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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 31.03.2008
Aktenzeichen: BVerwG 10 C 32.07
Rechtsgebiete: VwGO, GG, EG, Richtlinie 2004/83/EG


Vorschriften:

VwGO § 10 Abs. 3
VwGO § 107
VwGO § 125 Abs. 1
VwGO § 141
VwGO § 144 Abs. 2
VwGO § 144 Abs. 3
GG Art. 100 Abs. 1
EG Art. 68 Abs. 1
EG Art. 234 Abs. 1
EG Art. 234 Abs. 3
Richtlinie 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Richtlinie 2004/83/EG Art. 7 Abs. 1
Richtlinie 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1 Buchst. e
Richtlinie 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1 Buchst. f
Richtlinie 2004/83/EG Art. 15
Richtlinie 2004/83/EG Art. 18
Das Gericht hat über die Aussetzung des Verfahrens und die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 234 EG in der gleichen Besetzung zu entscheiden, in der es die Entscheidung treffen müsste, für die die Vorlagefragen erheblich sind (wie BVerfG, Beschluss vom 15. April 2005 - 1 BvL 6/03 und 8/04 - NVwZ 2005, 801 zum Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG).
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

BVerwG 10 C 32.07

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 31. März 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke

beschlossen:

Tenor:

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Es wird gemäß Art. 234 Abs. 1 und 3, Art. 68 Abs. 1 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu folgenden Fragen eingeholt:

1. Ist Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 dahin auszulegen, dass - abgesehen von Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) - die Flüchtlingseigenschaft bereits dann erlischt, wenn die begründete Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie, aufgrund derer die Anerkennung erfolgte, entfallen ist und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben muss?

2. Für den Fall, dass Frage 1 zu verneinen ist: Setzt das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie darüber hinaus voraus, dass in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling besitzt,

a) ein Schutz bietender Akteur im Sinne des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie vorhanden ist und reicht es hierbei aus, dass die Schutzgewährung nur mit Hilfe multinationaler Truppen möglich ist,

b) dem Flüchtling kein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie droht, der zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Art. 18 der Richtlinie führt, und/oder

c) die Sicherheitslage stabil ist und die allgemeinen Lebensbedingungen das Existenzminimum gewährleisten?

3. Sind in einer Situation, in der die bisherigen Umstände, aufgrund derer der Betreffende als Flüchtling anerkannt worden ist, entfallen sind, neue andersartige verfolgungsbegründende Umstände

a) an dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu messen, der für die Anerkennung von Flüchtlingen gilt, oder findet zugunsten des Betreffenden ein anderer Maßstab Anwendung,

b) unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zu beurteilen?

Gründe:

I

Die Kläger wenden sich gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung.

Der 1975 in Kubar geborene Kläger zu 1 und seine 1981 in Qasab geborene Ehefrau, die Klägerin zu 2, sind irakische Staatsangehörige arabischer (Kläger zu 1) bzw. kurdischer (Klägerin zu 2) Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Im Januar 2002 reisten die Kläger nach Deutschland ein und beantragten Asyl. Zur Begründung gaben sie an, der Kläger zu 1 werde wegen Betätigung für eine oppositionelle Partei ("Hisb-Al-Schaab-Al-Dimoqrati") von der Geheimpolizei gesucht. Mit Bescheid vom 26. Februar 2002 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - die Anträge der Kläger auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a des Grundgesetzes - GG - ab, stellte aber fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen, weil die Kläger im Irak schon wegen ihrer Asylantragstellung politische Verfolgung zu befürchten hätten. Im September 2004 leitete das Bundesamt wegen der veränderten politischen Verhältnisse im Irak ein Widerrufsverfahren ein und widerrief nach Anhörung der Kläger mit Bescheid vom 20. Januar 2005 deren Flüchtlingsanerkennung. Von einer Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wurde abgesehen, da der Widerruf aus Gründen der Statusbereinigung erfolge und aufenthaltsbeendende Maßnahmen seitens der Ausländerbehörde bislang nicht beabsichtigt seien.

Im Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 5. August 2005 den Widerrufsbescheid des Bundesamtes aufgehoben. Die gegenwärtige irakische Regierung sei nicht in der Lage, ihrer Bevölkerung den Mindestschutz zu gewährleisten, den jeder Staat seiner Bevölkerung schulde.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 9. August 2006 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, im Irak sei eine einschneidende und dauerhafte Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten. Die Kläger seien weder durch den irakischen Staat noch durch eine staatsähnliche Herrschaftsmacht oder durch nichtstaatliche Akteure gefährdet. Aus Terroranschlägen oder sonstigen Übergriffen Dritter resultierende Gefährdungen beträfen alle Bürger, im Übrigen seien diese weder dem irakischen Staat zuzurechnen noch als staatsähnliche Verfolgung einzuordnen. Wenngleich die Effizienz staatlicher Schutzmaßnahmen derzeit noch eingeschränkt sei würdenTerrorakte und Übergriffe von der Regierung und den multinationalen Streitkräften (MNF) weder tatenlos hingenommen noch geduldet. Vielmehr gingen die Anstrengungen der Regierung und der MNF dahin, die innere Sicherheit im Land zu stabilisieren und auszubauen. Der irakische Staat sei mit den ihm (und den MNF) zur Verfügung stehenden Mitteln schutzbereit und schutzwillig. Bei dieser Sachlage sei ein Schutzgesuch nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht begründet, auch wenn terroristische Übergriffe oder kriminelle Aktionen derzeit noch nicht verhindert werden könnten. Allgemeine Gefahren würden weder vom Schutzbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG noch von Art. 1 C Nr. 5 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - erfasst. Es komme nicht darauf an, durch wen der geforderte Schutz gewährleistet werde. Aus dem Vorbringen der Kläger ergäben sich auch keine - individuellen - Ansatzpunkte für eine abweichende Beurteilung.

Hiergegen wenden sich die Kläger mit der vom Senat zugelassenen Revision und beantragen,

den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. August 2006 zu ändern und die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Revision entgegengetreten. Der Vertreter des Bundesinteresses am Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren nicht beteiligt.

II

Der Senat hat über die Aussetzung des Verfahrens und die Einholung einer Vorabentscheidung in der gleichen Besetzung zu entscheiden, in der er die Entscheidung treffen müsste, für die die Vorlagefragen erheblich sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. April 2005 - 1 BvL 6/03 und 8/04 - NVwZ 2005, 801 zum Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG m.w.N.). Diese erginge in der Besetzung von fünf Richtern (§ 144 Abs. 2 und 3, § 141, § 125 Abs. 1, § 107, § 10 Abs. 3 Halbs. 1 VwGO). Wegen der Abhängigkeit des Vorabentscheidungsersuchens von der im ausgesetzten Verfahren zu treffenden Hauptsacheentscheidung findet § 10 Abs. 3 Halbs. 2 VwGO, wonach bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung drei Richter mitwirken, keine Anwendung.

Der Rechtsstreit ist auszusetzen und es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Auslegung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EG Nr. L 304 vom 30. September 2004, S. 12 ; berichtigt ABl EG Nr. L 204 vom 5. August 2005, S. 24) einzuholen (Art. 234 Abs. 1 und 3, Art. 68 Abs. 1 EG). Da es um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung der Richtlinie sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof. Insoweit wird zur weiteren Begründung auf den Vorlagebeschluss vom 7. Februar 2008 im Verfahren BVerwG 10 C 33.07 verwiesen.

Ergänzend ist zur Entscheidungserheblichkeit darauf hinzuweisen, dass das Berufungsgericht auch im vorliegenden Verfahren davon ausgegangen ist, dass die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn die begründete Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung, aufgrund derer die Anerkennung erfolgte, entfallen ist und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor Verfolgung haben muss. Bei Bejahung der Frage 1 wäre das Berufungsurteil daher nicht zu beanstanden. Im Gegensatz zu der dem Verfahren BVerwG 10 C 33.07 zugrunde liegenden Entscheidung hat das Berufungsgericht vorliegend das Bestehen einer staatlichen oder staatsähnlichen Gewalt im Sinne einer prinzipiell schutzmächtigen Ordnung aber nicht offen gelassen, sondern ist davon ausgegangen, dass der irakische Staat mit den ihm (und den multinationalen Streitkräften) zur Verfügung stehenden Mitteln schutzbereit und schutzwillig ist. Die Effizienz staatlicher Schutzmaßnahmen sei derzeit zwar noch eingeschränkt, Terrorakte und Übergriffe würden von der Regierung und den multinationalen Streitkräften im Irak aber weder tatenlos hingenommen noch in einer Weise geduldet, dass daraus Schutzansprüche hergeleitet werden könnten. Damit kommt es auch im vorliegenden Fall in Bezug auf Frage 2 Buchst. a darauf an, ob es - unter der Voraussetzung, dass es für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft des Vorhandenseins eines Schutz bietenden Akteurs im Sinne des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie bedarf - ausreicht, dass die Schutzgewährung - wie vom Berufungsgericht festgestellt - nur mit Hilfe multinationaler Truppen möglich ist. Bei Bejahung von Frage 2 Buchst. b wäre das Berufungsurteil auch im vorliegenden Verfahren aufzuheben und der Rechtsstreit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, da bislang noch nicht geprüft worden ist, ob den Klägern ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie droht. Gleiches gilt bei Bejahung der Frage 2 Buchst. c, da das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, dass es für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nicht darauf ankomme, ob ein "Minimum" an Schutz vor allgemeinen Gefahren gewährt werde, und folgerichtig in dieser Hinsicht keine weiteren Feststellungen getroffen hat. Im Übrigen stellt sich auch im vorliegenden Verfahren die unter Punkt 3 aufgeworfene Frage des Prüfungsmaßstabs für neue andersartige verfolgungsbegründende Umstände (hier in Bezug auf Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure).

Der Senat weist darauf hin, dass die vorgelegten Fragen Gegenstand mehrerer gleichlautender Vorabentscheidungsersuchen sind. Da sich in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Widerrufsfällen während des sich anschließenden Gerichtsverfahrens (durch Rückkehr, Einbürgerung etc.) erledigt haben, eine Klärung der vorgelegten Fragen aber für eine Vielzahl weiterer Fälle von Bedeutung ist, soll durch diese Vorgehensweise sichergestellt werden, dass eine Entscheidung des Gerichtshofs nicht durch die eher zufällige Erledigung in einem einzelnen Verfahren hinausgezögert wird.

Ende der Entscheidung

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