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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 15.12.2004
Aktenzeichen: 2 BvR 2219/01
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 5 Abs. 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 2 BvR 2219/01 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 26. November 2001 - Ws 1346/01 -,

b) den Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 16. Oktober 2001 - StVK 60/01 (01) -,

c) die Verfügung des zuständigen Abteilungsleiters der Justizvollzugsanstalt Straubing vom 29. Januar 2001

hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Jentsch, Broß und die Richterin Lübbe-Wolff gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 15. Dezember 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 16. Oktober 2001 - StVK 60/01 (01) - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Regensburg zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 26. November 2001 - Ws 1346/01 - ist damit gegenstandslos.

2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Anhalten eines an einen Strafgefangenen adressierten Exemplars der Broschüre "Positiv in Haft".

I.

1. Der Beschwerdeführer ist Hochschullehrer und Leiter des Strafvollzugsarchivs an der Universität Bremen. Im Januar 2001 bat ein in der Justizvollzugsanstalt Straubing inhaftierter Strafgefangener mit an die Universität gerichtetem Schreiben um Übersendung des "Merkheftes über Musterbegründungen und Standardanträge im Strafvollzug" und um allgemeine Informationen über das Strafvollzugsarchiv. Der Beschwerdeführer adressierte daraufhin an den Gefangenen ein Exemplar der Broschüre "Positiv in Haft". Die Broschüre wird von der Deutschen Aids-Hilfe e.V. herausgegeben. Sie umfasst 128 Seiten und enthält neben einem medizinischen Teil einen etwa gleich umfangreichen Teil zu rechtlichen Fragen des Strafvollzugs, der als praktische Hilfestellung für Gefangene konzipiert ist und unter anderem "Musteranträge" enthält. In diesem Teil wird unter anderem ausgeführt:

" ... Obwohl das Strafvollzugsgesetz Gefangene nirgends ausdrücklich zur Rückkehr in die Anstalt verpflichtet, wird meist angenommen, dass Flucht, Entweichung oder Nichtrückkehr vom Urlaub einen Disziplinartatbestand darstellen. Du kannst dagegen wie folgt argumentieren, auch wenn dies gegenwärtig wenig Aussicht auf Erfolg hat:

Ich darf nicht gezwungen werden, an meiner eigenen Einsperrung mitzuwirken. Meine Flucht (Entweichung, Nichtrückkehr usw.) verstößt auch nicht gegen § 82 StVollzG, weil diese Bestimmung nur die Sicherheit oder Ordnung im räumlichen Bereich der Anstalt gewährleisten soll".

Der Beschwerdeführer ist im Impressum der Informationsschrift nicht aufgeführt. Die Einleitung zum rechtlichen Teil der Broschüre enthält jedoch den ausdrücklichen Hinweis, dass die nachfolgenden Informationen aus der Arbeit des Strafvollzugsarchivs an der Universität Bremen hervorgegangen seien.

Mit Verfügung des zuständigen Abteilungsleiters der Justizvollzugsanstalt Straubing vom 29. Januar 2001 wurde die Broschüre angehalten. Zur Begründung wurde ausgeführt, der rechtliche Teil der Broschüre enthalte in großem Umfange Informationen, die die Gefangenen zu einem vollzugsablehnenden Verhalten und zu einer missbräuchlichen Handhabung des Beschwerderechts veranlassen könnten. Besonders gefährlich sei, dass in Passagen des Hefts der Eindruck erweckt werden könne, dass straflose Handlungen in der Haft erlaubt sein könnten. Auch mit dem Thema Flucht werde derart oberflächlich umgegangen, dass ein verzerrter Eindruck der möglichen Konsequenzen beim Gefangenen erweckt werden könne.

2. Der Beschwerdeführer stellte gegen das Anhalten der Broschüre Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG. Durch Beschluss vom 16. Oktober 2001 wies die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg den Antrag zurück. Der Antrag sei jedenfalls unbegründet. Insbesondere die in der Broschüre enthaltenen Ausführungen zur Flucht seien als gefährlich einzustufen. Die Ratschläge, selbst wenn sie juristisch richtig seien, begründeten die konkrete Gefahr, dass bei dem Gefangenen der Eindruck entstehe, bestimmte Handlungsweisen seien nicht nur straflos, sondern auch richtig. Darüber hinaus werde in der Broschüre der Eindruck erweckt, dass die Anstalt letztlich der Feind des Gefangenen sei und man alles versuchen müsse, um sich gegen die Anstalt durchzusetzen. Hierdurch entstehe die Gefahr, dass im Gefangenen eine vollzugsfeindliche Haltung aufgebaut werde, die ihn daran hindere, entsprechend dem Vollzugsziel mit der Anstalt ein Einvernehmen zu finden. Zwar sei die Broschüre insgesamt nicht als extrem gefährlich einzustufen; bei vernünftigen Gefangenen dürfte sie nicht wirklich eine Gefahr bedeuten. Es dürfe jedoch nicht übersehen werden, dass es sich bei der Justizvollzugsanstalt Straubing um eine Anstalt handele, in der eine überdurchschnittlich hohe Anzahl extrem gefährlicher Gefangener inhaftiert und in der insgesamt die Tendenz zu vollzugsfeindlichem Verhalten deutlicher sei als in anderen Justizvollzugsanstalten.

3. Die vom Beschwerdeführer gegen diese Entscheidung eingelegte Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht Nürnberg mit Beschluss vom 26. November 2001 als unzulässig. Die Entscheidung wurde dem Beschwerdeführer am 28. November 2001 zugestellt.

II.

Mit seiner am 27. Dezember 2001 eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass zu seiner vom Grundgesetz geschützten Meinungsfreiheit auch der Austausch kontroverser Meinungen gehöre. In Anbetracht der Bedeutung dieses Grundrechts erfordere § 70 StVollzG als einschränkendes Gesetz eine konkrete Gefahr für die dort genannten Rechtsgüter. Eine solche Gefahr sei aber nirgends dargetan. Die mit der Broschüre verbreiteten Rechtsinformationen hätten möglicherweise zu einer verstärkten Beschwerdetätigkeit beigetragen, was die Anstalten nicht immer freue. Es gebe aber keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass hierdurch eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalten geschaffen worden sei. Die Broschüre sei auch in andere, der Justizvollzugsanstalt Straubing vergleichbare Anstalten versandt worden, ohne dass es zu irgendwelchen Unzuträglichkeiten gekommen sei. Nähme man dennoch an, dass von einzelnen Passagen eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt ausgehe, sei im Übrigen das Schwärzen der betreffenden Textstellen oder die Entfernung einzelner Seiten ein als im Vergleich zum Anhalten der gesamten Broschüre milderes Mittel in Betracht zu ziehen.

III.

Dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Es hält die Verfassungsbeschwerde für mangels Beschwerdebefugnis unzulässig; es sei nicht ersichtlich, inwieweit der Beschwerdeführer, der in der angehaltenen Broschüre weder als Herausgeber noch als Verfasser genannt sei, in eigenen Rechten verletzt sein könne. Die Verfassungsbeschwerde sei im Übrigen auch unbegründet. Unabhängig davon, dass es bereits an einem Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG fehle, sei festzustellen, dass die angegriffenen Entscheidungen nicht gegen das Willkürverbot verstießen und ein etwaiger Eingriff jedenfalls gerechtfertigt sei.

IV.

1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (siehe unter 2.). Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG.

Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

2. a) Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet jedermann das Recht, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten. Das Grundgesetz schützt die Meinungsfreiheit sowohl im Interesse der Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen als auch im Interesse des demokratischen Prozesses, für den sie konstitutive Bedeutung hat (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>). Das Recht auf Meinungsfreiheit wird dabei vom Grundgesetz geschützt, ohne dass es auf den Gegenstand, den Wert, die Art der Begründung oder die Richtigkeit der Meinung ankäme (vgl. BVerfGE 61, 1 <7 f.>). Die Verbreitung der in der Broschüre "Positiv in Haft" abgedruckten Informationen fällt sachlich in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Die in der Broschüre vertretenen Rechtsauffassungen zu Einzelproblemen des Strafvollzugsrechts sind durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens und des Meinens geprägt; es handelt sich daher um die Äußerung von Meinungen im Sinne des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 7, 198 <210>; 61, 1 <8>; 71, 162 <179>). Die Broschüre enthält außerdem Tatsachenbehauptungen wie zum Beispiel Angaben über ergangene Gerichtsentscheidungen; auch deren Äußerung und Verbreitung ist, als Voraussetzung für die Bildung von Meinungen, durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt (vgl. BVerfGE 97, 391 <397>).

Der Beschwerdeführer ist durch die angegriffenen Entscheidungen auch selbst in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG betroffen. Dem steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer im Impressum der Broschüre nicht aufgeführt ist. Art. 5 Abs. 1 GG schützt subjektivrechtlich wie objektivrechtlich die Freiheit der Äußerung und Verbreitung von Meinungen auf der einen, die Informationsfreiheit auf der anderen Seite als einander ergänzende Elemente eines Kommunikationsprozesses; geschützt ist objektivrechtlich der Prozess der Kommunikation, subjektivrechtlich die Freiheit, daran teilzunehmen (vgl. BVerfGE 57, 295 <319 f.>; 74, 297 <323>; 83, 238 <295 f.>). Der kommunikationsgrundrechtliche Schutz desjenigen, der staatlicherseits daran gehindert wird, einem anderen zu dessen Information und Meinungsbildung einen gedruckten Text zu übersenden, hängt daher nicht davon ab, dass es sich bei diesem Text um einen vom Übersender verfassten, herausgegebenen oder auf andere Weise mitverantworteten handelt.

Der Beschwerdeführer hat die Broschüre einem Strafgefangenen auf dessen gezielte Bitte um Information hin und damit in einem durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten, auf Information und Meinungsbildung gerichteten Kommunikationszusammenhang übersandt. Auch die Tatsache, dass er dies als Leiter der Einrichtung tat, aus deren Arbeit der rechtliche Teil der Broschüre hervorgegangen ist, schließt die Annahme aus, er habe hier ohne eine eigene auf Information und Meinungsbildung gerichtete Beteiligung nur in der Rolle eines interesselosen Vermittlers (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Oktober 1988 - 1 BvR 1611/87 -, NJW 1992, S. 1153) und damit außerhalb des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 1 GG gehandelt.

b) Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird vom Grundgesetz nicht vorbehaltlos gewährleistet. Es findet nach Art. 5 Abs. 2 GG seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen sowie den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Zu den allgemeinen Gesetzen gehört auch § 70 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG. Die aus den allgemeinen Gesetzen folgenden Einschränkungen des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG müssen jedoch ihrerseits der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts Rechnung tragen. Die allgemeinen Gesetze sind so auszulegen und anzuwenden, dass die besondere Bedeutung der Meinungsfreiheit als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und konstitutive Voraussetzung des freiheitlichen demokratischen Staates zur Geltung kommt (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>; 93, 266 <290>; stRspr).

Die Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts ist Aufgabe der Fachgerichte. Deren Entscheidungen können vom Bundesverfassungsgericht aber daraufhin überprüft werden, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Ein solcher Fall liegt vor, wenn die fachgerichtliche Auslegung der Norm die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl. BVerfGE 85, 248 <257 f.>). Bei Entscheidungen, die die Meinungsfreiheit berühren, kann dies bereits dann der Fall sein, wenn das Gericht eine Äußerung unzutreffend erfasst oder gewürdigt hat.

So verstößt es gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, wenn ein Gericht der Würdigung einer Meinungsäußerung eine Aussage zugrundelegt, die so nicht gefallen ist, wenn es der Äußerung einen Sinn gibt, den sie nach dem festgestellten Wortlaut objektiv nicht hat, oder wenn es sich unter mehreren objektiv möglichen Deutungen für eine dem Grundrechtsträger nachteilige entscheidet, ohne für die Verwerfung anderer überzeugende Gründe anzugeben (vgl. BVerfGE 86, 122 <129>; 93, 266 <295 f.>; 94, 1 <10 f.>). Die Anforderungen, die Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG an die Ermittlung des Sinns von Äußerungen richtet, unterliegen der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 93, 266 <296>).

3. Nach diesen Maßstäben kann die angegriffene Entscheidung des Landgerichts keinen Bestand haben. Wird ein Strafgefangener in sachlicher, vollständiger und juristisch zumindest vertretbarer Weise in einer Broschüre über seine Rechte informiert, so begründet dies ebensowenig wie der Besitz juristischer Fachzeitschriften oder Kommentare (vgl. dazu Schwind, in: Schwind/Böhm <Hrsg.>, StVollzG, 3. Aufl. 1999, § 70 Rn. 8; Boetticher, in: Feest <Hrsg.>, AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 70 Rn. 16 sowie Schöch, in: Kaiser/Schöch <Hrsg.>, Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, § 7 Rn. 185) eine Gefahr im Sinne des § 70 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG, selbst wenn sich die rechtliche Information zu Aspekten des Vollzugs kritisch verhält (vgl. OLG Zweibrücken, NStZ 1989, S. 95 f.; Callies/Müller-Dietz, StVollzG, 9. Aufl. 2002, § 70 Rn. 4). Insbesondere stellt Information, die den Gefangenen über seine Rechte belehrt, nicht schon aus diesem Grund - etwa weil sie die Einlegung von Rechtsbehelfen durch Gefangene wahrscheinlicher machen und damit für die Anstalt Arbeitsaufwand erzeugen kann - eine Gefahr im Rechtssinne dar. Hiervon unberührt bleibt die Möglichkeit, anstaltsinterner oder anstaltsübergreifender verbotener Rechtsberatung und deren Auswirkungen auf den Strafvollzug mit den dafür nach dem Strafvollzugsgesetz vorgesehenen Instrumenten - gegebenenfalls auch mit disziplinarischen Maßnahmen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. August 1997 - 2 BvR 2334/96 -, NStZ 1998, S. 103) - entgegenzutreten. Um verbotene Rechtsberatung handelt es sich jedoch im vorliegenden Fall unstreitig nicht.

Eine Gefahr im Sinne des § 70 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG durch eine mit dem Rechtsberatungsgesetz vereinbare Übermittlung allgemeiner Rechtsinformationen kann erst bei Hinzutreten zusätzlicher Umstände angenommen werden. So wird die Gefahrengrenze überschritten, wenn die rechtliche Information eine vollzugsfeindliche Tendenz in dem Sinne erkennen lässt, dass sie insgesamt geeignet erscheint, bei dem Gefangenen eine aggressive Oppositionshaltung - besonders etwa eine aggressive Haltung gegen Bedienstete der Anstalt - zu begründen oder zu verstärken (vgl. OLG Zweibrücken, ZfStrVo 1989, S. 117 <118>; Callies/Müller-Diez, a.a.O.). Eine in diesem Sinne vollzugsfeindliche Tendenz liegt auch vor, wenn mit rechtlichen Informationen erkennbar sachfremde Zwecke verfolgt werden (z.B. Aufforderung, massenhaft und ohne konkreten Anlass Anträge zu stellen, um den Anstaltsbetrieb zu stören, vgl. dazu OLG Hamm, StV 1992, S. 329 f.).

Die Annahme des Landgerichts, die vom Beschwerdeführer an den Strafgefangenen übersandte Broschüre weise eine vollzugsfeindliche Tendenz auf und sei deshalb als gefährlich im Sinne des § 70 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG anzusehen, ist nicht tragfähig. Das Landgericht hat seine Beurteilung der angehaltenen Broschüre als gefährlich vor allem auf die darin enthaltenen Informationen zur rechtlichen Behandlung der Flucht gestützt. Insbesondere diese, so das Landgericht, stellten eine Gefahr dar, weil sie bei den Gefangenen den Eindruck erwecken könnten, Flucht sei eine richtige Handlungsweise. Diese Schlussfolgerung findet im Text der Broschüre keine Stütze. In der Broschüre wird lediglich darauf hingewiesen, dass "meist angenommen" werde, dass Flucht, Entweichung oder Nichtrückkehr vom Urlaub einen Disziplinartatbestand darstellen, und dass es "gegenwärtig wenig Aussicht auf Erfolg" habe, dagegen zu argumentieren, wenngleich diese Position aus rechtsdogmatischen Gründen nicht überzeugend sei. Dieser Äußerung lässt sich nicht der Sinn entnehmen, Flucht sei eine richtige Handlungsweise. Dazu, ob es sich bei der Flucht um eine richtige oder eine falsche Handlungsweise handelt, verhält sich die Äußerung des Beschwerdeführers bei verständiger Würdigung überhaupt nicht. Eine Äußerung, die die herrschende Auffassung zur rechtlichen Sanktionierbarkeit eines Verhaltens in Zweifel zieht, schließt keine Bewertung des fraglichen Verhaltens als richtig ein.

Das Gericht hat damit der Meinungsäußerung des Beschwerdeführers einen Aussagegehalt beigelegt, den sie weder ihrem Wortlaut noch ihrem sonst erkennbaren Sinn nach hat.

Auch wenn die beanstandete Äußerung als vollzugsfeindlich qualifiziert werden könnte, läge im Übrigen ein unverhältnismäßiger Eingriff in die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers schon deshalb vor, weil das Gericht sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob der von ihm angenommenen Gefahr nicht durch mildere Mittel - etwa durch Schwärzen oder durch Entfernen der beanstandeten Passage aus der umfangreichen Broschüre - hätte begegnet werden können. Derartige Maßnahmen wären möglich gewesen und hätten weder im vorliegenden Fall noch für etwaige Folgefälle einen unzumutbaren Aufwand verursacht.

4. Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts beruht auf der Nichtbeachtung der Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 GG für die Auslegung und Anwendung von § 70 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG.

Der Beschluss des Landgerichts ist daher aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Der zugleich angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts wird damit gegenstandslos.

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).

Ende der Entscheidung

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