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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 22.09.1999
Aktenzeichen: BVerwG 3 B 85.99
Rechtsgebiete: GG, EV, 4. DVO/TreuhG, VwGO


Vorschriften:

GG Art. 103 Abs. 1
EV Art. 21 Abs. 1 Satz 2
EV Art. 22 Abs. 1 Satz 2
4. DVO/TreuhG § 1 Satz 2
VwGO § 108 Abs. 2
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3
Leitsatz:

Zur Zuführung von Stasi-Vermögensgegenständen im Sinne der Artikel 21 Abs. 1 Satz 2, 22 Abs. 1 Satz 2 EV bzw. des § 1 Satz 2 der 4. DVO/TreuhG.

Beschluß des 3. Senats vom 22. September 1999 - BVerwG 3 B 85.99 -

I. VG Dresden vom 02.12.1998 - Az.: VG 2 K 2280/94 -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

BVerwG 3 B 85.99 VG 2 K 2280/94

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 22. September 1999 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Driehaus und die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick und Dr. Brunn

beschlossen:

Tenor:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 2. Dezember 1998 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 DM festgesetzt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Klägers (...) gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts ist begründet. Dem angefochtenen Urteil haftet ein zur Aufhebung und Zurückverweisung nötigender Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO an.

1. Die Beschwerde rügt in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise zu Recht, daß der Kläger von den entscheidungstragenden tatsächlichen und rechtlichen Annahmen des verwaltungsgerichtlichen Urteils überrascht und damit sein Gehörsrecht (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt worden ist.

a) Eine unzulässige sog. Überraschungsentscheidung liegt dann vor, wenn ein Urteil auf neue - tatsächliche und/oder rechtliche - Gesichtspunkte gestützt worden ist, ohne daß die Verfahrensbeteiligten damit rechnen konnten (vgl. Beschluß vom 8. August 1994 - BVerwG 6 B 87.93 - Buchholz 421.0 Nr. 335). Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Entscheidung allein auf Gründe gestützt wird, die zuvor weder im Verwaltungsverfahren noch im Rechtsstreit erörtert worden sind, es sei denn, das Gericht hat durch entsprechende Hinweise oder auf sonstige geeignete Weise die Verfahrensbeteiligten auf die Entscheidungserheblichkeit der betreffenden Gesichtspunkte hingewiesen (vgl. Urteil vom 11. November 1970 - BVerwG VI C 49.68 - BVerwGE 36, 264 <266 f.> stRspr).

b) Das angefochtene Urteil beruht nach seinen insoweit eindeutigen Gründen auf der Annahme, daß die beanspruchten Stasi-Vermögensgegenstände (zwei Grundstücke, wovon eines mit einer Villa bebaut ist) nicht - und zwar weder gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 2 EV (noch gemäß Art. 22 Abs. 1 Satz 2 EV) noch gemäß § 1 Satz 2 der 4. Durchführungsverordnung zum Treuhandgesetz vom 12. September 1990 (GBL I S. 1465), 4. DVO/TreuhG - dem Kläger zugeführt worden seien. Zwar lägen - so der Tatbestand des Urteils - für die damals volkseigenen Vermögensgegenstände Rechtsträgernachweise vom (gemeint wohl - nach dem Beklagtenvorbringen waren sie undatiert - : mit Wirkung zum) 11. September 1990 "zugunsten des Bistums ..., Diözesancaritas" vor, die den Stempelaufdruck "Bezirksarbeitsstab für die Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit" sowie die Unterschrift "K." trügen. Neben anderen Gesichtspunkten, deren Bedeutung "im Ergebnis offenbleiben" könne, sei für das Gericht aber entscheidend, daß die Rechtsträgernachweise "vom Oktober (gemeint wohl: September) 1990" ins Leere gingen, weil es "im Oktober (gemeint wohl: September) 1990" die Diözesancaritas nicht mehr gegeben habe; nach langen Jahren seit 1950, in denen die Caritas - nicht mehr wie früher als e.V., sondern - als "kirchliche Dienststelle" unter dem Schutz des Bistums gehandelt habe, sei sie am 16. Juli 1990 wieder als e.V. eingetragen worden und sei daher eine eigene Rechtspersönlichkeit geworden, woran auch eine Satzungsbestimmung nichts ändere, die eine Aufsicht des Bischofs festlege.

Diese Annahmen mußten, wie die Beschwerde zutreffend rügt, den Kläger unter der hier erfüllten Voraussetzung überraschen, daß die für das Gericht entscheidungstragenden tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhänge, die - soweit aus Schriftsätzen und Sitzungsniederschriften ersichtlich - im Streit der Verfahrensbeteiligten bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung keine entscheidende Rolle gespielt hatten (der Hinweis im Schriftsatz vom 27. Januar 1995, S. 4, betraf das nicht streitgegenständliche Grundstück B. Straße 173 und nicht das streitgegenständliche B. Straße 175), nicht unter Hinweis auf ihre Entscheidungserheblichkeit nachdrücklich durch das Gericht ins Verfahren eingeführt worden sind. Zwar bemerkt die Beigeladene in ihrer Beschwerdeerwiderung, in der mündlichen Verhandlung sei auch das Auseinanderfallen von Rechtsträgerschaft der Diözesancaritas und Betrieb der Einrichtung durch den Caritas e.V. angesprochen worden; wie aber bereits die weitere Bemerkung in der Beschwerdeerwiderung, dabei handele es sich um eine entscheidungsunerhebliche Frage, erweist, mußte sich auch für den Kläger hieraus nicht die Vermutung oder gar die Gewißheit aufdrängen, daß das Gericht dem vor dem Hintergrund der von ihm selbst dargelegten Unselbständigkeit der Diözesancaritas nach seinem Wortlaut eindeutig auf den Kläger hinweisenden Rechtsträgerschaftsvermerk jegliche rechtliche Bedeutung zum Vorteil des Klägers absprechen könnte mit der Begründung, an die Stelle der - nach den Urteilsgründen im DDR-Rechtsleben bekannten - Diözesancaritas sei der - gerade zuvor erst - eingetragene Verein Caritas getreten mit der Folge, daß nicht nur die Diözesancaritas nicht mehr existiert habe, sondern auch ihr sie "schützender" Träger nicht mehr Zuführungsberechtigter habe werden können.

Zu Recht macht die Beschwerde insoweit geltend, daß - abgesehen sogar davon, daß das Gericht den Beweisbeschluß vom 19. September 1996, der die Hintergründe der Rechtsträgerschaftsvermerke erhellen sollte und u.a. die Vernehmung des Zeugen K. vorsah, ohne dessen Aufhebung nicht durchgeführt und hierfür auch keine Begründung gegeben hat - dem Kläger zumindest Möglichkeiten zu Gebote gestanden hätten, die vom Gericht in den Urteilsgründen entwickelten entscheidungserheblichen Bedenken zu zerstreuen. Insoweit hat die Beschwerde dargelegt, daß der Kläger eine Rechtsnachfolge hätte vortragen können. Ferner hätte es nahegelegen vorzutragen, dem "Bezirksarbeitsstab" könnten diese jüngsten rechtlichen Veränderungen der Caritas entweder gleichgültig gewesen oder verborgen geblieben sein, so daß eine Auslegung der Zuführung - so sie denn erfolgte - hinsichtlich ihres wahren Begünstigten anzustellen gewesen wäre, die im Ergebnis nicht zwingend auf den Verein hätte führen müssen (sondern auch den Kläger als wahren Berechtigten hätte erweisen können). Dies gilt sogar vor dem Hintergrund der - freilich im Spekulativen verharrenden und den aus § 86 Abs. 1 VwGO folgenden Aufklärungspflichten nicht genügenden - Annahme des Gerichts, einem Zuführenden könne es damals nur darum gegangen sein, konkret die Stelle zu begünstigen, die mit Hilfe der Vermögensgegenstände die neuen sozialen Aufgaben durchführte; selbst dann könnte der Kläger bei verständiger Würdigung einer hier unterstellten Zuführungsentscheidung - wenn womöglich auch nicht als Berechtigter selbst, so doch - als Treuhänder für die Caritas, in welcher Form diese auch immer aufgetreten sein mag, auserkoren worden sein.

2. Das Urteil erweist sich auch nicht aus den in seiner Begründung angedeuteten oder sonstigen Gründen als im Ergebnis zutreffend; namentlich ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, in dem Kläger einen Berechtigten zu erblicken:

Im Ansatz zutreffend hat das Verwaltungsgericht allerdings angenommen, daß es vorliegend freilich weder um eine Vermögenszuordnung noch um eine Restitution (vgl. hierzu Beschluß vom 14. Dezember 1993 - BVerwG 7 B 205.93 - Buchholz 111 Art. 21 EV Nr. 2) zugunsten eines Trägers öffentlicher Verwaltung gehen kann (vgl. § 1 Abs. 1 bis 3 sowie Abs. 4 VZOG i.V.m. Art. 21, 22 EV). Da die vom Verwaltungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen auch die Annahme nicht tragen würden, es sei eine - positive oder negative - Entscheidung zur Übertragung an Dritte durch das "Komitee zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit" im Sinne des § 1 Satz 2 der 4. DVO/TreuhG ergangen, verblieb vor diesem Hintergrund für das Gericht als zwar einzige, aber sehr wohl erwägenswerte Möglichkeit der Berechtigung des Klägers diejenige, daß eine Zuführung im Sinne der Art. 21 Abs. 1 Satz 2 bzw. 22 Abs. 1 Satz 2 EV stattgefunden haben könnte.

a) Zu diesen Vorschriften hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, daß sie dem Zweck dienten, Umnutzungen des ehemaligen Stasi-Vermögens, die in der Umbruchsituation der DDR nach dem 1. Oktober 1989 von Behördenvertretern, Regierungsbeauftragten und Gremien wie den sogenannten "Runden Tischen" oder auch dem Komitee zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit vorgenommen wurden, unter bestimmten Voraussetzungen als Vermögenszuordnung anzuerkennen, um die neue Nutzung in ihrem Bestand zu sichern; damit werde der historischen Leistung Rechnung getragen, daß Vermögen und Einrichtungen der ehemaligen Staatssicherheit auf Betreiben der Bürgerschaft Gemeinwohlzwecken nutzbar gemacht wurden (vgl. für die im damaligen Streitverfahren ausschließlich in Rede stehende Vorschrift des Art. 22 Abs. 1 Satz 2 EV: Urteil vom 19. Januar 1995 - BVerwG 7 C 62.93 - BVerwGE 97, 295 <298>). Außerdem hat das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung, auf die das Verwaltungsgericht zu Recht Bezug nimmt, dargelegt, daß zwar bei abweichender Entscheidung des Komitees eine vorangegangene Zuführung die Vermögenszuordnung nicht begründen kann (Vorrang der Komitee-Entscheidung); dagegen scheiden vom Komitee nicht veränderte, aber auch nicht bestätigte Zuführungen zu öffentlichen oder sozialen Zwecken als Zuordnungsgrundlage nicht von vornherein aus. Auch diejenigen zu neuen sozialen oder öffentlichen Zwecken erfolgten Zuführungen, die das am 8. Februar 1990 gegründete und am 30. September 1990 aufgelöste Komitee in der Kürze der ihm verbliebenen Zeit nicht bestätigt hat, kommen hiernach als Grundlage des Vermögensübergangs in Betracht, sofern sie nicht aufgehoben oder durch abweichende Komitee-Entscheidungen ersetzt wurden. Unter diesen Voraussetzungen konnte mithin auch ohne eine Entscheidung des Komitees bereits im Wege der Zuführung zu neuen sozialen oder öffentlichen Zwecken nach dem 1. Oktober 1989 beispielsweise Verwaltungsvermögen entstehen, das dem begünstigten Träger öffentlicher Verwaltung zur Erfüllung seiner Aufgaben zusteht (a.a.O., S. 298 f.); neben dem im entschiedenen Verfahren in Rede stehenden Fall der Begünstigung eines Trägers öffentlicher Verwaltung (damals: Rat der Stadt) konnte unter der Voraussetzung, daß der Vorgang der Besitzübertragung bis zum 3. Oktober 1990 abgeschlossen und die Nutzung im maßgeblichen Zeitpunkt bereits verwirklicht oder doch zumindestens konkret vorgesehen und darüber hinaus auf Dauer angelegt war (a.a.O., S. 299), auch eine Institution begünstigt werden, die kein Träger öffentlicher Verwaltung war. Mit einer solchen Zuführung ist ein Vermögensgegenstand aus dem zuordnungsfähigen DDR-Vermögen ausgeschieden, das gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 22 Abs. 1 Satz 2 EV der Treuhandanstalt zusteht.

b) Deswegen hätten - dem Begehren des Klägers entsprechend - die beanspruchten Vermögensgegenstände dem Kläger zugeführt werden können. Ob sie ihm zugeführt worden sind, muß auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen nach wie vor als offen beurteilt werden. Denn selbst wenn eine Zuführung in der vom Verwaltungsgericht angenommenen Weise unter Anerkennung der damaligen tatsächlichen und/oder rechtlichen Verhältnisse der Caritas erfolgt wäre, wäre - wie dargelegt - nicht auszuschließen, daß sie als zulässige Zuführung zugunsten des Klägers zu verstehen sein und als solche auch rechtlichen Bestand behalten könnte, zumal unter der Voraussetzung der Richtigkeit der Angaben der Beklagten, die Rechtsträgerschaftsvermerke seien undatiert gewesen, noch nicht einmal der genaue Zeitpunkt einer Zuführungsentscheidung feststünde, der mithin auch vor dem der Eintragung der Caritas liegen könnte. Auf der anderen Seite ist auch nicht auszuschließen, daß in der Tat ausschließlich der Verein Caritas begünstigt werden sollte oder eine beabsichtigte Nutzung zu öffentlichen oder sozialen Zwecken am 3. Oktober 1990 weder ins Werk gesetzt noch durch vertragliche Abrede für die Zukunft dauerhaft sichergestellt war (vgl. a.a.O., S. 300).

3. Der beschließende Senat nimmt den Verfahrensfehler gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zum Anlaß, das Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Er kann daher offenlassen, ob die geltend gemachte Grundsatzbedeutung, die gerügte Abweichung und/oder die übrigen mit der Beschwerde gerügten Verfahrensfehler vorliegen. Die Zurückverweisung erweist sich vor allem deswegen als sachangemessen, weil ohnehin die vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen eine abschließende Entscheidung in Form eines die Klage abweisenden oder ihr stattgebenden Revisionsurteils, wie dargelegt, voraussichtlich nicht zuließen.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 6 Abs. 3 Satz 2 VZOG.

Ende der Entscheidung

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