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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 12.01.2006
Aktenzeichen: BVerwG 20 F 12.04
Rechtsgebiete: VwGO, GG


Vorschriften:

VwGO § 99
VwGO § 100 Abs. 1
VwGO § 86 Abs. 1 Satz 1
GG Art. 12 Abs. 1
GG Art. 14 Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 4
GG Art. 20 Abs. 3
Enthalten die Behördenakten, über deren Vorlage im Prozess die Aufsichtsbehörde nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu entscheiden hat, Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, muss im Zeitpunkt einer behördlichen Freigabeentscheidung außer Zweifel stehen, dass der Inhalt der Akten nach der Rechtsauffassung des Hauptsachegerichts für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich ist. Hierzu bedarf es in aller Regel eines Beweisbeschlusses über die Aktenbeiziehung oder einer sonstigen förmlichen Äußerung des Hauptsachegerichts.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

BVerwG 20 F 12.04

In der Verwaltungsstreitsache

hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO am 12. Januar 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bardenhewer sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dawin und Dr. Kugele

beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Fachsenats für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Oktober 2004 wird insoweit aufgehoben, als in ihm festgestellt ist, dass die nach dem Beschluss der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (jetzt: Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen) vom 6. Januar 2004 vorgesehene Offenlegung der Seiten 18 - 39, 40, 41, 78, 88, 92 - 94, 96, 109, 117, 124, 146, 148, 169, 184, 188, 192, 193, 204, 205, 207 - 210, 299, 300, 306, 361, 487, 613, 615 - 617, 681, 695, 700 und 1 013 der einschlägigen Akten der Regulierungsbehörde rechtswidrig ist. Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.

Von den Gerichtskosten dieses Zwischenverfahrens tragen die Klägerin und die Beklagte je 4/9 und die Beigeladene 1/9. Von den außergerichtlichen Kosten dieses Zwischenverfahrens tragen die Klägerin und die Beklagte diejenigen der Beigeladenen zu je 4/9 und die Beigeladene diejenigen der Klägerin und der Beklagten zu je 1/9. Im Übrigen tragen die Beteiligten ihre Kosten selbst.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zwischenverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerden sind nur zu einem geringen Teil begründet. Fehlerhaft ist die Entscheidung des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts, soweit in ihr die Rechtswidrigkeit der Offenlegung auch der im Tenor dieses Beschlusses genannten Seiten aus den einschlägigen Behördenakten festgestellt wird, auf die sich der Feststellungsantrag der Beigeladenen ausdrücklich nicht bezieht.

Im Übrigen haben die Beschwerden keinen Erfolg.

Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts über den Antrag auf Feststellung, dass die Offenlegungsentscheidung der Antragsgegnerin zu einem wesentlichen Teil rechtswidrig ist, in der Sache entschieden. Denn dieser Antrag der Beigeladenen war statthaft. Nach § 99 Abs. 2 VwGO kann die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Offenlegungsentscheidung beantragt werden (Beschluss des Fachsenats beim Bundesverwaltungsgericht für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO vom 14. August 2003 - BVerwG 20 F 1.03 - BVerwGE 118, 350).

Der Antrag der Beigeladenen ist auch begründet. Die Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation (jetzt: Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen) hätte am 6. Januar 2004 nicht beschließen dürfen, die im Antrag der Beigeladenen aufgeführten Seiten aus den behördlichen Verwaltungsakten uneingeschränkt offen zu legen.

Die Pflicht der Behörde nach § 99 Abs. 1 VwGO, ihre Verwaltungsakten in einem verwaltungsgerichtlichen Rechtsstreit vorzulegen, dient der erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts im Rechtsstreit, die den Verwaltungsgerichten erster und zweiter Instanz obliegt (§ 86 Abs. 1, § 125 Abs. 1 VwGO). Eine erschöpfende Sachverhaltsaufklärung mit der Folge, dass das verwaltungsgerichtliche Urteil auf einen zutreffend erkannten Sachverhalt gegründet ist, ist vom Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gefordert und liegt gleichzeitig im individuellen, durch Art. 19 Abs. 4 GG geschützten Interesse der Prozessparteien (stRspr, vgl. BVerfGE 84, 34 <49> m.w.N.). Die Aktenvorlage führt allerdings dazu, dass die Prozessparteien kraft ihres Einsichtsrechts (§ 100 Abs. 1 VwGO) Einblick in die Akten nehmen können und ihnen so deren Inhalt bekannt wird. Enthalten die Behördenakten Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse, führt die Akteneinsicht zur Offenlegung dieser Geheimnisse und kann damit eine Verletzung des Betriebs- oder Geschäftsinhabers in seinen durch Art. 12 Abs. 1 und § 14 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützten Rechten bewirken.

Die Akten, welche die Regulierungsbehörde im Rechtsstreit VG Köln - 22 K 7391/02 - vorgelegt hat, enthalten Betriebs- bzw. Geschäftsgeheimnisse der Beigeladenen. Die Angaben über die Zahl der beförderten Briefe erlauben Rückschlüsse auf Umsatz, Transportaufwand, Kosten und Gewinn. Die Kenntnis davon ist, obwohl die Angaben einen Bereich betreffen, in dem die Beigeladene ein Monopol besitzt, entgegen der im Bescheid vom 6. Januar 2004 zum Ausdruck gekommenen Auffassung der Beklagten, für die Wettbewerber der Beigeladenen nicht ohne Wert und kann der Beigeladenen zu einem nicht unerheblichen Nachteil gereichen. Denn es steht fest, dass die Exklusivlizenz der Beigeladenen zur Beförderung von Briefsendungen einer bestimmten Gewichtsklasse in einem ersten Schritt zum 1. Januar 2006 und in einem weiteren Schritt zum 1. Januar 2008 auslaufen wird (vgl. Art. 1 Nr. 3 a und Art. 2 Nr. 1 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes vom 16. August 2002 <BGBl I S. 3218>). Zu den möglichen Wettbewerbern der Beigeladenen in dem dann liberalisierten Bereich gehört auch die Klägerin.

Auch bei einer zu erwartenden Verletzung des Betriebs- oder Geschäftsinhabers in seinen durch Art. 12 Abs. 1 GG und 14 Abs. 1 GG geschützten Rechten kann die Aufsichtsbehörde nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorlagepflichtigen Behörde im Rahmen des Ermessens, das ihr bei Geheimhaltungsbedürftigkeit des Akteninhalts eingeräumt ist, sich um der erschöpfenden gerichtlichen Sachverhaltsermittlung und des Individualrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG willen grundsätzlich für die Vorlage der Verwaltungsakten und damit für die Offenlegung der Geschäfts- bzw. Betriebsgeheimnisse entscheiden. Diese Möglichkeit ist der Aufsichtsbehörde jedoch von vornherein verschlossen, wenn die in den Behördenakten niedergelegten geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen für die Entscheidung des Rechtsstreits unerheblich sind. Denn auf unerhebliche Tatsachen erstreckt sich die gerichtliche Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht, die Ermittlung unerheblicher Tatsachen wird von Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG nicht gefordert. Ein rechtlich beachtenswertes Interesse, eine unerhebliche Tatsache im Prozess aufzuklären, ist nicht vorstellbar. Für die Ermittlung unerheblicher Tatsachen, die Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse darstellen, und damit auch für die Vorlage und Offenlegung behördlicher Akten, in denen derartige Tatsachen festgehalten sind, bedeutet dies, dass Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG zwingend entgegenstehen.

Ob bestimmte Urkunden oder Akten nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgelegt werden müssen, weil die in ihnen niedergelegten Angaben entscheidungserheblich sind, entscheidet das Gericht der Hauptsache. Eine derartige Entscheidung hat das Gericht der Hauptsache grundsätzlich förmlich zu treffen. In aller Regel wird es einen Beweisbeschluss fassen (Beschluss des Fachsenats beim Bundesverwaltungsgericht für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO vom 24. November 2003 - BVerwG 20 F 13.03 - BVerwGE 119, 229). Durch die Angabe des Beweisthemas verlautbart das Gericht förmlich, dass es diese Tatsachen als erheblich ansieht. Ferner legt sich das Gericht der Hauptsache dadurch, dass es ein positives Zwischenurteil nach § 173 VwGO, § 303 ZPO erlässt, darauf fest, dass dem Fortgang des Verfahrens nicht das Fehlen bestimmter, streitig gewordener Sachentscheidungsvoraussetzungen entgegensteht und der Inhalt der Behördenakten nicht bereits deshalb unerheblich für die anstehende Entscheidung ist.

Durch eine bloße Aktenbeiziehung mittels richterlicher Verfügung des Vorsitzenden oder des Berichterstatters wird die Rechtsauffassung des Gerichts, dass der Inhalt der erbetenen Akten erheblich ist, nicht in der gebotenen formalisierten Weise verlautbart. Einer häufig bereits mit der Klageschrift übermittelten Bitte des Vorsitzenden oder des Berichterstatters an die beklagte Behörde um Vorlage ihrer Akten ist in aller Regel keine abschließende Prüfung der Erheblichkeit des - noch nicht bekannten - Akteninhalts vorausgegangen. Die bloße Aktenbeiziehung, zumal in diesem frühen Stadium der Bearbeitung des Streitfalls, hat den Charakter einer Routinemaßnahme im Zuge der Aufbereitung und Sammlung des Prozessstoffs.

Solange das Gericht der Hauptsache seine Auffassung zur Erheblichkeit des Akteninhalts nicht in der geschilderten Weise förmlich verlautbart hat, ist seine Rechtsauffassung in diesem Punkte und damit die Erheblichkeit des Akteninhalts - Ausnahmefälle ausgenommen (Beschluss des Fachsenats beim Bundesverwaltungsgericht für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO vom 24. November 2003 - BVerwG 20 F 13.03 - a.a.O.) - als offen anzusehen. Entschließt sich die Aufsichtsbehörde in diesem Stadium des Prozesses dazu, die nach den substantiierten Angaben eines Prozessbeteiligten Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse enthaltenden Behördenakten vorzulegen, leidet ihre Ermessensausübung daran, dass ihr die einander widerstreitenden und im konkreten Fall gegeneinander abzuwägenden verfassungsrechtlichen Rechtspositionen nicht bekannt sind. Denn es ist offen, ob zur Erreichung einer den Anforderungen des § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO, Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 GG genügenden Entscheidung des Hauptsachegerichts die Offenlegung der nach Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Betriebs- bzw. Geschäftsgeheimnisse erforderlich ist.

Damit wird die Ermessensausübung der Behörde nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO davon mitbestimmt, inwieweit nach der maßgebenden Rechtsauffassung des Hauptsachegerichts die rechtliche Erheblichkeit des Inhalts der Behördenakten außer Zweifel steht. Diese Auffassung des Gerichts kann die Behörde aus Beweisbeschlüssen oder Zwischenurteilen ersehen. Das Hauptsachegericht ist zum Erlass eines Beweisbeschlusses über die Aktenbeiziehung grundsätzlich verpflichtet (Beschluss des Fachsenats beim Bundesverwaltungsgericht für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO vom 24. November 2003 - BVerwG 20 F 13.03 - a.a.O.); sein Ermessen, ob es ein Zwischenurteil nach § 173 VwGO, § 303 ZPO erlässt, wird durch die Wirkung, die ein derartiges Urteil für die Entscheidung der Aufsichtsbehörde nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO haben kann, beeinflusst.

In dem dem Zwischenverfahren zugrundeliegenden Rechtsstreit VG Köln - 22 K 7391/02 - hat das Verwaltungsgericht, das die Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 26. Juli 2002 durch Urteil vom 30. August 2005 als unzulässig abgewiesen hat, trotz bestehender Zweifel zu keiner Zeit durch eine formalisierte Äußerung zu erkennen gegeben, dass es die Klage für zulässig hielt. Die von der Klägerin und der Beklagten genannten Verhaltensweisen des Verwaltungsgerichts, wie Aktenanforderung, Terminierung bzw. Nichtterminierung anderer Verfahren sowie die mündliche Bitte des Vorsitzenden um Entscheidung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO, ersetzen in Fällen, in denen durch die Offenlegungsentscheidung Grundrechte Dritter verletzt werden können, nicht die erforderliche formalisierte Verlautbarung, die erkennen lässt, dass das Gericht den Akteninhalt für rechtserheblich ansieht.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155, 173 VwGO i.V.m. § 100 ZPO; die Festsetzung des Streitwertes für dieses Zwischenverfahren ergibt sich aus § 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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