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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 25.08.2009
Aktenzeichen: BVerwG 1 C 25.08
Rechtsgebiete: AufenthG, AssAbk, ARB 1/80, EG, EMRK, FreizügG/EU, GG, Richtlinie 64/221/EWG, Richtlinie 2003/109/EG, Richtlinie 2004/38/EG, ZP


Vorschriften:

AufenthG § 11
AufenthG § 55
AufenthG § 56
AssAbk Art. 2 Abs. 3
AssAbk Art. 6
AssAbk Art. 12
ARB 1/80 Art. 6
ARB 1/80 Art. 7
ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1
EG Art. 39
EG Art. 40
EG Art. 41
EG Art. 234 Abs. 1
EG Art. 234 Abs. 3
EMRK Art. 8
FreizügG/EU § 6 Abs. 5
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 6
Richtlinie 64/221/EWG Art. 3
Richtlinie 64/221/EWG Art. Art. 8
Richtlinie 64/221/EWG Art. Art. 9
Richtlinie 2003/109/EG Art. 12
Richtlinie 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3
Richtlinie 2004/38/EG Art. 31
Richtlinie 2004/38/EG Art. 38 Abs. 2
Richtlinie 2004/38/EG Art. 40
ZP Art. 36
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Klärung der Frage, ob der Ausweisungsschutz eines türkischen Staatsangehörigen, der eine Rechtsposition nach dem ARB 1/80 hat, sich nach zehnjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG richtet.
In der Verwaltungsstreitsache

...

hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 25. August 2009

durch

die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,

die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Richter und Prof. Dr. Kraft sowie

die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke

beschlossen:

Tenor:

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Es wird gemäß Art. 234 Abs. 1 und 3 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu folgender Frage eingeholt:

Richtet sich der Schutz vor Ausweisung gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zugunsten eines türkischen Staatsangehörigen, der eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 gegenüber dem Mitgliedstaat besitzt, in dem er seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren gehabt hat, nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG, so dass eine Ausweisung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zulässig ist, die von dem Mitgliedstaat festgelegt worden sind?

Gründe:

I

Der im Jahr 1964 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.

Er reiste 1976 in das Bundesgebiet ein und wohnte bis zum Erwachsenenalter bei seinen Eltern. Seine Mutter war von 1969 bis 1982 als Arbeitnehmerin beschäftigt. Nach dem Besuch der Hauptschule schloss er eine Lehre als Elektrokaufmann ab. Im Dezember 1987 erhielt er eine Aufenthaltsberechtigung. Aus der im März 1988 geschlossenen Ehe mit einer türkischen Staatsangehörigen sind zwei Töchter hervorgegangen, die 1988 geborene F. und die 1996 geborene B. Der Kläger betreibt seit 1995 mit seiner Ehefrau einen Kiosk.

Der Kläger ist mehrfach strafrechtlich aufgefallen: Mit Strafbefehl vom 20. Dezember 1995 setzte das Amtsgericht Krefeld gegen ihn eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,00 DM wegen Hehlerei fest. Wegen Vergewaltigung seiner Ehefrau verurteilte ihn das Amtsgericht Krefeld am 23. November 2000 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung. Das Landgericht Krefeld verurteilte den Kläger am 20. Oktober 2005 wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 11 Fällen und wegen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten. Dem Strafurteil ist zu entnehmen, dass der Kläger ab Januar 2004 Zeiten berufsbedingter Abwesenheit seiner Ehefrau zur Vornahme sexueller Handlungen an seiner älteren Tochter ausnutzte. Als er bemerkte, dass seine Tochter F. trotz des elterlichen Verbots Kontakt zu einem Jungen hatte, schlug er sie mit der Hand und der Faust ins Gesicht, so dass sie starke Schwellungen und Prellungen erlitt.

Der Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 2. Mai 2006 aus und drohte ihm für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Bescheid wurde im Wesentlichen wie folgt begründet: Über die Ausweisung des nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 (ARB 1/80) aufenthaltsberechtigten Klägers sei im Ermessenswege zu entscheiden. Wegen der als Niederlassungserlaubnis fortgeltenden Aufenthaltsberechtigung genieße der Kläger besonderen Ausweisungsschutz, so dass er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden könne. Schwerwiegende Gründe lägen in spezialpräventiver Ausprägung vor, denn der Schutz von Kindern vor Sexualdelikten und gewalttätigen Übergriffen sei eine überragend wichtige Aufgabe der Gemeinschaft und berühre ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die den Ausweisungsanlass bildende Tat sei schwerwiegend und schadensträchtig; besonders falle die Ausnutzung der Vertrauensstellung, die Wehrlosigkeit des Opfers und die Intensität der Tatbegehung ins Gewicht. Die Wiederholungsgefahr sei angesichts der Gesamtpersönlichkeit des Klägers und seines bisherigen Verhaltens hoch. Er sei einschlägig vorverurteilt und habe weder Einsicht in das begangene Unrecht gezeigt noch sei eine Aufarbeitung der Geschehnisse und der Versuch einer Überwindung seiner manifestierten Neigungen erkennbar. Aus dem im Jahr 2000 erstellten psychiatrisch/psychologischen Gutachten ergebe sich neben der hohen affektiven Labilität eine erhöhte Kränkbarkeit und ein stark ausgeprägtes Verlangen nach Bestätigung. An der schubweise festgestellten Aggressivität habe sich nichts geändert. Trotz der Verwurzelung in den hiesigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und der familiären Bindungen sei die Ausweisung angesichts der Schwere der Straftaten und der künftig vom Kläger ausgehenden Gefahren für elementare Rechtsgüter gerechtfertigt. Die Ausweisung sei auch mit Art. 8 EMRK vereinbar. Sie werde zunächst auf unbefristete Zeit ausgesprochen, denn gerade angesichts der im Raum stehenden Straftaten gebiete es die staatliche Schutzfunktion, über eine Befristung und die Fristbemessung nach den ggf. eintretenden Veränderungen der Umstände zu entscheiden. Den dagegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Bezirksregierung Düsseldorf am 25. August 2006 zurück.

Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 16. Januar 2007 ab. Den Entscheidungsgründen ist zu entnehmen, dass die auf § 55 AufenthG und Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gestützte Ermessensausweisung nicht zu beanstanden sei, weil der weitere Aufenthalt des Klägers zu einer tatsächlichen und hinreichend schweren, das Grundinteresse der Gesellschaft berührenden Gefährdung führe. Die Ausweisung stütze sich nicht allein auf den Umstand der strafrechtlichen Verurteilung, denn es bestünden Anhaltspunkte dafür, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch neue Verfehlungen des Klägers drohe, wenn er zu seiner Familie und damit auch zu seiner minderjährigen Tochter B. in das Umfeld komme, das seine Straftaten ermöglicht habe. Die Ausweisungsverfügung sei rein spezialpräventiv begründet. Sie verstoße nicht gegen Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG, weil diese Vorschrift auf nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte türkische Staatangehörige keine Anwendung finde. Art. 8 EMRK und Art. 6 GG würden nicht verletzt, da bei der Abwägung die Art und Schwere der begangenen Straftaten sowie die Wiederholungsgefahr erheblich zulasten des Klägers ins Gewicht fielen.

Während des Berufungsverfahrens hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Krefeld mit Beschluss vom 7. März 2008 die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe wegen erhöhter Rückfallgefährdung des Klägers abgelehnt. Die dagegen erhobene sofortige Beschwerde hat das Oberlandesgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 13. Mai 2008 verworfen.

Mit Beschluss vom 5. September 2008 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat sich die Begründung des Verwaltungsgerichts zu Eigen gemacht und darüber hinaus ausgeführt, dass das Ausweisungsverfahren nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens nicht zu beanstanden sei. Die Ausweisung sei auch materiell rechtmäßig, denn die Gefahrenprognose habe - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts - weiterhin Bestand. Dies verdeutlichten die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer sowie des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Die Ausweisung unterliege nicht den Beschränkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG, denn diese Bestimmung der Unionsbürgerrichtlinie sei auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besäßen, nicht anzuwenden.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision. Er beruft sich im Wesentlichen darauf, dass die Ausweisung verfahrensrechtlich gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG verstoße. Materiellrechtlich sei Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG entsprechend anzuwenden, denn er verfüge über eine Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80. Das Übermaßverbot sowie der Schutz des Familienlebens (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) würden durch die unbefristete Ausweisung verletzt.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 16. Januar 2007 und des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. September 2008 den Bescheid des Beklagten vom 2. Mai 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Düsseldorf vom 25. August 2006 aufzuheben.

Der Beklagte tritt der Revision entgegen. Er ist der Auffassung, das Ausweisungsverfahren sei fehlerfrei, da ein Widerspruchsverfahren stattgefunden habe und damit das "Vier-Augen-Prinzip" der Richtlinie 64/221/EWG entgegen der Annahme des Klägers gewahrt sei. Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG könne nicht auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige angewendet werden und Art. 41 ZP vermittle keinen über Art. 14 ARB 1/80 hinausgehenden Ausweisungsschutz. In dem angefochtenen Bescheid seien alle Belange des Betroffenen in einer umfänglichen Ermessensentscheidung gewürdigt und abgewogen worden.

Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren beteiligt. Er hält die Revision für unbegründet, weil die Regelungen der Unionsbürgerrichtlinie auf nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte türkische Staatsangehörige keine Anwendung fänden.

II

Der Rechtsstreit ist auszusetzen und es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: Gerichtshof) zur Auslegung des Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 (ARB 1/80) einzuholen (Art. 234 Abs. 1 und 3 EG). Da es um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig. Die vorgelegte Frage zur Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei ist entscheidungserheblich und bedarf einer Klärung durch den Gerichtshof.

1. Folgende nationale Vorschriften bilden den rechtlichen Rahmen dieses Rechtsstreits:

a) Aus dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I S. 2034) - GG - sind Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 und 2 relevant:

Art. 2

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) ...

Art. 6

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

b) Aus dem Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162) sind folgende Vorschriften von Bedeutung:

§ 11

Einreise- und Aufenthaltsverbot

(1) Ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, darf nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Die in den Sätzen 1 und 2 bezeichneten Wirkungen werden auf Antrag in der Regel befristet. Die Frist beginnt mit der Ausreise. ...

(2) ...

§ 55

Ermessensausweisung

(1) Ein Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt.

(2) Ein Ausländer kann nach Absatz 1 insbesondere ausgewiesen werden, wenn er

1. ...,

2. einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Straftat begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche Straftat anzusehen ist,

3. - 11.

...

(3) Bei der Entscheidung über die Ausweisung sind zu berücksichtigen

1. die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet,

2. die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen oder Lebenspartner des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft leben,

3. die in § 60a Abs. 2 genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung.

§ 56

Besonderer Ausweisungsschutz

(1) Ein Ausländer, der

1. eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,

1.a -5. ...,

genießt besonderen Ausweisungsschutz. Er wird nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5a und 7 vor. Liegen die Voraussetzungen des § 53 vor, so wird der Ausländer in der Regel ausgewiesen. Liegen die Voraussetzungen des § 54 vor, so wird über seine Ausweisung nach Ermessen entschieden.

(2) - (4) ...

c) Das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in der Fassung des Gesetzes vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) lautet auszugsweise:

§ 1

Anwendungsbereich

Dieses Gesetz regelt die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) und ihrer Familienangehörigen.

§ 2

Recht auf Einreise und Aufenthalt

(1)

Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.

(2) - (6)

...

§ 6

Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt

(1) Der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 kann unbeschadet des § 5 Abs. 5 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 39 Abs. 3, Artikel 46 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft) festgestellt und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht oder über den Daueraufenthalt eingezogen und die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte widerrufen werden. Aus den in Satz 1 genannten Gründen kann auch die Einreise verweigert werden. Die Feststellung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit kann nur erfolgen, wenn die Krankheit innerhalb der ersten drei Monate nach Einreise auftritt.

(2) - (4)

...

(5) Eine Feststellung nach Absatz 1 darf bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Für Minderjährige gilt dies nicht, wenn der Verlust des Aufenthaltsrechts zum Wohl des Kindes notwendig ist. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.

2. Der Gerichtshof ist für die Entscheidung über die vorgelegte Frage zuständig. Die Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 kann nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Gegenstand einer Vorabentscheidung nach Art. 234 EG gemacht werden (vgl. Urteil vom 20. September 1990 - RS. C-192/89, Sevince - Slg. 1990, I-3461 <Rn. 7 - 12>).

3. Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich. Die Ausweisungsverfügung verstößt - einschließlich der darin getroffenen Ermessensentscheidung - weder gegen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts noch gegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 in seiner bisher maßgeblichen Bedeutung (a bis d). Wäre jedoch der nunmehr in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG geregelte erhöhte Ausweisungsschutz für Unionsbürger auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen, lägen die in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU - vom deutschen Gesetzgeber in Ausfüllung des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG - festgelegten zwingenden Gründe beim Kläger nicht vor (e). Dann wäre die Ausweisung rechtswidrig.

a) Prüfungsmaßstab für die angefochtene Ausweisung ist § 55 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Der Kläger besitzt eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80: Er ist als Minderjähriger im Alter von 12 Jahren zum Zweck der Familienzusammenführung erlaubt in das Bundesgebiet eingereist. Die Vorinstanzen haben festgestellt, dass seine Mutter von 1969 bis 1982 dem regulären Arbeitsmarkt angehört hat. Der Kläger hat bei seinen Eltern gelebt und die Mindestaufenthaltszeiten des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erfüllt. Nach Abschluss der Lehre zum Elektrokaufmann greift auch Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 zu seinen Gunsten.

b) Demzufolge kann der Kläger nach bisherigem Verständnis des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 - RS. C-349/06, Polat - NVwZ 2008, 59 <Leitsatz 2>). Das ist der Fall, so dass auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gegeben sind.

Die Vergewaltigung seiner Ehefrau und der mehrfache sexuelle Missbrauch seiner Tochter bilden einen Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht. Das strafrechtlich geahndete persönliche Verhalten des Klägers begründet eine - über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene Störung der öffentlichen Ordnung hinausgehende - tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die betroffenen Schutzgüter der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen Integrität nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen sehr hohen Rang ein und lösen - insbesondere bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen - staatliche Schutzpflichten aus, die sich auch gegen die Eltern richten.

Bei Rechtsgütern dieser Bedeutung gelten für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. Dem genügt die von dem Beklagten gestellte und den Vorinstanzen bestätigte Prognose einer konkreten Wiederholungsgefahr beim Kläger. Beklagter und Verwaltungsgericht haben die Tatumstände, die Persönlichkeitsstruktur des Klägers, bei dem Einsicht, Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Geschehenen fehlen sowie die mangelnde Überwindung seiner Neigungen durch therapeutische Unterstützung umfassend gewürdigt. Das Berufungsgericht hat darüber hinaus darauf abgestellt, dass die Strafvollstreckungskammer wegen der erhöhten Rückfallgefährdung des Klägers die Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung abgelehnt hat. Auf der Grundlage dieser den Senat bindenden tatrichterlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) ist nicht zu erkennen, dass das Berufungsgericht seiner Prognose zulasten des Klägers einen zu niedrigen und damit unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt hat. Die ausführliche Würdigung der Persönlichkeit des Klägers und die daraus konkret abgeleitete Wiederholungsgefahr belegen, dass der Beklagte nicht allein die strafrechtliche Verurteilung zum Anlass für die ausschließlich spezialpräventiv motivierte Ausweisung genommen, sondern die zukünftig vom Kläger ausgehende Gefahr in den Blick genommen hat.

c) Da der Kläger ein assoziationsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht besitzt, darf er nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Bei deren gerichtlicher Überprüfung ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315 <320 f.>). Die Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde über den Erlass einer Ausweisung erfordert eine sachgerechte Abwägung der gegenläufigen öffentlichen Interessen an der Ausreise mit den privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet. Zugunsten des Ausländers sind die Gründe für einen besonderen Ausweisungsschutz (§ 56 AufenthG) sowie die Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Außerdem sind die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, in die Abwägung einzustellen (§ 55 Abs. 3 AufenthG). Die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens sind dabei entsprechend ihrem Gewicht und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere bei im Bundesgebiet geborenen und hier aufgewachsenen Ausländern, zumal wenn diese über keine Bindungen an das Land ihrer Staatsangehörigkeit verfügen.

Mit Blick auf diese Vorgaben ist die Ermessensausübung des Beklagten nicht zu beanstanden. Die gesetzlichen Grenzen des Ermessens werden angesichts der vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahr für die hochrangigen Rechtsgüter der sexuellen Selbstbestimmung sowie der körperlichen Integrität seiner Ehefrau und seiner minderjährigen Tochter B. nicht überschritten. Es begegnet keinen Bedenken, dass der Beklagte das durch den Rechtsgüterschutz geprägte und durch grundrechtliche Schutzpflichten zusätzlich verstärkte öffentliche Interesse an einer Ausreise des Klägers aus dem Bundesgebiet höher gewichtet hat als dessen Interesse an einem Verbleib in Deutschland. Zwar schlägt sein über dreißigjähriger rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu seinen Gunsten zu Buche. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass er über ausreichende persönliche Bindungen in die Türkei verfügt, so dass ihm die Ausreise dorthin zumutbar ist. Der Schutz des Familienlebens genießt hohe Bedeutung zugunsten des Klägers, nachdem die über zwanzig Jahre verheirateten Eheleute an der Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft festhalten. Dieser Belang verliert indes an Gewicht, wenn man das Kindeswohl der minderjährigen Tochter B. mitberücksichtigt. Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zur erhöhten Rückfallgefährdung des Klägers in seinem familiären Umfeld stellt der Schutz dieses Kindes einen gewichtigen legitimen Belang dar, so dass die Ausweisung in der Gesamtabwägung aller gegenläufigen Belange nicht unverhältnismäßig erscheint.

Die Wirkungen der Ausweisung mussten auch nicht bereits bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheids befristet werden. Nach der Rechtsprechung des Senats hängt es von den gesamten Umständen des Einzelfalles, insbesondere dem Ausmaß der von dem Ausländer ausgehenden Gefahr, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr und den schutzwürdigen Belangen des Betroffenen und seiner Angehörigen ab, ob eine Befristung schon bei der Ausweisung von Amts wegen geboten ist oder eine nachträgliche Befristung auf Antrag gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausreicht (Urteile vom 15. März 2005 - BVerwG 1 C 2.04 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 42 und vom 23. Oktober 2007 - BVerwG 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 <371 Rn. 18> sowie Beschluss vom 20. August 2009 - BVerwG 1 B 13.09 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Wegen der erhöhten Rückfallgefährdung des Klägers und der von ihm ausgehenden, auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts noch nicht kalkulierbaren Sicherheitsrisiken brauchten die Wirkungen der spezialpräventiv motivierten Ausweisung nicht bereits mit Erlass befristet zu werden. Vielmehr ist der Kläger angesichts der negativen Prognose und der Bedeutung der betroffenen Schutzgüter trotz seiner persönlichen und familiären Bindungen an das Bundesgebiet auf das Befristungsverfahren gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu verweisen. Der in dieser Vorschrift niedergelegte Regelanspruch auf nachträgliche Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach Wegfall der gefahrbegründenden Umstände erweist sich für ihn auch im Hinblick auf eine spätere Einreise in das Bundesgebiet als praktisch wirksam, denn seine Familie bietet dem Kläger einen Anknüpfungspunkt für die Neubegründung eines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet.

d) Die weiteren Rügen der Revision sind unbegründet; insbesondere ist das Ausweisungsverfahren fehlerfrei durchgeführt worden. Zwar war das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene "Vier-Augen-Prinzip" auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige zu übertragen (Urteil vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 <221 f.> im Anschluss an EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03, Dörr und Ünal - InfAuslR 2005, 289 <Rn. 61 ff.>). In dem hier vorliegenden Fall wurde der Bescheid am 2. Mai 2006 und damit erst nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG zum 30. April 2006 (Art. 38 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG) erlassen, so dass die Richtlinie 64/221/EWG sich selbst zu diesem Zeitpunkt keine Geltung mehr beimaß. Sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein, stellt sich die Frage, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG auf diesen Personenkreis gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das "Vier-Augen-Prinzip" abgelöst haben. Dieser Frage ist hier aber nicht nachzugehen, da im vorliegenden Fall ein Widerspruchsverfahren durchgeführt worden ist und das Vorverfahren nach §§ 68 ff. VwGO den in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltenen Verfahrensgarantien entspricht (Urteil vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - a.a.O.).

e) Die streitgegenständliche Ausweisung wurde nach Ablauf der in Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG niedergelegten Umsetzungsfrist (30. April 2006) erlassen, so dass sie intertemporal vom Anwendungsbereich der Unionsbürgerrichtlinie erfasst wird (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 - Rs. C-349/06, Polat - NVwZ 2008, 59 <Rn. 26 f.>). Da der Kläger nicht zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden ist, keine Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht betroffen ist und keine terroristische Gefahr von ihm ausgeht, liegen die in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU festgelegten zwingenden Gründe nicht vor. Daher wäre die ansonsten nicht zu beanstandende Ausweisung rechtswidrig, wenn der nunmehr in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG geregelte gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschutz auf türkische Staatsangehörige zu übertragen wäre, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen.

4. Die vorgelegte Frage zur Auslegung des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 bedarf einer Klärung durch den Gerichtshof.

a) Für eine Übertragung des in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG geregelten Ausweisungsschutzes auf nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte türkische Staatsangehörige könnte sprechen, dass es der Gerichtshof als unabdingbar angesehen hat, die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (nunmehr: Art. 39, 40 und 41 EG) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, zu übertragen (EuGH, Urteile vom 6. Juni 1995 - Rs. C-434/93, Bozkurt - NVwZ 1995, 1093 <Rn. 20>; vom 23. Januar 1997 - Rs. C-171/95, Tetik - Slg. 1997, I-329 <Rn. 20 und 28>; vom 30. September 1997 - Rs. C-36/96, Günaydin - Slg. 1997, I-5143 <Rn. 21>; vom 30. September 1997 - Rs. C-98/96, Ertanir - Slg. 1997, I-5179 <Rn. 21> und vom 26. November 1998 - Rs. C-1/97, Birden - Slg. 1998, I-7747 <Rn. 23>). Diesen zu den rechtsbegründenden Voraussetzungen der Art. 6 und 7 ARB 1/80 entwickelten Gedanken hat der Gerichtshof auch bei der Auslegung der Schranke des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 herangezogen, zumal die Vorschrift nahezu denselben Wortlaut wie Art. 48 Abs. 3 EGV (nunmehr: Art. 39 Abs. 3 EG) hat (EuGH, Urteile vom 10. Februar 2000 - Rs. C-340/97, Nazli - Slg. 2000, I-957 <Rn. 55 f.>; vom 11. November 2004 - Rs. C-467/02, Cetinkaya - Slg. 2004, I-10895 <Rn. 42 f.> und vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03, Dörr und Ünal - Slg. 2005, I-4759 <Rn. 62 ff.>). Für eine Übertragung des nunmehr für Unionsbürger geltenden Ausweisungsschutzes auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige wird ferner angeführt, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Rat mit der Richtlinie 2004/38/EG über seine Befugnisse aus Art. 40 EG hinausgegangen sei, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 herzustellen. Die Stufenfolge in Art. 28 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2004/38/EG sei als Ausprägung des der Vorschrift des Art. 39 Abs. 3 EG immanenten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu verstehen (so VGH Kassel, Beschluss vom 12. Juli 2006 - 12 TG 494/06 - InfAuslR 2006, 393 f.; Urteil vom 25. Juni 2007 - 11 UE 52/07 - ESVGH 57, 233; OVG Koblenz, Urteil vom 5. Dezember 2006 - 7 A 10924/06 - InfAuslR 2007, 148 <149 ff.>; Gutmann, InfAuslR 2005, 401 <402>; Marx, ZAR 2007, 142 <147 f.>).

b) Diese Ansicht teilt der beschließende Senat nicht. Er ist vielmehr der Auffassung, dass das Schutzniveau des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 durch Orientierung an den Regelungen zu bestimmen ist, die bei Erlass der Vorschrift für freizügigkeitsberechtigte Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten galten (so auch die Kommission in ihren Stellungnahmen vom 15. Dezember 2006 - JURM (2006) 12099 - im Verfahren Rs. C-349/06 (Polat) und vom 2. Dezember 2008 - JURM (08) 12077 - im Verfahren Rs. C-371/08 (Örnek); vgl. ferner OVG Münster, Beschluss vom 15. Mai 2007 - 18 B 2389/06 - NVwZ 2007, 1445; BayVGH, Urteil vom 8. Januar 2008 - 10 B 07.304 - DÖV 2008, 970; OVG Lüneburg, Urteil vom 27. März 2008 - 11 LB 26/08 - InfAuslR 2008, 285; OVG Saarlouis, Beschluss vom 9. Juli 2008 - 2 B 212/08 <[...]>; VGH Mannheim, Vorlagebeschluss vom 22. Juli 2008 - 13 S 1917/07 - NVwZ-RR 2009, 82). Dafür spricht die mehrphasig angelegte Assoziation, bestehend aus Vorbereitungs-, Übergangs- und Endphase (Art. 2 Abs. 3 des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 - Assoziierungsabkommen, BGBl. 1964 II S. 509 - AssAbk). Die Vorstellung der Vertragsparteien von einer sukzessiven Realisierung der Assoziation zeigt sich auch in Art. 12 AssAbk, demzufolge die Vertragsparteien vereinbart haben, sich von den Artikeln 48, 49, 50 des Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft (jetzt: Art. 39, 40, 41 EG) leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen. Schließlich wurde die Festlegung der Regeln, die zur schrittweisen Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer erforderlich sind, in Art. 36 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl. 1972 II, S. 385) - ZP - dem Assoziationsrat überantwortet.

Die in Art. 36 ZP vereinbarte Delegierung der Normsetzung auf ein spezielles, in Art. 6 AssAbk institutionalisiertes und in Art. 22 ff. AssAbk näher ausgestaltetes Organ, das sich aus Mitgliedern der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Rates und der Kommission der Gemeinschaft einerseits sowie Mitgliedern der türkischen Regierung andererseits zusammensetzt und nur einstimmig handeln kann (Art. 23 Abs. 1 und 3 AssAbk), deutet auf eine dem Assoziationsrat von den Vertragsparteien übertragene Gestaltungskompetenz. Diese hat der Assoziationsrat mit seinem Beschluss Nr. 1/80 vom 19. September 1980 (ANBA 1981, S. 4) ausgeübt, um im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen gegenüber den im Beschluss Nr. 2/76 getroffenen Regelungen zu verbessern (3. Erwägungsgrund). In Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 wurden Beschränkungen der im 1. Abschnitt des Kapitel II geregelten Beschäftigungs- und Freizügigkeitsrechte der Arbeitnehmer daran gebunden, dass sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 stimmt nahezu wörtlich mit Art. 48 Abs. 3 EGV überein, so dass es der Gerichtshof als gerechtfertigt angesehen hat, die Auslegung zu der Ausnahme von der Arbeitnehmerfreizügigkeit der Gemeinschaftsangehörigen auf türkische Staatsangehörige zu übertragen, die eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 besitzen (EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000 - Rs. C-340/97, Nazli - Slg. 2000, I-957 <Rn. 56>). Darauf aufbauend hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG auch bei der Ausweisung von nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen heranzuziehen ist (EuGH, Urteil vom 11. November 2004 - Rs. C-467/02, Cetinkaya - Slg. 2004, I-10895 <Rn. 46>). Mit der Vorstellung einer dem Assoziationsrat konstitutiv überantworteten Gestaltungskompetenz, die dieser auch tatsächlich sukzessiv ausgeübt hat, wäre es nur schwer zu vereinbaren, das Schutzniveau des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 von dem bei seiner Beschlussfassung für freizügigkeitsberechtigte Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten geltenden Maßstab abzulösen und die Schranke als dynamische Verweisung zu verstehen. Eine derartige Annahme ließe sich schwerlich in das dem Assoziationsabkommen immanente Konzept einer durch den Assoziationsrat gesteuerten schrittweisen Entwicklung der Assoziation einpassen (vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 6. Juni 1995 - Rs. C-434/93, Bozkurt - Slg. 1995, I-1475 <Rn. 37>); sie würde beim Ausweisungsschutz vielmehr zu einer automatischen Rechtsangleichung führen, die allein von den ohne Beteiligung des Assoziationsrates erlassenen Regelungen der Europäischen Union abhinge (vgl. auch Beschluss vom 24. April 2008 - BVerwG 1 C 20.07 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 51 Rn. 26).

Des Weiteren ergibt sich aus der Stellung des Art. 14 ARB 1/80 im "Abschnitt 1. Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer", dass das Ziel der Herstellung von Freizügigkeit auf den Personenkreis der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen beschränkt ist. Wegen des als unerlässlich angesehenen Zusammenhangs von Beschäftigung und Aufenthalt hat der Gerichtshof den in Art. 6 und Art. 7 ARB 1/80 geregelten Beschäftigungsrechten korrespondierende implizite Aufenthaltsrechte entnommen (grundlegend EuGH, Urteil vom 20. September 1990 - Rs. C-192/89, Sevince - Slg. 1990, I-3461 <Rn. 28 f.>). Dieser Bezug zum regulären Arbeitsmarkt bleibt bei dem Aufenthaltsrecht des Arbeitnehmers aus Art. 6 ARB 1/80 immer erhalten (EuGH, Urteil vom 6. Juni 1995 - Rs. C-434/93, Bozkurt - Slg. 1995, I-1475 <Rn. 39 f.>), während er sich bei den abgeleitet berechtigten Familienangehörigen nach Ablauf der in Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 vorausgesetzten Zeiten des tatsächlichen Zusammenlebens mit dem Stammberechtigten verliert (EuGH, Urteil vom 7. Juli 2005 - Rs. C-373/03, Aydinli - Slg. 2005, I-6181 <Rn. 29>). Das ändert aber nichts daran, dass selbst das implizite Aufenthaltsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 während der Entstehung eine beschäftigungsbezogene Wurzel hat.

Demgegenüber verfolgt die Unionsbürgerrichtlinie - wie sich aus ihrer Bezugnahme u.a. auf die Ermächtigungsgrundlage des Art. 18 EG und insbesondere aus ihrem 4. Erwägungsgrund ergibt - einen systematischen Neuansatz. Mit den Regelungen der Richtlinie 2004/38/EG sollen die bisher erwerbswirtschaftlich motivierten, bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts überwunden werden. Der Anknüpfungspunkt für Freizügigkeitsrechte liegt nicht mehr punktuell in der Ausübung einzelner Grundfreiheiten, sondern in der Unionsbürgerschaft als grundsätzlichem Status (3. Erwägungsgrund). Auf dieser Konzeption beruht auch das neu geschaffene Recht auf Daueraufenthalt in Kapitel IV der Richtlinie (17. Erwägungsgrund). Dieses knüpft - anders als das in Kapitel III geregelte Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG) - nicht an ein durch Grundfreiheiten vermitteltes Aufenthaltsrecht an, sondern ausschließlich an die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts (Art. 16 Abs. 1 Satz 2 Richtlinie 2004/38/EG).

Der Neuansatz der Richtlinie 2004/38/EG schlägt sich auch in der abgestuften Regelung des Ausweisungsschutzes in Art. 28 nieder, die keinen spezifischen Bezug zur Arbeitnehmerfreizügigkeit mehr aufweist, sondern für alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gilt. Das belegt die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift: Nach dem ursprünglichen Richtlinienvorschlag der Kommission sollte zur Stärkung der Unionsbürgerschaft die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die das Recht auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Unionsbürgerrichtlinie erlangt haben, völlig ausgeschlossen sein (Art. 26 Abs. 2 und die Erläuterung dazu im Richtlinienvorschlag der Kommission vom 23. Mai 2001 - KOM/2001/257 endgültig - ABl. Nr. C 270 E vom 25. September 2001, S. 150). Das Recht auf Daueraufenthalt wurde dabei ausdrücklich als "logische und zwingende Folge des persönlichen Grundrechts" angesehen, das der EG-Vertrag jedem Unionsbürger zuerkenne (Ziffer 2.2 des Richtlinienvorschlags der Kommission a.a.O.). Erst nachdem die Mitgliedstaaten im Rat nahezu einstimmig einen solchen absoluten Ausweisungsschutz für daueraufenthaltsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen abgelehnt hatten, kam im Wege eines Kompromisses die endgültige Fassung von Art. 28 Abs. 2 und 3 der Richtlinie zustande (Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 5. Dezember 2003, ABl. 2004 Nr. C 54 E vom 2. März 2004, S. 12 <32> und die darauf Bezug nehmende Stellungnahme der Kommission vom 30. Dezember 2003 - SEK/2003/1293 endg. - Nr. 3.3.2 zu Art. 28 Abs. 2).

Ist der gestufte Ausweisungsschutz in Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG aber nicht als Ausprägung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern vielmehr als Ausgestaltung der Unionsbürgerschaft anzusehen, kommt eine Übertragung des darin verankerten Schutzniveaus auf Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht in Betracht (Hailbronner, Ausländerrecht, D 5.2 Art. 14 ARB 1/80 Rn. 13 ff.). Es fehlt eine vergleichbare Grundlage und Zwecksetzung der Vorschriften. Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, genießen assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige im Gegensatz zu den Arbeitnehmern der Mitgliedstaaten keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft, sondern besitzen nur im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte Rechte (EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 - Rs. C-325/05, Derin - Slg. 2007, I-6495 <Rn. 66 f.> m.w.N.).

Schließlich lässt sich der gestufte Ausweisungsschutz des Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG auch nicht als allgemeingültige, für Unionsbürger wie Drittstaatsangehörige gebotene Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes begreifen. Dagegen spricht, dass der Ausweisungsschutz in der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. L 16 vom 23. Januar 2004 S. 44) wesentlich schwächer ausgestaltet worden ist (vgl. Art. 12 Richtlinie 2003/109/EG) und der hohe Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG nur Unionsbürger, nicht jedoch ihre Familienangehörigen erfasst.

Ende der Entscheidung

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