsfigur der Beurteilungsermächtigung mit Beurteilungsspielraum enthebe die Vollzugsbehörde einer ausführlichen Begründung, in der alle für und gegen die Vollzugslockerung sprechenden Umstände gegeneinander abgewogen seien.

c) Das Ministerium der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz hat mitgeteilt, daß von einer Stellungnahme abgesehen werde.

2. Inzwischen hat der Beschwerdeführer seinen Antrag auf Bewilligung von Vollzugslockerungen (Ausgang oder Urlaub) mehrfach wiederholt. Die Ablehnung dieser Anträge durch die Justizvollzugsanstalt wurde von der Strafvollstreckungskammer stets bestätigt. Es möge zwar zweifelhaft sein, ob der Versagungsgrund der Fluchtgefahr vorliege. Jedenfalls sei nicht zu beanstanden, daß die Justizvollzugsanstalt eine Mißbrauchsgefahr angenommen habe. Sie habe ausgeführt, der Beschwerdeführer müsse sich zuvor ausreichend im Freigang bewährt haben, ohne daß ein Mißbrauch bekannt geworden sei. Bislang habe jedoch noch keinerlei Bewährung in irgendwelchen Vollzugslockerungen stattgefunden. Die Justizvollzugsanstalt schätze die Persönlichkeit des Antragstellers in zumindest vertretbarer Weise so ein, daß nicht nur sein Vollzugsverhalten durch Uneinsichtigkeit und Widersetzlichkeit geprägt sei, sondern dem Beschwerdeführer auch die Bereitschaft fehle, die Ursachen der Kriminalität aufzuarbeiten und sich Behandlungsmaßnahmen zu unterziehen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, da dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Zwar ist das Anliegen des Beschwerdeführers "möglichst" für Donnerstag, den 22. Februar 1996 einen unüberwachten dreistündigen Besuchsausgang bewilligt zu erhalten, nicht nur durch Zeitablauf sondern auch dadurch überholt, daß er inzwischen mehrfach weitere Vollzugslockerungen beantragte und ihm diese rechtskräftig versagt wurden. Der Beschwerdeführer hat jedoch ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr (vgl. BVerfGE 81, 138 <141 f.>). Denn die Strafvollstreckungskammer hat die ablehnenden Entscheidungen der Vollzugsbehörde stets mit Begründungen bestätigt, die darauf fußten, daß der Beschwerdeführer sich noch nicht in anderen Formen der Vollzugslockerung - Freigang oder offener Vollzug - habe bewähren können, weil er von der Anstalt dafür nicht für geeignet erachtet werde.

Die Kammer ist für eine stattgebende Entscheidung zuständig, da die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist.

1. a) Erstrebt ein Gefangener nach mehrjährigem Freiheitsentzug Vollzugslockerungen (§ 11 Abs. 1 StvollzG), so wird er durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse berührt. Dieses Interesse richtet sich nicht nur darauf, vor schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges im Rahmen des Möglichen bewahrt zu werden, sondern auch auf die Rahmenbedingungen, die einer Bewährung und Wiedereingliederung förderlich sind (vgl. BVerfGE 35, 202 <235 f.>; 36, 174 <188>; 45, 187 <238 f.>; 64, 261 <272 f.> stRspr). Solchen Zielen dient ein gemäß § 11 Abs. 1 StVollzG mit Zustimmung des Gefangenen als Lockerung des Vollzugs angeordneter Ausgang oder eine Ausführung unter Aufsicht ebenso wie der in § 13 Abs. 1 StVollzG geregelte Urlaub (vgl. dazu BVerfGE 64, 261 <273>).

Derartige Vollzugslockerungen kommen allerdings einer befristeten Aufhebung des Freiheitsentzuges nahe. Es besteht mithin ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen dem rechtsstaatlichen Interesse, die Vollstreckung rechtskräftig erkannter Freiheitsstrafen sicherzustellen und die Allgemeinheit vor Straftaten zu schützen (vgl. BVerfGE 46, 214 <222 ff.>), und dem Gebot der sozialen Integration des Gefangenen gemäß § 2 Satz 1 StVollzG (vgl. BVerfGE 64, 261 <276>). Der Gewährung derartiger vollzugslockernder Maßnahmen sind insbesondere dort Schranken gesetzt, wo die Befürchtung besteht, der Gefangene werde sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder eine Lockerung des Vollzugs zu Straftaten mißbrauchen (vgl. § 11 Abs. 2 StVollzG). Die Justizvollzugsanstalt darf es in diesen Fällen aber nicht bei bloßen pauschalen Wertungen oder bei dem abstrakten Hinweis auf eine Flucht- oder Mißbrauchsgefahr im Sinne von § 11 Abs. 2 StVollzG bewenden lassen. Sie hat vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Mißbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren (vgl. BVerfGE 64, 261 <277>; 70, 297 <312 ff.>). Das mit jeder Vollzugslockerung verbundene Risiko eines Entweichens aus der Haft oder eines Mißbrauchs der Maßnahme zu Straftaten muß aus diesen Gründen heraus unvertretbar erscheinen (vgl. BVerfGE 70, 297 <313>).

b) Versagt die Justizvollzugsanstalt eine Vollzugslockerung unter Berufung auf § 11 Abs. 2 StVollzG, prüfen die Vollstreckungsgerichte im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG, ob die Vollzugsbehörde die unbestimmten Rechtsbegriffe der Befürchtung von Flucht oder Mißbrauch richtig ausgelegt und angewandt hat. Jedoch eröffnet der Versagungsgrund der Flucht- und Mißbrauchsgefahr als Prognoseentscheidung der Vollzugsbehörde einen - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden - Beurteilungsspielraum, in dessen Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind (vgl. BGHSt 30, 320 <324 f.>). Der Beurteilungsspielraum entbindet die Vollstreckungsgerichte indes nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht. Dabei ist in den Blick zu nehmen, daß die Vollzugslockerung dazu dient, die Erreichung des Vollzugszweckes (Resozialisierung) zu fördern. Das Gericht hat dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde als Voraussetzungen ihrer Entscheidung alle Tatsachen zutreffend angenommen und den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt hat (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>).

Legt das Strafvollstreckungsgericht diesen Maßstab seiner Entscheidung zugrunde, prüft das Bundesverfassungsgericht bei der vorliegenden Fallgestaltung auf Verfassungsbeschwerde hin nur nach, ob das Strafvollstreckungsgericht der Vollzugsbehörde nicht einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verkannt hat, und ob die angegriffene Entscheidung unter Zugrundelegung des dargelegten fachgerichtlichen Maßstabs schlechthin nicht mehr nachvollziehbar ist und damit den aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abzuleitenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt.

2. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer genügt den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.

a) Die Strafvollstreckungskammer hat unbeanstandet gelassen, daß die Vollzugsbehörde nur jene Gefangene als für einen Besuchsausgang geeignet erachtet, die sich bereits im offenen Vollzug bewährt haben. Damit schließt die Justizvollzugsanstalt die Gewährung von Besuchsausgang als Resozialisierungsmittel generell für den geschlossenen Vollzug aus, obwohl dies weder einer ausdrücklichen Anordnung des Gesetzes noch dessen irgendwie ermittelbarem Willen entspricht. Es kann dem Gesetz nämlich nicht entnommen werden, daß für eine große Zahl von Gefangenen, für die aus den verschiedensten Gründen der offene Vollzug nicht in Betracht kommt, das Resozialisierungsmittel des Besuchsausgangs von vornherein nicht zur Verfügung stehen soll. Der gesetzlichen Regelung entspricht das Gegenteil: Die Vollzugslockerungen gemäß § 11 StVollzG stehen für alle Gefangenen zur Verfügung. Es ist dort keine Rangfolge bestimmt, daß die Vollzugslockerungen nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG nur Gefangenen vorbehalten wäre, die sich zuvor in einer Beschäftigung außerhalb der Anstalt ohne Aufsicht (Freigang) bewährt haben.

Die Entscheidung über die Gewährung von Lockerungen ist allerdings auf der Grundlage eines vollständig und zutreffend ermittelten Sachverhalts unter Abwägung aller für und gegen die erstrebte Lockerungsmaßnahme sprechenden Gründen zu treffen. Die Strafvollstreckungskammer darf nicht Sicherheitsbedenken hinnehmen, die sich nicht auf die beantragte Vollzugslockerung, sondern auf eine andere Form des gelockerten Vollzugs beziehen. Erst recht nicht darf die Strafvollstreckungskammer eine Vollzugspraxis akzeptieren, bei der die Gewährung von Ausgang für Gefangene im geschlossenen Vollzug ausgeschlossen ist. Sie verkennt damit das Gewicht des Resozialisierungsprinzips und mißachtet zugleich den von ihr selbst in Anspruch genommenen Prüfungsmaßstab.

b) Die Strafvollstreckungskammer hat das Gewicht des Resozialisierungsgebotes auch insoweit verkannt und damit ihren eigenen Prüfungsmaßstab verfehlt, als sie die von der Vollzugsbehörde vorgetragene Erwägung hinnimmt, es bestünden Sicherheitsbedenken im Hinblick auf die zeitliche Ferne des Strafendes. Eine derart allgemeine Erwägung kann nicht in die Gesamtwürdigung einfließen, die der Entscheidung über die Gewährung einer Vollzugslockerung zugrunde liegt. Nach § 11 Abs. 2 StVollzG dürfen Vollzugslockerungen mit Zustimmung des Gefangenen nur angeordnet werden, wenn nicht zu befürchten ist, daß der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzugs zu Straftaten mißbrauchen werde. Die Justizvollzugsanstalt darf, wie bereits dargelegt, sich aber nicht auf bloße pauschale Wertungen beschränken, sondern hat im Rahmen der Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Mißbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren. Diese Regelung schließt es zugleich aus, daß bloß allgemein geäußerte Sicherheitsbedenken in die Ermessensentscheidung über die Gewährung der Vollzugslockerung einfließen.

Die Strafvollstreckungskammer hat es unternommen, die von der Justizvollzugsanstalt geäußerten Sicherheitsbedenken in eine Befürchtung von Flucht umzudeuten und damit ihre eigene Einschätzung an die Stelle der von der Vollzugsbehörde gegebenen Bewertung treten zu lassen. Auch insoweit ist sie von ihrem selbstgewählten Prüfungsmaßstab abgewichen. Die Aussage der Vollstreckungsbehörde, es bestünden Sicherheitsbedenken, ist viel zu allgemein, als daß es vertretbar wäre, diese im Sinne einer Befürchtung von Flucht zu verstehen. Näher läge bei dem wegen einer Straftat gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilten Beschwerdeführer die Annahme, daß die Vollzugsbehörde den Mißbrauch des Ausgangs zu neuen Straftaten befürchte. Was immer hier vorstellbar und zu vermuten sein mag, die Strafvollstreckungskammer hat jedenfalls dadurch, daß sie eigene Erwägungen eingeführt hat, den Rahmen der ihr zustehenden gerichtlichen Überprüfung in einer nicht nachvollziehbaren Weise überschritten.

c) Die Strafvollstreckungskammer hat schließlich, was unter dem Blickwinkel des Resozialisierungsgebotes gleichfalls von Verfassungs wegen zu beantanden ist, dem Umstand keine Beachtung geschenkt, daß sich die Vollzugsbehörde nicht zu dem die Vollzugslockerung rechtfertigenden Behandlungsbedarf des Beschwerdeführers geäußert und sich weder mit dessen Zuverlässigkeit noch mit der Zuverlässigkeit seiner Begleitpersonen befaßt hat. Auch insoweit fehlt es an der Darlegung maßgeblicher Umstände.

3. Da der Antrag des Beschwerdeführers "möglichst" für Donnerstag, den 22. Februar 1996 Besuchsausgang bewilligt zu erhalten, durch Zeitablauf und durch spätere Antragswiederholungen gegenstandslos geworden ist, bedarf es, soweit die Strafvollstreckungskammer die Ablehnung bestätigt hat, nicht der Aufhebung. Das Bundesverfassungsgericht läßt es insoweit bei der Feststellung bewenden, daß die Entscheidung die Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt hat. Gegenstandslos geworden ist die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts insoweit, als sie das Rechtsmittel gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG als unzulässig verworfen hat. Gleiches gilt für die Versagung der Prozeßkostenhilfe durch die Strafvollstreckungskammer und das Oberlandesgericht. Im Kostenausspruch sind beide Entscheidungen jedoch aufzuheben; die Sache ist insoweit an die Strafvollstreckungskammer zu neuerlicher Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Justizvollzugsanstalt und die Strafvollstreckungsgerichte haben, wenn der Beschwerdeführer erneut Vollzugslockerungen beantragt, die maßstäblichen Ausführungen unter II. 1. dieses Beschlusses zu beachten.

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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