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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 11.01.1999
Aktenzeichen: BVerwG 4 B 128.98
Rechtsgebiete: BauGB, GKG


Vorschriften:

BauGB § 34 Abs. 1
GKG § 13 Abs. 1 Satz 1
Leitsätze:

§ 34 Abs. 1 BauGB kann im Hinblick auf das in ihm enthaltene Rücksichtnahmegebot auch dann verletzt sein, wenn die landesrechtlichen Abstands(flächen)vorschriften eingehalten sind.

Eine Verletzung des in § 34 BauGB enthaltenen Rücksichtnahmegebots ist ausgeschlossen, wenn sich ein Vorhaben nach seiner Art oder seinem Maß der baulichen Nutzung, nach seiner Bauweise oder nach seiner überbauten Grundstücksfläche in die Eigenart seiner näheren Umgebung einfügt.

Urteil des 4. Senats vom 11. Januar 1999 - BVerwG 4 B 128.98 -

I. VG München vom 03.07.1996 - Az.: VG M 9 K 95.5648 - II. BayVGH vom 15.09.1998 - Az.: VGH 1 B 96.4115 -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 4 B 128.98 VGH 1 B 96.4115

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 11. Januar 1999 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Gaentzsch und die Richter Dr. Lemmel und Dr. Rojahn

beschlossen:

Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. September 1998 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Kläger als Gesamtschuldner; davon ausgenommen sind die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 100 000 DM festgesetzt.

Gründe:

Die Kläger sind Eigentümer eines mit einem Flachdachbungalow bebauten Grundstücks. Sie wenden sich gegen die der Beigeladenen zu 1 erteilte Baugenehmigung für zwei von vier Sechsfamilienhäusern auf dem Nachbargrundstück und machen geltend, sie würden in ihren Rechten verletzt, weil die Baugenehmigung insbesondere wegen der grenznahen Anordnung der beiden Wohnhäuser, wegen ihrer Höhe und wegen des Ausmaßes der Geschoßfläche mit dem Rücksichtnahmegebot nicht vereinbar sei. Ihre Klage wurde im ersten und im zweiten Rechtszug als unbegründet abgewiesen.

Die gegen die Nichtzulassung der Revision gerichtete und allein auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde bleibt erfolglos. Die zum Gebot der Rücksichtnahme in § 34 Abs. 1 BauGB aufgeworfenen Fragen rechtfertigen die Zulassung der Revision nicht. Die Beschwerde möchte "insbesondere" geklärt wissen, "ob die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften Maßstab bezüglich des Merkmals 'überbaubare Grundstücksfläche' im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB sein können im Hinblick auf die nachbarlichen Belange ausreichender Belichtung, Besonnung, Belüftung sowie Begrenzung der Einsichtsmöglichkeiten und insoweit Sicherung des Wohnfriedens als ein sozialverträgliches Nebeneinander und generell der Situierung von baulichen Anlagen im Sinne des Merkmals 'überbaubare Grundstücksfläche' im Rahmen der städtebaulichen Ordnung und damit Vornahme eines geordneten nachbarlichen Austauschverhältnisses zur Wahrung des jeweiligen Eigentumsrechts, insbesondere bei rückwärtigen Baugrenzen". Dahinstehen kann, ob hiermit eine konkrete Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung formuliert ist. Denn selbst wenn man die formulierte Frage entsprechend dem Beschwerdevortrag konkretisiert, ergeben sich keine klärungsbedürftigen Fragen, weil bereits eine gefestigte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Rücksichtnahmegebot in § 34 Abs. 1 BauGB vorliegt. Diese Rechtsprechung mag zwar wegen der im Schrifttum (vgl. insbesondere Mampel, ZfBR 1997, 227) geübten Kritik überprüfenswert sein. Das vorliegende Verfahren wäre hierfür aber ungeeignet. Die Beschwerde zeigt nämlich keinen Rechtsgrundsatz auf, der einer Überprüfung in einem neuen Revisionsverfahren bedarf und zugleich für den Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits entscheidungserheblich sein könnte.

Der Beschwerde geht es zunächst allgemein um die in ihrer Begründung diskutierte Frage, ob Nachbarschutz auf der Grundlage des in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Rücksichtnahmegebots ausgeschlossen ist, wenn die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten worden sind. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es jedoch keines Revisionverfahrens. Denn daß sie zu verneinen ist, hat der Senat - in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung der Beschwerde -bereits wiederholt entschieden. Zwar konnten der Beschluß vom 18. Dezember 1985 - BVerwG 4 CB 49 u. 50.85 - (Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 68 - NVwZ 1986, 468) und der Beschluß vom 22. November 1984 - BVerwG 4 B 244.84 - (NVwZ 1985, 653) noch so verstanden werden, daß für das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme generell kein Raum sei, wenn ein Vorhaben die nach Landesrecht zur Sicherung hinreichender Belichtung, Besonnung oder Belüftung und damit auch zur Verhinderung des "Einmauerns" eines Grundstücks gebotene Abstandsfläche einhalte. Bereits in seinem Urteil vom 23. Mai 1986 - BVerwG 4 C 34.85 - (Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 114 - NVwZ 1987, 128) hat der Senat jedoch entschieden, daß das im Begriff des Einfügens im Sinne von § 34 BBauG aufgehende Rücksichtnahmegebot auch dann verletzt sein könne, wenn die landesrechtlichen Abstandsvorschriften eingehalten seien. An dieser Rechtsauffassung ist in den Urteilen vom 16. September 1993 - BVerwG 4 C 28.91 - (BVerwGE 94, 151 <159 f.>) und vom 28. Oktober 1993 - BVerwG 4 C 5.93 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 120 <S. 107, 112 f. - NVwZ 1994, 686 <687>) festgehalten worden. Auch das Berufungsgericht geht hiervon aus.

Im besonderen richtet sich die Beschwerde aber gegen die Ausführungen des Berufungsgerichts, daß die nachbarlichen Belange ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie der Begrenzung der Einsichtsmöglichkeiten nicht Gegenstand des nachbarschützenden Gebotes der Rücksichtnahme sein könnten, weil deren Sicherung (nur) die - hier eingehaltenen landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften dienten. Ob diese - in der bisherigen Rechtsprechung auch vom Bundesverwaltungsgericht vertretene - Rechtsauffassung zutrifft, mag im Grundsatz einer erneuten kritischen Überprüfung in einem Revisionsverfahren bedürfen. Überwiegendes spricht für die Auffassung, daß die genannten nachbarlichen Belange nicht allein bauordnungsrechtlich, sondern auch bauplanungsrechtlich geregelt werden dürfen, weil sie auch städtebauliche Bedeutung haben (in diesem Sinne bereits BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - BVerwG 4 C 17.90 - BVerwGE 88, 191 <195 f.> - NJW 1991, 3293), und daß deshalb die (unterschiedlichen) bauordnungsrechtlichen (Abstands-)Vorschriften Regelungen des Städtebaurechts nicht verdrängen können (vgl. Mampel, ZfBR 1997, 227 <229 f.>). Andererseits dürfte die bisherige Rechtsprechung jedenfalls im Ergebnis mit der Modifikation grundsätzlich richtig bleiben, daß zumindest aus tatsächlichen Gründen das Rücksichtnahmegebot im Regelfall nicht verletzt sein wird, wenn die Abstandsvorschriften eingehalten sind.

Gleichwohl ist die Revision auch wegen dieser Fragen nicht zuzulassen. Denn selbst wenn zugunsten der Kläger davon ausgegangen wird, daß die nachbarlichen Belange ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie der Begrenzung der Einsichtsmöglichkeiten nicht allein durch die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften gesichert werden können, so ist auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht erkennbar, daß die streitige Baugenehmigung gegen das - auch nachbarschützende - Rücksichtnahmegebot verstoßen könnte.

Das Rücksichtnahmegebot ist keine allgemeine Härteklausel, die über den speziellen Vorschriften des Städtebaurechts oder gar des gesamten öffentlichen Baurechts steht, sondern Bestandteil einzelner gesetzlicher Vorschriften des Baurechts. Im unbeplanten Innenbereich spielt das Rücksichtnahmegebot im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB eine Rolle. Es geht hier in dem Begriff des Einfügens auf (BVerwG, Urteil vom 13. März 1981 - BVerwG 4 C 1.78 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 44 - ZfBR 1981, 149; Urteil vom 23. Mai 1986 BVerwG 4 C 34.85 - Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 114 - NVwZ 1987, 128). Das bedeutet, daß das Rücksichtnahmegebot nur verletzt sein kann, wenn sich ein Vorhaben objektiv-rechtlich nach seiner Art oder seinem Maß der baulichen Nutzung, nach seiner Bauweise oder nach seiner überbauten Grundstücksfläche nicht in die Eigenart seiner näheren Umgebung einfügt. Im vorliegenden Fall könnten sich die beiden Wohnhäuser nur hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung oder hinsichtlich der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht einfügen, weil - nach dem Vortrag der Kläger - lediglich ihre Höhe und das Ausmaß ihrer Geschoßfläche sowie ihre grenznahe Anordnung problematisch sein kann. Ob sich die beiden Wohnhäuser im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung und hinsichtlich der überbauten Grundfläche einfügen, hat das Berufungsgericht jedoch umfassend geprüft. Nach seiner Auffassung fügen sich die beiden Gebäude hinsichtlich ihres Maßes in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Und auch die Vorschriften über die überbaubaren Grundstücksfächen seien nicht verletzt; insbesondere ergebe sich aus der Eigenart der näheren Umgebung keine über die - gewahrten - Abstandsflächen hinausgehende rückwärtige Baugrenze. Zwar wendet sich die Beschwerde gegen diese Beurteilung; sie trägt vor allem vor, daß sämtliche Gebäude in der Umgebung erheblich größere Grenzabstände einhielten, so daß die faktische rückwärtige Baugrenze deutlich überschritten werde. Hiermit kann sie jedoch nicht gehört werden, weil das Beschwerdegericht an die - nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen - tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts gebunden ist (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO). Fügen sich aber die beiden Wohnhäuser der Beigeladenen auch hinsichtlich der rückwärtigen Baugrenze ein, so kommt auch insoweit eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots nicht in Betracht.

Die übrigen Ausführungen der Beschwerde erschöpfen sich in einer Kritik der berufungsgerichtlichen Entscheidung, ohne daß eine Rechtsfrage im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO herausgearbeitet wird. Sie können schon deshalb nicht zur Zulassung der Revision führen. Angemerkt sei deshalb nur, daß ihnen auch in der Sache nicht gefolgt werden kann. Soweit sich die Kläger auf den Schutz des Eigentums durch Art. 14 GG berufen, verkennen sie, daß sich in gleicher Weise auch ihre Nachbarn auf dieses Grundrecht berufen könnten. Nicht Art. 14 GG, sondern das zu seiner Inhalts- und Schrankenbestimmung erlassene einfache Recht regelt den Konflikt der Nachbarn. Unerheblich ist ferner, daß die Kläger nach ihrem Vortrag einen Wertverlust in Höhe von mindestens 100 000 DM erleiden. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß für ein mit einem Wohnhaus bebautes Grundstück ein höherer Marktpreis erzielt werden kann, wenn es sich in einer nur locker bebauten Umgebung befindet und die jeweils benachbarten Flächen der Nachbargrundstücke unbebaut sind; für die Zulässigkeit ihrer Bebauung lassen sich allein aus dem eintretenden Wertverlust keine Erkenntnisse gewinnen (vgl. auch BVerwG, Beschluß vom 13. November 1997 - BVerwG 4 B 195.97 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 189 - ZfBR 1998, 166).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159, § 162 Abs. 3 VwGO. Den Wert des Streitgegenstandes setzt der Senat - abweichend von der Streitwertfestsetzung durch das Berufungsgericht - für das Beschwerdeverfahren gemäß § 14 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG auf 100 000 DM fest. Nach diesen Vorschriften ist maßgeblich die sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebende Bedeutung der Sache. Im Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit - Fassung 1996 - Nr. 7.6.1 (DVBl 1996, 605 - NVwZ 1996, 563) wird für Nachbarklagen ein Streitwert von 10 000 DM, mindestens aber der "Betrag einer Grundstückswertminderung" empfohlen. Hier haben die Kläger substantiiert - sogar durch Vorlage eines Wertgutachtens eines Sachverständigen - einen Wertverlust von 100 000 DM geltend gemacht. Das Interesse der Kläger kann deshalb ohne weiteres mit 100 000 DM bewertet werden, ohne daß es auf die Richtigkeit der angegebenen Wertminderung ankäme.

Ende der Entscheidung

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