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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 02.11.2000
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 1.00
Rechtsgebiete: BVFG


Vorschriften:

BVFG § 100 Abs. 4
BVFG a.F. § 6
Leitsatz:

Zum Übergangsrecht nach § 100 Abs. 4 BVFG (F. 1993): Günstigkeitsprinzip bei Übernahmegenehmigung.

Urteil des 5. Senats vom 2. November 2000 - BVerwG 5 C 1.00 -

I. VG Wiesbaden vom 16.11.1999 - Az.: VG 1 E 148/96 (V) -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 5 C 1.00 VG 1 E 148/96 (V)

Verkündet am 02. November 2000

Müller Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 19. Oktober 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel und Dr. Franke

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 16. November 1999 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Wiesbaden zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Die Kläger begehren die Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 BVFG, der Kläger zu 1 aus eigenem Recht, die Klägerin zu 2 als dessen Ehefrau. Sie sind mit am 8. Juli 1994 ausgestellten russischen Nationalpässen und im Besitz eines am 6. Januar 1994 erteilten Aufnahmebescheides, aus Orsk/ Orenburg (Russland) kommend, am 27. August 1994 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.

Die Eltern des 1953 geborenen Klägers zu 1 sind 1993 als Vertriebene/Aussiedler anerkannt worden und besitzen seit 1994 die deutsche Staatsangehörigkeit. In seinem russischen Inlandspass und in den russischen Geburtsurkunden seiner Kinder ist die Nationalität des Klägers zu 1 mit "deutsch" angegeben. Bei seinen Angaben zur Volkszugehörigkeit im Rahmen seines Antrags vom 21. September 1994 auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung erklärte der Kläger zu 1, seine Muttersprache sei deutsch, innerhalb der Familie (seiner eigenen Familie und der Familie seiner Eltern) sei deutsch, außerhalb der Familie deutsch und russisch gesprochen worden. Bis zu seinem 18. Lebensjahr habe er bei seinen Eltern in Russland gelebt, diese seien dann nach Kasachstan verzogen, während er in Russland geblieben sei.

Die 1957 geborene Klägerin zu 2 ist russische Volkszugehörige; auch sie hat bei ihrem Antrag auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung am 21. September 1994 angegeben, deutsch und russisch zu sprechen.

Die Beklagte stellte anlässlich der Vorsprache der Kläger fest, dass diese weder deutsch sprachen noch verstanden. Bei einem weiteren Gespräch im November 1994 gab der Kläger zu 1 an, mit seinen Kindern und seiner Ehefrau nur russisch zu sprechen; er selbst verstehe und spreche kein deutsch.

Mit Bescheiden vom 2. und 3. Februar 1995 lehnte die Beklagte die Anträge der Kläger wegen mangelnder deutscher Sprachkenntnisse ab, da die mangelnde Vermittlung der deutschen Sprache in der Familie und die fehlende Pflege deutschen Volkstums Indizwirkung gegen ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum hätten.

Mit ihrer nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobenen Klage machten die Kläger u.a. geltend, die Prägung des Klägers zu 1 bis zu seiner Selbständigkeit sei eindeutig deutsch gewesen, in der Familie hätten Eltern und Großeltern deutsch gesprochen, bis zu seiner Einschulung sei Deutsch die bevorzugte Umgangssprache in der Familie geblieben. Ferner beriefen sich die Kläger darauf, dass schon im Dezember 1958 die Übernahme der Eltern und des Klägers zu 1 selbst genehmigt worden sei, so dass hier wahlweise altes und neues Recht anzuwenden sei; nach der bis zum 31. Dezember 1992 geltenden Rechtslage setze die deutsche Volkszugehörigkeit deutsche Sprachkenntnisse nicht voraus.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen: Der Kläger zu 1 habe keinen Anspruch auf eine Bescheinigung nach § 15 BVFG, weil er kein Spätaussiedler im Sinne von § 4 BVFG sei; er erfülle nicht die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 BVFG in der seit dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung, weil er keine deutschen Sprachkenntnisse besitze. Ob der Kläger zu 1 deutscher Volkszugehöriger sei, sei am Maßstab des § 6 BVFG in der ab dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung zu prüfen; aus § 100 BVFG könne nicht gefolgert werden, dass die Frage der deutschen Volkszugehörigkeit des Klägers zu 1 (noch) nach § 6 BVFG a.F. beurteilt werden könne. Nach neuem Recht genüge es aber nicht, dass deutsches Volkstum und deutsche Sprache lediglich in der Jugendzeit bis zur Selbständigkeit vermittelt worden seien und Deutsch die bevorzugte Umgangssprache gewesen sei; vielmehr komme es grundsätzlich auch auf die Zeit bis zum Verlassen des Aussiedlungsgebietes an. Beim Kläger zu 1 greife die Regelvermutung ein, dass derjenige, der nur unzulängliche Deutschkenntnisse habe und Russisch als Muttersprache und bevorzugte Umgangssprache spreche, dem russischen Kulturkreis und nicht dem deutschen angehöre. Die Klägerin zu 2 habe dementsprechend keinen Anspruch aus § 15 Abs. 2 i.V.m. § 7 Abs. 2 BVFG.

Gegen dieses Urteil richtet sich die von den Klägern mit Einverständnis der Beklagten eingelegte Sprungrevision, mit der sie die Verletzung von § 100 BVFG rügen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Beigeladene beantragt, die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Er unterstützt den Rechtsstandpunkt der Revision zur Frage der Anwendbarkeit alten Rechts.

Auch der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht ist der Ansicht, zur Bestimmung der deutschen Volkszugehörigkeit sei hier gemäß § 100 Abs. 4 BVFG auf § 6 BVFG a.F. zurückzugreifen; für Personen, die wie der Kläger bereits vor dem 1. Juli 1990 eine Übernahmegenehmigung erhalten hätten, bestimme sich der (Spät-)Aussiedlerstatus nach dem Günstigkeitsprinzip wahlweise nach neuem oder nach altem Recht.

II.

Die nach § 134 Abs. 1 Satz 1 VwGO zulässige Revision ist auch begründet. Das angegriffene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts können die Kläger auf der Grundlage von § 100 Abs. 4 BVFG verlangen, dass ihrem Anerkennungsbegehren die bis zum 31. Dezember 1992 geltende Vorschrift des § 6 a.F. BVFG zugrunde gelegt wird. Entsprechendes hat der Senat bereits für den Anwendungsbereich des § 100 Abs. 5 BVFG entschieden (Urteil vom 18. März 1999 - BVerwG 5 C 1.99 -). Für die Vorschrift des § 100 Abs. 4 BVFG kann nichts anderes gelten. Dementsprechend werden eine Übernahmegenehmigung des Bundesverwaltungsamtes, an deren Vorliegen § 100 Abs. 4 BVFG anknüpft, und ein vor dem 1. Januar 1993 erteilter Aufnahmebescheid (dem auf Grund von § 105 c BVFG a.F. die Übernahmegenehmigung gleichsteht) auch durch die Vorläufige Richtlinie zur Durchführung des § 100 BVFG (Nr. 6) gleichgestellt.

Der Kläger zu 1 ist in eine Übernahmegenehmigung im Sinne von § 100 Abs. 4 BVFG (vom 12. Dezember 1958) einbezogen. Dies hat die Vorinstanz in für das Bundesverwaltungsgericht verbindlicher Weise (vgl. § 137 Abs. 2 i.V.m. § 134 Abs. 4 VwGO) festgestellt (s. S. 6 des Urteils des Verwaltungsgerichts). Kann der Kläger zu 1 aber auf Grund des ihm durch § 100 Abs. 4 BVFG eröffneten Wahlrechts verlangen, dass die Beurteilung, ob er deutscher Volkszugehöriger ist und damit über § 100 Abs. 4 BVFG den Status eines Spätaussiedlers erworben hat, nach den für ihn günstigeren materiellen Kriterien des alten Rechts vorgenommen wird ("Günstigkeitsprinzip"), hängt sein Anspruch auf Erteilung einer Bescheinigung nach § 15 BVFG gemäß § 6 BVFG a.F. davon ab, ob er sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat und ob dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. Hierzu hat die Vorinstanz - aus ihrer rechtlichen Sicht konsequenterweise - keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Es kann auch nicht auf der Grundlage des bereits festgestellten Sachverhalts davon ausgegangen werden, dass der Kläger zu 1 alle für ihn als Spätgeborenen geltenden Anforderungen an die Feststellung deutscher Volkszugehörigkeit (s. dazu BVerwGE 98, 367 <369 f.>) erfüllt. Zur Vornahme diesbezüglicher Ermittlungen ist die Sache daher an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 16 000 DM festgesetzt.



Ende der Entscheidung

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