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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 10.12.1997
Aktenzeichen: BVerwG 4 B 204.97
Rechtsgebiete: BayBO


Vorschriften:

BayBO 1994 § 89 S. 1
Beschluß des 4. Senats vom 10. Dezember 1997 - BVerwG 4 B 204.97

Leitsätze:

Ob dem Nachbarn bei der Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift - hier des Abstandsflächenrechts - ein im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null gebundener Anspruch auf behördliches Einschreiten zusteht, entscheidet sich grundsätzlich nach Landesrecht (im Anschluß an Beschluß vom 24. Mai 1988 - BVerwG 4 B 93.88 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 80 = NVwZ 1988, 824 = BRS 48 Nr. 161).

Die Möglichkeit des Nachbarn, seine Rechte unmittelbar gegenüber dem "Störer" zivilrechtlich (§§ 1004, 906, 823 Abs. 2 BGB) geltend zu machen, kann je nach den Umständen des Einzelfalls ein beachtlicher Ermessensgesichtspunkt sein (im Anschluß an Urteil vom 25. Februar 1969 - BVerwG 1 C 7.68 - DVBl 1969, 586).

I. VG München vom 18.07.1996 - Az.: VG M 23 K 95.1269 II. VGH München vom 05.08.1997 - Az.: VGH 27 B 96.309


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT BESCHLUSS

BVerwG 4 B 204.97 VGH 27 B 96.3509

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 10. Dezember 1997 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Gaentzsch und die Richter Halama und Dr. Rojahn

beschlossen:

Die Beschwerden des Beklagten und der Beigeladenen zu 2 gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 5. August 1997 werden zurückgewiesen.

Der Beklagte und der Beigeladene zu 2 tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu 1, der diese selbst trägt.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 DM festgesetzt.

G r ü n d e :

Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 VwGO gestützten Beschwerden bleiben erfolglos. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich kein Grund für eine Zulassung der Revision.

1. Die vom Beklagten aufgeworfene Frage, ob "es mit dem zugunsten des Gesetzgebers bestehenden Schutzvorbehalt des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar (ist), wenn ein Gericht auf einen Nachbarrechtsbehelf hin den Staat zwingend verpflichtet, von einer im Ermessen der Behörde stehenden Anordnung der Baubeseitigung nach Bauordnungsrecht Gebrauch zu machen, wenn das Gericht die ebenfalls vom Gesetzgeber zur Verfügung stehenden zivilrechtlichen Schutzmöglichkeiten des Nachbarn nicht in Erwägung zieht, obwohl diese zivilrechtlichen Möglichkeiten mindestens so effektiv wie die bauaufsichtlichen sind und keinerlei öffentliches Interesse an der Durchsetzung der nachbarlichen Interessen besteht", hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO); die ihr der Beklagte beimißt. Ob dem Nachbarn bei der Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift - hier einer landesrechtlichen Vorschrift des Abstandsflächenrechts - ein im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null gebundener Anspruch auf behördliches Einschreiten zusteht, entscheidet sich grundsätzlich nach dem gemäß § 137 Abs. 1, § 173 VwGO i.V.m. § 562 ZPO irrevisiblen Landesrecht (vgl. Senatsbeschluß vom 24. Mai 1988 - BVerwG 4 B 93.88 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 80 = NVwZ 1988, 824 = BRS 48 Nr. 161). Dem Landesbaurecht - hier dem § 89 Satz 1 BayBO 1994 - ist nämlich grundsätzlich zu entnehmen, wie das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben ist und wo die Grenzen des Ermessens liegen; ebenso entscheidet sich grundsätzlich nach Landesrecht, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen eine Ermessensreduzierung auf Null dann in Betracht kommt, wenn die Fallgestaltung die Erteilung einer landesrechtlichen Befreiung oder einer Abweichung nicht gestattet. Die Bauaufsichtsbehörde hat die für und gegen ein Einschreiten sprechenden Gesichtspunkte sachgerecht abzuwägen und bei der Verletzung nachbarschützender Vorschriften neben dem besonderen öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung baurechtmäßiger Zustände auch die Interessen des in seinen Rechten verletzten Nachbarn zu berücksichtigen (vgl. bereits BVerwG, Urteil vom 18. August 1960 - BVerwG 1 C 42.59 - BVerwGE 11, 95 <97>). Auch die Möglichkeit des Nachbarn, seine Rechte unmittelbar gegenüber dem "Störer" zivilrechtlich (§§ 1004, 906, 823 Abs. 2 BGB) geltend zu machen, kann je nach den konkreten Umständen des Einzelfalls ein beachtlicher Ermessensgesichtspunkt sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 1969 - BVerwG 1 C 7.68 - DVBl 1969, 586; vgl. auch Beschluß vom 21. Oktober 1988 - BVerwG 7 B 154.88 - Buchholz 406.25 § 24 BImSchG Nr. 3).

Soweit die vom Beklagten aufgeworfene Frage und sein weiteres Beschwerdevorbringen hierzu den "Schutzvorbehalt des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG" betreffen, wird zwar revisibles Recht berührt. Das verhilft der Beschwerde jedoch nicht zum Erfolg. Ihrer Darlegungslast (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) würde die Beschwerde nur dann genügen, wenn sie zur Auslegung dieser verfassungsrechtlichen Norm eine rechtsgrundsätzliche Frage aufwerfen würde. Daran fehlt es. Die Beschwerde macht lediglich geltend, daß das Berufungsgericht das hier einschlägige Landesrecht in verfassungswidriger Weise angewendet habe. Allein mit einer Kritik an der berufungsgerichtlichen Sachverhaltswürdigung und Rechtsanwendung im Einzelfall ist die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache jedoch nicht dargetan.

Die vom Beklagten weiterhin aufgeworfenen Rechtsfragen, die die Ermessensüberprüfung und die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch das Berufungsgericht betreffen, enthalten der Sache nach eine in die Form einer abstrakten Fragestellung gekleidete, auf die besonderen Umstände des vorliegenden Falles zugeschnittene Kritik an der berufungsgerichtlichen Sachverhaltswürdigung und Rechtsanwendung. Eine verallgemeinerungsfähige und klärungsbedürftige Rechtsfrage des revisiblen Rechts ist den aufgeworfenen Fragen nicht zu entnehmen.

2. Die von der Beigeladenen zu 2 erhobenen Verfahrensrügen greifen ebenfalls nicht durch. Die gerügte Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor.

Entgegen dem Beschwerdevorbringen hat das Berufungsgericht die Beigeladene zu 2 nach § 130 a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO zu seiner Absicht, über die Berufung durch Beschluß zu entscheiden, ordnungsgemäß angehört. Das Berufungsgericht war insbesondere angesichts der Beweisanträge, die die Beigeladene zu 2 nach der ihr zugegangenen (ersten) Anhörungsmitteilung gestellt hat, nicht zur Mitteilung der Gründe verpflichtet, aus denen es von der beantragten Beweisaufnahme abgesehen hat. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, daß dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs in den Fällen, in denen das Berufungsgericht an der Durchführung des vereinfachten Verfahrens auch angesichts von Beweisanträgen festhalten will, die der Berufungsführer erst nach der Anhörungsmitteilung stellt, in der Regel genügt wird, wenn der Berufungsführer durch eine erneute Anhörungsmitteilung über das unverändert beabsichtigte Verfahren und damit auch darauf hingewiesen wird, daß das Gericht seinen Beweisanträgen nicht durch förmliche Beweisbeschlüsse nachgehen werde (vgl. Beschluß vom 10. April 1992 - BVerwG 9 B 142.91 - Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 5 m.w.N.). Die Anhörungsmitteilung soll den Beteiligten Gelegenheit bieten, ihre Sachargumente unter Berücksichtigung der in der erneuten Anhörung zum Ausdruck kommenden Ablehnung der Beweisanträge zu vertiefen und ggf. die Gründe darzutun, aus denen sie eine mündliche Verhandlung für sachdienlich halten (Beschluß vom 3. Februar 1993 - BVerwG 11 B 12.92 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 10). Aus den Entscheidungsgründen eines gemäß § 130 a VwGO ergangenen Beschlusses muß allerdings erkennbar sein, daß das Gericht die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und, wenn sie Beweisanträge gestellt haben, diese vorher auf ihre Erheblichkeit überprüft hat (vgl. Beschluß vom 10. April 1992 a.a.O.).

Nach den vorgenannten Grundsätzen ist der Verwaltungsgerichtshof verfahren. Verfahrensfehler sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat der Verwaltungsgerichtshof die Prozeßbevollmächtigten der Beigeladenen zu 2 mit erneuten Anhörungsmitteilungen vom 3. Juni 1997 und vom 17. Juli 1997 darauf hingewiesen, daß er auch unter Würdigung der Beweisanträge im Schriftsatz der Beigeladenen zu 2 vom 15. Mai 1997 an seiner Absicht festhalte, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Eine weitergehende Hinweis- oder Aufklärungspflicht besteht im Rahmen von § 130 a VwGO nicht. In dem angefochtenen Beschluß (S. 10) wird dargelegt, aus welchen Gründen der Verwaltungsgerichtshof von seinem Rechtsstandpunkt aus die beantragte Beweisaufnahme für nicht erforderlich gehalten hat.

Ein den Anspruch der Beigeladenen zu 2 auf die Gewährung rechtlichen Gehörs verletzendes unzulässiges Überraschungsurteil liegt nicht vor. Das Berufungsgericht war nicht zu dem Hinweis verpflichtet, daß es von seinem Rechtsstandpunkt aus für die Abwägung der Interessen der Kläger mit denen der Beigeladenen darauf ankomme, daß der nördliche Teil des klägerischen Grundstücks von der erhöhten Tiefgarage eingesehen werden könne. Ein unzulässiges Überraschungsurteil liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf eine weder im Verwaltungs- noch im Verwaltungsstreitverfahren erörterte rechtliche Erwägung stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (BVerwG, Urteil vom 31. Mai 1983 - BVerwG 4 C 20.83 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 135; stRspr). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Für alle Beteiligten klar erkennbar wirft der vorliegende Fall die Rechtsfrage auf, ob nachbarliche Interessen der Kläger einer Abweichung von der nach der Bayerischen Bauordnung vorgeschriebenen Abstandsfläche für die Südwand der Tiefgarage im Sinne von Art. 77 Abs. 1 BayBO entgegenstehen. Das Berufungsgericht hat hierzu ausgeführt, zwar entziehe die über die Geländeoberkante aufragende Garagensüdwand dem Grundstück der Kläger nicht Licht, Luft und Sonne, welche die Abstandsflächenvorschriften vornehmlich dem Nachbarn gewährleisteten. Doch schützten die Abstandsflächen darüber hinaus auch den sozialen Wohnfrieden, indem sie ein Mindestmaß an Distanz für Gebäude vorschrieben, damit ein gewisser Schutz vor Einblick Dritter vermieden und eine eigene private Sphäre gewährleistet werde. Die Beigeladene zu 2 konnte und mußte nach dem bisherigen Prozeßverlauf damit rechnen, daß der Gesichtspunkt der Einsehbarkeit des klägerischen Grundstücks von der erhöhten Tiefgarage aus entscheidungsrelevant sein würde. Daß Abstandsflächenregelungen auch dem Schutz der Nachbargrundstücke vor Einsicht Dritter dienen, ist nicht fernliegend. So weist auch der Beklagte (allerdings mit anderen rechtlichen Schlußfolgerungen als das Berufungsgericht) in seiner Berufungsbegründung darauf hin, daß die Abstandsflächenvorschriften auch den Zweck verfolgten, die Einhaltung eines gewissen "Sozialabstands" sicherzustellen. Bereits in erster Instanz hatte der Beklagte ausgeführt, daß mit der aus dem natürlichen Gelände sich erhebenden Tiefgarage faktisch eine neue Geländeoberfläche angelegt worden sei. Es frage sich ohnedies, ob dem nachbarlichen Wohnfrieden nicht eine grenzständige Einfriedung zuträglich sein würde (vgl. die Klagebegründung vom 12. Juli 1995). Im Berufungsverfahren haben die Kläger u.a. vorgetragen, durch die Vorgehensweise des Bauherrn sei geradezu eine Art "Feldherrnhügel" entstanden, zu dem die Kläger "von ihrem tieferliegenden Grundstück aufschauen" könnten. Wegen der Erdaufschüttung über dem Betonsockel müsse ihr Grundstück für jeden objektiven Betrachter "ähnlich einer Grube erscheinen" (vgl. Schriftsätze vom 17. Januar 1997 und vom 12. März 1997). Vor dem Hintergrund dieser Äußerungen und angesichts der vorgenannten Regelungszwecke des Abstandsflächenrechts konnte die Beigeladene zu 2 auch ohne entsprechenden Hinweis des Berufungsgerichts die rechtliche Bedeutung erkennen, die das Berufungsgericht dem Interesse der Kläger an dem Schutz vor Einblicken Dritter auf ihr Grundstück beigemessen hat, und ihren Tatsachenvortrag danach ausrichten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Den Wert des Streitgegenstandes setzt der Senat gemäß § 14 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG fest.

Gaentzsch Halama Rojahn



Ende der Entscheidung

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