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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 10.12.1997
Aktenzeichen: 2 BvR 2172/97
Rechtsgebiete: GG, StPO


Vorschriften:

StPO § 458 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 2172/97 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn M ...

gegen

a) den Beschluß des Landgerichts Wuppertal vom 27. Oktober 1997 - 23 Qs 454/97 -, b) den Beschluß des Landgerichts Wuppertal vom 18. September 1997 - 23 Qs 392/97 -,

c) die Beschlüsse des Amtsgerichts Wuppertal vom 12. Mai, 2. Juni und 27. August 1997 - 21 Ds 12 Js 103/95 -

hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung

hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Präsidentin Limbach und die Richter Kruis, Winter

gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 10. Dezember 1997 einstimmig beschlossen:

Die Vollziehung des Beschlusses des Landgerichts Wuppertal vom 18. September 1997 - 23 Qs 392/97 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen ausgesetzt.

G r ü n d e :

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Vollstreckung eines Gesamtstrafenbeschlusses nach § 460 StPO, in dessen Tenor der Ausspruch über eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung versehentlich nicht aufgenommen worden ist.

I.

Der Beschwerdeführer, gegen den im Jahr 1995 bereits drei Freiheitsstrafen verhängt worden waren, die jeweils zur Bewährung ausgesetzt worden waren, wurde am 27. März 1996 erneut zu einer Freiheitsstrafe (ohne Bewährung) verurteilt. Dabei unterblieb die gebotene Bildung einer Gesamtstrafe mit den Erkenntnissen aus dem Jahr 1995, weshalb das zuständige Amtsgericht mit Beschluß vom 12. Mai 1997 eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung vornahm. Dieser Beschluß war insoweit fehlerhaft, als die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung in den Gründen "für die neu gebildete Gesamtstrafe" vorgesehen, jedoch nicht im Tenor ausgesprochen war. Er wurde mangels Anfechtung rechtskräftig.

Auf Anfrage der zuständigen Staatsanwaltschaft faßte das Amtsgericht am 2. Juni 1997 einen "Berichtigungsbeschluß", mit dem es den Tenor vom 12. Mai 1997 dahin ergänzte, die Vollstreckung der Strafe werde zur Bewährung ausgesetzt. Diesen Berichtigungsbeschluß hob das Landgericht auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft am 15. Juli 1997 als rechtswidrig auf.

Am 27. August 1997 erkannte das Amtsgericht auf eine Unzulässigkeit der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe laut Beschluß vom 12. Mai 1997, denn dieser sei dahin auszulegen, daß die Strafe zur Bewährung habe ausgesetzt werden sollen. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wurde auch dieser Beschluß vom Landgericht mit dem hier verfahrensgegenständlichen Beschluß vom 18. September 1997 aufgehoben. Die Beschwerdekammer hob hervor, das Gesamtstrafenerkenntnis vom 12. Mai 1997 - das keine Bewährungsaussetzung enthalte - sei rechtskräftig; im Vollstreckungsverfahren nach § 458 Abs. 1 StPO sei dessen inhaltliche Abänderung nicht mehr zulässig. Eine solche liege hier vor, denn bei Widersprüchen zwischen Tenor und Gründen sei der Inhalt des Tenors maßgeblich.

II. Nachdem Gegenvorstellungen des Beschwerdeführers vom Landgericht mit Beschluß vom 27. Oktober 1997 zurückgewiesen worden waren, rügt er mit seiner Verfassungsbeschwerde, er werde verfassungswidrig in Haft gehalten. Ausweislich der Beschlüsse des zuständigen Amtsgerichts sei die gegen ihn neu verhängte Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt; es fehle daher an der Vollstreckungsgrundlage.

III.

Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Muß dagegen der Ausgang des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens als offen angesehen werden, so sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber versagt bliebe (vgl. BVerfGE 94, 334 <347>; stRspr).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

Strafvollstreckungsgerichtliche Entscheidungen nach § 458 Abs. 1 StPO, die sich unmittelbar auf die Durchsetzung des Freiheitsgrundrechtes nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG auswirken, haben bei der Auslegung des zugrundeliegenden Straferkenntnisses die herausragende Bedeutung dieser Grundrechtsgewährleistung zu beachten. Es erscheint naheliegend, daß eine Rechtsauffassung, die an einen vom Betroffenen nicht beeinflußbaren richterlichen Entscheidungsfehler einen langdauernden Freiheitsentzug knüpft, auf einer groben Verkennung des Grundrechtsschutzes des Betroffenen, wenn nicht gar auf willkürlichen Überlegungen beruht.

3. Die damit gebotene Folgenabwägung führt zum Erlaß der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nämlich nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so entstünde dem Beschwerdeführer durch die Fortsetzung der Strafvollstreckung ein schwerer, nicht wiedergutzumachender Eingriff in sein Recht auf persönliche Bewegungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, dem das Grundgesetz besonderen Schutz angedeihen läßt (vgl. BVerfGE 65, 317 <322>; BVerfG, NJW 1995, S. 3047 f.).

Ergeht dagegen die einstweilige Anordnung und wird die Verfassungsbeschwerde später als unbegründet zurückgewiesen, so wögen die damit verbundenen Nachteile weniger schwer. In diesem Fall könnte die verhängte Strafe vorübergehend nicht vollstreckt werden. Im gegebenen Fall ist aber nicht erkennbar, daß diese Vollstreckung nicht nachgeholt werden könnte; angesichts dessen ist ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit nicht zu besorgen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Limbach Kruis Winter Winter

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