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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 23.04.2002
Aktenzeichen: BVerwG 4 CN 3.01
Rechtsgebiete: VwGO, BauGB


Vorschriften:

VwGO § 47 Abs. 2
BauGB § 1 Abs. 6
Das Rechtsschutzinteresse für einen Normenkontrollantrag kann auch gegeben sein, wenn die begehrte Entscheidung für den Antragsteller aus tatsächlichen Gründen vorteilhaft ist.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 4 CN 3.01

In der Normenkontrollsache

hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts ohne mündliche Verhandlung am 23. April 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Paetow und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Lemmel, Halama, Gatz und Dr. Jannasch

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 18. August 2000 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin wendet sich im Normenkontrollverfahren gegen den Bebauungsplan "Leimgrube/neu" der Antragsgegnerin vom 24. November 1999.

Der streitige Bebauungsplan setzt ein 6,12 ha großes Gebiet als allgemeines Wohngebiet fest. Von der Planung betroffen ist auch das rund 0,9 ha große Flurstück 1141/1, das der Antragstellerin gehört. Es ist unbebaut und wird als Weide genutzt. Die Antragstellerin möchte diese Fläche weiterhin landwirtschaftlich nutzen. Sie wendet sich auch gegen die Wohngebietsfestsetzung für die Nachbargrundstücke, weil sie einen Konflikt zwischen der landwirtschaftlichen Nutzung ihres Weidegrundstücks und der geplanten Wohnbebauung in der Nachbarschaft befürchtet.

Der streitige Bebauungsplan ersetzt den Bebauungsplan "Leimgrube" vom 13. November 1980, dessen Geltungsbereich sich mit dem des neuen Plans nahezu deckt. Auch in Bezug auf Art und Maß der geplanten Bebauung besteht zwischen beiden Plänen weitgehend Übereinstimmung. Im Bereich des Grundstücks der Antragstellerin sind die getroffenen Festsetzungen nahezu gleich; geändert worden ist hier lediglich der Verlauf der geplanten Erschließungsstraße auf dem südlichen Nachbargrundstück, die ein wenig weiter nach Norden verschoben worden ist. Der neue Plan wurde aufgestellt, weil der alte Plan auf Grund der gegebenen Eigentumsverhältnisse im Plangebiet nur in Teilbereichen umgesetzt werden konnte. In dem Bebauungsplan aus dem Jahre 1980 waren nämlich Erschließungsstraßen und Bauplätze nicht in Übereinstimmung mit den Grundstücksgrenzen parzellenscharf abgegrenzt, so dass einzelne Grundeigentümer die Bebauung der Nachbargrundstücke blockieren konnten. Ziel der Neuplanung ist es, weitere Teile des Plangebiets auch ohne einen gesetzlichen Eingriff in das Privateigentum baureif machen zu können.

Die Antragstellerin hält den Bebauungsplan "Leimgrube/neu" aus formellen und aus materiellen Gründen für fehlerhaft. Ihren Antrag, den Bebauungsplan für nichtig zu erklären, hat das Normenkontrollgericht als unzulässig abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Antragstellerin habe an der begehrten Nichtigerklärung des angegriffenen Bebauungsplans kein Rechtsschutzinteresse. Denn ihre Rechtsstellung würde sich nicht verbessern, wenn der Bebauungsplan "Leimgrube/neu" für nichtig erklärt würde, weil dann der frühere Plan "Leimgrube" mit nahezu denselben Festsetzungen, durch die sich die Antragstellerin beschwert fühle, fortgelten würde. Es sei nämlich davon auszugehen, dass der Gemeinderat der Antragsgegnerin seinen Beschluss, den Bebauungsplan "Leimgrube" aufzuheben, nur für den Fall gefasst habe, dass der Bebauungsplan "Leimgrube/neu" nicht unwirksam sei. Nicht zu erwarten sei, dass die Antragsgegnerin im Falle der Nichtigerklärung einen neuen Bebauungsplan aufstellen werde.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht die Antragstellerin geltend, das Normenkontrollgericht habe das Rechtsschutzinteresse zu Unrecht verneint. Für den Fall, dass der Bebauungsplan "Leimgrube/neu" für nichtig erklärt werde, erhalte sie zumindest einen tatsächlichen und ggf. rechtlichen Vorteil. Sie werde in der Ausübung ihrer Landwirtschaft nicht behindert, weil der frühere Bebauungsplan sich in weiten Teilen nicht habe realisieren lassen. In ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit wäre sie ferner deshalb besser geschützt, weil die Erschließungsanlage auf dem südlichen Nachbargrundstück und, damit zusammenhängend, auch die Baufenster nach der alten Planung einen größeren Abstand zu ihrem Weidegrundstück einhielten. Sie beantragt, unter Änderung des Urteils des Normenkontrollgerichts den Bebauungsplan "Leimgrube/neu" für nichtig zu erklären.

Die Antragsgegnerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie verteidigt das Urteil des Normenkontrollgerichts und vertritt die Rechtsauffassung, dass der Vorteil der Antragstellerin, der sich daraus ergebe, dass der frühere Bebauungsplan in weiten Teilen nicht habe realisiert werden können, bei der Bewertung des Rechtsschutzinteresses nicht berücksichtigt werden dürfe.

II.

Die Revision der Antragstellerin, über die der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden darf, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist begründet. Mit der Verneinung des Rechtsschutzinteresses der Antragstellerin für das anhängige Normenkontrollverfahren verletzt das Normenkontrollurteil Bundesrecht. Mangels weiterer tatsächlicher Feststellungen ist dem Revisionsgericht eine abschließende Entscheidung nicht möglich. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Normenkontrollgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Zu Recht hat das Normenkontrollgericht die Antragsbefugnis der Antragstellerin im Normenkontrollverfahren nicht in Zweifel gezogen. Eine Verletzung in ihren Rechten im Sinne von § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann sie schon deshalb geltend machen, weil durch den streitigen Bebauungsplan ein ihr gehörendes Grundstück überplant wird. Darüber hinaus kommt hier auch eine Verletzung des Abwägungsgebots des § 1 Abs. 6 BauGB zum Nachteil der Antragstellerin in Betracht (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 24. September 1998 - BVerwG 4 CN 2.98 - BVerwGE 107, 215), weil durch die Festsetzung eines allgemeinen Wohngebiets für die Nachbargrundstücke die Fortführung der bisher auf ihrem Grundstück ausgeübten landwirtschaftlichen Tätigkeit beeinträchtigt werden kann.

Mit Bundesrecht nicht vereinbar ist dagegen die Annahme des Normenkontrollgerichts, der Antragstellerin fehle das Rechtsschutzinteresse für das Normenkontrollverfahren, weil im Falle der Nichtigkeit des Bebauungsplans "Leimgrube/neu" der frühere Plan "Leimgrube" mit nahezu denselben Festsetzungen im Bereich des Grundstücks der Antragstellerin gelten würde. Zwar trifft es zu, dass bei Nichtigkeit des streitigen Bebauungsplans der frühere Bebauungsplan fortgelten würde, weil nach den Feststellungen des Normenkontrollgerichts Anhaltspunkte dafür fehlen, dass der Aufhebungsbeschluss für den früheren Plan auch Bestand haben soll, wenn der neue Plan unwirksam sein sollte (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil vom 10. August 1990 - BVerwG 4 C 3.90 - BVerwGE 85, 289). Mit seiner Beschränkung auf einen Vergleich der beiden Planfassungen verkennt das Normenkontrollgericht jedoch, dass sich das Rechtsschutzinteresse für ein Normenkontrollverfahren nicht nur aus dem Interesse des Antragstellers an der Erklärung der Nichtigkeit (oder Unwirksamkeit) einer für ihn nachteiligen Bauleitplanung ergibt, sondern dass es auch und vor allem auf dem Interesse an der Verhinderung der Realisierung dieser Bauleitplanung beruht. Nicht der für den Antragsteller nachteilige Bebauungsplan selbst, sondern erst seine im Regelfall zu erwartende Verwirklichung begründet das Rechtsschutzinteresse für die Normenkontrolle. Im vorliegenden Fall konnte der frühere Bebauungsplan in größeren Teilbereichen "auf Grund der gegebenen Grundstücksbesitzverhältnisse" nicht umgesetzt werden; der Grund für die Aufstellung des neuen Plans bestand gerade darin, die Realisierung der Wohngebietsfestsetzung in diesen Bereichen zu ermöglichen oder zumindest zu erleichtern. Der Wunsch der Antragstellerin, dies zu verhindern, reicht zur Begründung ihres Rechtsschutzinteresses für das Normenkontrollverfahren aus.

Das Normenkontrollgericht stellt mit seiner gegenteiligen Ansicht zu hohe Anforderungen an das Vorliegen des Rechtsschutzinteresses. Nach § 47 Abs. 2 VwGO kommt es für die Zulässigkeit des Normenkontrollantrags maßgeblich darauf an, ob der Antragsteller geltend machen kann, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein oder verletzt zu werden. Wird diese Hürde genommen, so ist regelmäßig auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse gegeben. Mit dem Erfordernis des Vorliegens eines allgemeinen Rechtsschutzinteresses neben der Antragsbefugnis soll nur vermieden werden, dass die Gerichte in eine Normprüfung eintreten müssen, deren Ergebnis für den Antragsteller wertlos ist. Zu fragen ist, ob der Antragsteller durch die von ihm angestrebte Nichtigerklärung des Bebauungsplans seine Rechtsstellung verbessern kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. August 1987 - BVerwG 4 N 3.86 - BVerwGE 78, 85 <91>; Beschluss vom 18. Juli 1989 - BVerwG 4 N 3.87 - BVerwGE 82, 225 <231 f.>). Es ist aber nicht erforderlich, dass die begehrte Nichtigerklärung unmittelbar zum eigentlichen Rechtsschutzziel führt. So wird beispielsweise dem Eigentümer eines Grundstücks, dessen Bebaubarkeit durch eine bauleitplanerische Festsetzung ausgeschlossen wird, das Rechtsschutzinteresse für einen Normenkontrollantrag gegen diesen Plan nicht verweigert, wenn das gewünschte Wohnhaus auch bei einem Erfolg des Antrags wegen der dann gegebenen Außenbereichslage unzulässig bleiben würde; für das Rechtsschutzinteresse reicht es aus, dass sich nicht ausschließen lässt, dass die gerichtliche Entscheidung für den Antragsteller von Nutzen sein kann. Zur Bejahung des Rechtsschutzinteresses genügt es, wenn - im Sinne einer tatsächlichen Prognose - zu erwarten ist, dass die Gemeinde einen neuen Bebauungsplan mit möglicherweise für den Antragsteller günstigeren Festsetzungen aufstellen wird (BVerwG, Beschluss vom 17. Dezember 1992 - BVerwG 4 N 2.91 - DVBl 1993, 444 <445>, insoweit in BVerwGE 91, 318 nicht abgedruckt). Unnütz wird das Normenkontrollgericht nur dann in Anspruch genommen, wenn der Antragsteller unabhängig vom Ausgang des Normenkontrollverfahrens keine reale Chance hat, sein eigentliches Ziel zu erreichen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Mai 1993 - BVerwG 4 NB 50.92 - NVwZ 1994, 268).

Nicht nutzlos in diesem Sinne ist auch eine Entscheidung des Normenkontrollgerichts, wenn sie für den Antragsteller lediglich aus tatsächlichen Gründen vorteilhaft ist. Denn auch in diesem Fall werden die Gerichte nicht sinnlos in Anspruch genommen. So ist es auch hier: Selbst wenn sich die planungsrechtliche Situation für die Antragstellerin bei Unwirksamkeit des neuen Bebauungsplans nicht ändern würde, weil dann der frühere Bebauungsplan mit nahezu denselben Festsetzungen wieder aufleben würde, wäre eine die Unwirksamkeit des neuen Bebauungsplans feststellende Entscheidung für die Antragstellerin von praktischem Nutzen, weil sie mit einer Realisierung dieser Planung auf der Grundlage des alten Plans aus tatsächlichen Gründen nicht mehr zu rechnen braucht oder weil eine Realisierung zumindest erst nach Überwindung privatrechtlicher Hindernisse möglich wäre.

Lässt sich demgemäß das Rechtsschutzinteresse für das vorliegende Normenkontrollverfahren schon wegen der unterschiedlichen Realisierungsmöglichkeiten der beiden Pläne nicht verneinen, so kann offen bleiben, ob - wie die Revision meint - das Rechtsschutzinteresse auch deshalb bejaht werden muss, weil die Entfernung zwischen dem Weidegrundstück der Antragstellerin und den Baufenstern auf dem südlichen Nachbargrundstück in dem neuen Bebauungsplan ein wenig geringer ist als im früheren Plan und sie deshalb möglicherweise durch eine Wohnbebauung auf der Grundlage dieses älteren Planes in der Nutzung ihres Weidegrundstücks weniger behindert würde. Gegen ein Rechtsschutzinteresse aus diesem Grund könnte allerdings sprechen, dass nach den - mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen und den Senat deshalb gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden - Ausführungen des Normenkontrollgerichts die planungsrechtliche Situation im Bereich des Grundstücks der Antragstellerin trotz der Verschiebung der Erschließungstraße mit den Baufenstern nahezu unverändert geblieben ist. Dem braucht aber nicht weiter nachgegangen zu werden.

Der Normenkontrollantrag erweist sich somit als zulässig; denn für seine Unzulässigkeit aus anderen Gründen bestehen keine Anhaltspunkte.

Ob der Antrag auch begründet ist, kann der Senat dagegen nicht entscheiden, weil das Normenkontrollgericht hierzu - auf der Grundlage seiner rechtlichen Beurteilung folgerichtig - keine Feststellungen getroffen hat. Die Sache ist deshalb an das Normenkontrollgericht zurückzuverweisen.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 15 300 € (früher: 30 000 DM) festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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