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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 07.07.2005
Aktenzeichen: BVerwG 5 C 9.04
Rechtsgebiete: SGB I, SGB VIII


Vorschriften:

SGB I § 30 Abs. 3 Satz 2
SGB VIII § 86 Abs. 1
SGB VIII § 86 Abs. 7
SGB VIII § 86d
SGB VIII § 89c
1. Die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I bzw. § 86 Abs. 1 SGB VIII setzt eine tatsächliche Aufenthaltsnahme voraus (wie BVerwG, Urteil vom 26. September 2002 - BVerwG 5 C 46.01 - <Buchholz 436.511 § 86 KJHG/SGB VIII Nr. 1>).

2. Die Zuständigkeit für Jugendhilfeleistungen richtet sich auch dann nach § 86 Abs. 7 SGB VIII in seiner ab dem 1. Juli 1998 geltenden Fassung, wenn der Asylantrag bereits vor dem 1. Juli 1998 gestellt war und Jugendhilfe auch schon vor dem 1. Juli 1998 geleistet worden ist.


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 5 C 9.04

Verkündet am 7. Juli 2005

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke und Prof. Dr. Berlit

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. Januar 2004 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 9. November 2001 werden aufgehoben, soweit sie der Klägerin einen Erstattungsanspruch dem Grunde nach für Jugendhilfeleistungen in der Zeit vom 1. Juli 1998 bis zum 10. Oktober 2001 zusprechen. Insoweit wird die Klage abgewiesen.

Im Übrigen wird die Revision des Beklagten zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt 3/5, der Beklagte 2/5 der Kosten des Verfahrens.

Gründe:

I.

Die Klägerin, die Stadt M., eine örtliche Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe, begehrt vom Beklagten, dem Landkreis Sch., ebenfalls ein örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die Erstattung von Jugendhilfeleistungen, die sie in der Zeit vom 26. Juni 1996 bis zum 10. Oktober 2001 in Höhe von rund 349 000 DM für die Heimerziehung des Kindes S. erbracht hat.

S. wurde am 6. September 1995 im Bereich des Beklagten geboren. Ihre im Januar 1979 im ehemaligen Jugoslawien geborene Mutter war 1992 mit Eltern und Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wo sie Asyl beantragten und der Stadt C. zugewiesen wurden. Das Asylverfahren blieb erfolglos (rechtskräftig seit 7. Februar 1996). Die Mutter von S. hielt sich schon vor deren Geburt nicht bei ihrer elterlichen Familie in C., sondern bei ihrem Partner, dem Vater von S., auf, der ebenfalls aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt, erfolglos Asyl beantragt hatte, im Bereich des Beklagten in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnte und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhielt. Die Stadt C. erteilte der Mutter und ihrem Kind S. am 9. April 1996 eine Duldung, die jeweils verlängert wurde, mit der Auflage, Wohnsitz in C. zu nehmen. Die Mutter blieb bei ihrem Partner, der am 17. September 1996 die Vaterschaft anerkannte. Am 4. Juli 1997 heirateten die Eltern von S. Am 23. April 1998 stimmte der Beklagte und am 7. Mai 1998 die Stadt C. der Umverteilung von Mutter und Kind an den Wohnort des Vaters zu.

Wegen eines angeborenen schweren Herzfehlers wurde S. nach der Geburt in einer Spezialklinik operiert und danach in der Kinderklinik im Bereich der Klägerin weiter behandelt. Als im Frühjahr 1996 die Entlassung anstand, sprach sich das Jugendamt des Beklagten gegen eine Aufnahme des Kindes in die Unterkunft der Eltern aus, da dort eine der schweren Krankheit angemessene Versorgung nicht gewährleistet sei. Da die Eltern darauf bestanden, das Kind bei sich aufzunehmen, bestellte das Vormundschaftsgericht durch Beschluss vom 25. Mai 1996 das Jugendamt der Klägerin vorläufig zum Vormund des Kindes. Das Jugendamt bestimmte, dass das Kind ab Entlassung aus der Klinik am 26. Juni 1996 in das Kinderhaus F. in R., Kreis M.-L., aufzunehmen sei. Dem Kinderhaus erteilte die Klägerin eine Kostenzusage. Seitdem wurde S. dort auf Kosten der Klägerin betreut. Nach dem Hilfeplan der Klägerin vom 19. Dezember 1996 wurde die Hilfe ab Beginn als solche nach § 34 SGB VIII (Heimerziehung) bezeichnet. Während der streitgegenständlichen Zeit wurde der Hilfeplan regelmäßig fortgeschrieben. Durch Beschluss des Landgerichts vom 19. Januar 1998 wurde die Klägerin aus der Vormundschaft entlassen und das Jugendamt des Kreises M.-L. zum Vormund bestellt. Dieses stellte am 1. April 1998 einen Asylantrag für S., der durch bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 20. Juli 1998 abgelehnt wurde.

Alsbald nach Einsetzen der Jugendhilfe wandte sich die Klägerin an den Beklagten und die Stadt C. und beantragte Erstattung der Kosten. Der Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Mutter habe keinen gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Bereich, da sie der Stadt C. zugewiesen sei. Diese meinte dagegen, dass die Mutter nicht nur ihren tatsächlichen, sondern auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Beklagten bei ihrem Partner, dem Vater von S., begründet habe. Auch der überörtliche Träger der Jugendhilfe lehnte eine Kostenerstattung ab.

Der Klage der Klägerin gegen den Beklagten - die Klagen gegen die Stadt C. und gegen den überörtlichen Träger sind ausgesetzt - auf Erstattung der in der Zeit vom 26. Juni 1996 bis zum 10. Oktober 2001 aufgewendeten Jugendhilfekosten in Höhe von 348 837,07 DM hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 9. November 2001 dem Grunde nach stattgegeben. Die Berufung hiergegen hat das Oberverwaltungsgericht mit im Wesentlichen folgender Begründung zurückgewiesen:

Die Kostenerstattungspflicht des Beklagten ergebe sich aus § 89c Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 86 Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 86d SGB VIII. Die Klägerin, in deren Bereich sich das Kind tatsächlich aufgehalten habe, sei nach § 86d SGB VIII verpflichtet gewesen, vorläufig tätig zu werden, da kein anderer Jugendhilfeträger dazu bereit gewesen sei. Örtlich zuständig sei aber nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, nach der Vaterschaftsanerkennung nach Satz 1 dieser Vorschrift, der Beklagte gewesen, da in seinem Bereich die Mutter und der Vater von S. ihren gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hätten. Die Mutter habe sich schon vor der Geburt ihres Kindes bei ihrem Partner aufgehalten. Die Wohnsitzauflage für Mutter und Kind in der Duldung der Stadt C. vom 9. April 1996 habe der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I durch die Mutter im Bereich des Beklagten nicht entgegengestanden. Die Auflage habe faktisch keine Bedeutung gehabt, weil keine Ausländerbehörde sie durchgesetzt habe (und hinsichtlich des Kindes auch nicht hätte durchsetzen können, ohne dessen Leben akut zu gefährden). Ihrer Durchsetzung habe auch der die Familie schützende Art. 6 GG entgegengestanden, da die Mutter mit dem Vater des gemeinsamen Kindes habe zusammenleben wollen und sie bestrebt gewesen seien, das Kind bei sich aufzunehmen. Also schon lange vor der - formalen - Umverteilung im April/Mai 1998, nämlich vor Beginn der Jugendhilfemaßnahme am 26. Juni 1996, habe die Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Beklagten gehabt. An der örtlichen Zuständigkeit des Beklagten und damit an seiner Kostenerstattungspflicht habe sich durch die Einleitung des Asylverfahrens für S. durch den Antrag des Amtsvormundes am 1. April 1998 und auch durch die Neufassung des § 86 Abs. 7 SGB VIII durch Gesetz vom 29. Mai 1998 (BGBl I S. 1188) mit Wirkung vom 1. Juli 1998 nichts geändert. Mit der Neufassung habe der Gesetzgeber nur solche Fälle erfassen wollen, die ab Inkrafttreten der Änderung neu aufgetreten seien, nicht aber habe er in bestehende und anders geregelte Leistungsfälle ändernd eingreifen wollen. Gegen eine Anwendung des § 86 Abs. 7 SGB VIII n.F. auf "Altfälle" spreche, dass nach Satz 1 Halbsatz 1 der örtliche Träger als zuständig bestimmt werde, in dessen Bereich sich die Person vor Beginn der Leistung tatsächlich "aufhält". Aber selbst wenn § 86 Abs. 7 SGB VIII n.F. auch auf "Altfälle" anzuwenden wäre, wäre die Klägerin für die Leistung nicht zuständig gewesen, weil sich das Kind S. vor Beginn der Leistung nicht im Sinne dieser Vorschrift tatsächlich im Bereich der Klägerin aufgehalten habe. Dessen tatsächlicher Aufenthalt im Sinne dieser Vorschrift sei vielmehr weiter bei seiner Mutter im Bereich des Beklagten gewesen.

Mit seiner Revision begehrt der Beklagte, die Klage auf Erstattung abzuweisen. Nicht er, sondern die Stadt C. sei kostenerstattungspflichtig.

Die Klägerin verteidigt das Berufungsurteil.

II.

1. Die Revision des Beklagten ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO), soweit sie sich gegen seine Verpflichtung zur Kostenerstattung dem Grunde nach für die von der Klägerin in Bezug auf das Kind S. in der Zeit vom 26. Juni 1996 bis zum 30. Juni 1998 erbrachten Jugendhilfeleistungen richtet. Denn insoweit entspricht das Berufungsurteil Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, ist Rechtsgrundlage für diesen Erstattungsanspruch § 89c Abs. 1 Satz 2 i.V.m. §§ 86d, 86 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB VIII. Nach § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86d SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach den §§ 86, 86a und 86b SGB VIII begründet wird. Die Klägerin war nach § 86d SGB VIII zum vorläufigen Tätigwerden verpflichtet. Denn zum einen hat sich das Kind S. vor Beginn der Jugendhilfeleistung in der Kinderklinik und damit im Bereich der Klägerin tatsächlich aufgehalten (1.1) und zum anderen ist der zuständige örtliche Träger, der Beklagte (1.2), nicht tätig geworden.

1.1 Die Jugendhilfeleistung für S. setzte am 26. Juni 1996 ein. An diesem Tage wurde S. aus der Kinderklinik entlassen und in das Kinderhaus F. in R., Kreis M.-L., aufgenommen. Zu Recht hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass für eine Inobhutnahme des Kindes kein Anlass bestand. Vielmehr hatte das Jugendamt der Klägerin als damals bestellter Vormund für S. im Rahmen seiner Personensorge für die Zeit nach der Entlassung des Kindes aus der Klinik vorgesorgt und bestimmt, dass S. in das Kinderhaus F. aufzunehmen sei. Da das Jugendamt der Klägerin als Vormund das Kind nicht selbst pflegen, erziehen und beaufsichtigen konnte, war damals, und zwar zukunftsoffen, eine Unterbringung der S. in einem Heim erforderlich. Hierfür war Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB VIII zu gewähren. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts verstand die Klägerin nach Erstellung eines Hilfeplans ihre Hilfe rückwirkend ab 26. Juni 1996 als Hilfe nach § 34 SGB VIII (Heimerziehung).

1.2 In der Zeit bis zum 30. Juni 1998 war der Beklagte der zuständige örtliche Träger für die Hilfe zur Heimerziehung.

1.2.1 Für die Zeit vom 26. Juni 1996 bis zum 16. September 1996 ergibt sich die örtliche Zuständigkeit des Beklagten aus § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII. Danach ist, wenn und solange die Vaterschaft nicht anerkannt oder gerichtlich festgestellt ist, für Jugendhilfeleistungen der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Da die Vaterschaft am 17. September 1996 anerkannt worden ist, richtet sich die örtliche Zuständigkeit für die Hilfeleistung bis zum 16. September 1996 allein nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter von S.

Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, zu dem sich für den hier zu beurteilenden Fall aus dem Achten Buch Sozialgesetzbuch Abweichendes nicht ergibt (§ 37 Satz 1 SGB I), hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Begründung eines "gewöhnlichen Aufenthalts" ist ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich; es genügt vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet "bis auf Weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (BVerwG, Urteile vom 26. September 2002 - BVerwG 5 C 46.01 - <Buchholz 436.511 § 86 KJHG/SGB VIII Nr. 1> und 18. März 1999 - BVerwG 5 C 11.98 - <Buchholz 436.0 § 107 BSHG Nr. 1>).

Hiervon ausgehend haben die Vorinstanzen übereinstimmend und zutreffend dahin erkannt, dass die Mutter von S. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in H. im Gebiet des Beklagten hatte. Nach den tatsächlichen Feststellungen auch des Oberverwaltungsgerichts war die Mutter zwar nach der Einreise im Jahre 1992 der Stadt C. in Niedersachsen zugewiesen worden, hielt sich aber schon vor der Geburt ihres Kindes tatsächlich nicht in C., sondern bei ihrem Partner, dem Vater von S., in H. auf. Auch als die Mutter nach erfolglosem Asylverfahren von der Stadt C. für sich und ihr Kind im April 1996 eine Duldung mit der Auflage, Wohnsitz in C. zu nehmen, erhalten hatte sowie nach den jeweiligen Verlängerungen dieser Duldung, lebte sie weiterhin bei ihrem Partner in H.

Durch die Auflage (allein), Wohnsitz in C. zu nehmen, wurde für die Mutter dort kein gewöhnlicher Aufenthalt begründet, weil sie dort nicht tatsächlich Aufenthalt genommen hat. Denn der tatsächliche Aufenthalt ist zwar nicht hinreichende, aber notwendige Bedingung für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts (BVerwG, Urteil vom 26. September 2002, a.a.O.). Eine Regelung, die, wie § 10a Abs. 3 Satz 4 AsylbLG für das Asylbewerberleistungsrecht, im Falle der Verteilung oder Zuweisung einer Person (nach § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG) den Bereich, in den verteilt oder zugewiesen worden ist, unabhängig von einem tatsächlichen Aufenthalt dort als gewöhnlichen Aufenthalt bestimmt, gibt es im Jugendhilferecht nicht. Während § 10a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG - dem § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I entsprechend - als gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Asylbewerberleistungsgesetzes allgemein den Ort bezeichnet, an dem sich jemand unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt, enthält § 10a Abs. 3 Satz 4 AsylbLG eine Sonderregelung im Bereich des Asylbewerberleistungsrechts für den Fall der Verteilung oder Zuweisung einer Person nach § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG. Da diese Sonderregelung allein für den Bereich des Asylbewerberleistungsrechts getroffen worden ist, lässt sie sich zum einen nicht auf das Jugendhilferecht übertragen und ist zum anderen der Gegenschluss gerechtfertigt, dass ausgehend von § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I im Jugendhilferecht ein gewöhnlicher Aufenthalt ohne tatsächlichen Aufenthalt nicht begründet werden kann.

Zu Recht haben die Vorinstanzen im vorliegenden Streitfall entschieden, dass die Auflage in der Duldung, Wohnsitz in C. zu nehmen, der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts durch die Mutter in H. im Bereich des Beklagten nicht entgegenstand. Dazu haben sie im Tatsächlichen festgestellt, dass die Wohnsitzauflage faktisch keine Bedeutung erlangt habe, weil die Behörden sie nicht durchgesetzt, sondern hingenommen hätten, dass sich die Mutter bei ihrem Partner und späteren Ehemann, dem Vater ihres Kindes, in H. aufgehalten habe. Damit war es der Mutter von S. schon vor ihrer förmlichen Umverteilung an den Wohnort ihres (seit 4. Juli 1997) Ehemannes im Mai 1998 möglich, sich in H. "bis auf Weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufzuhalten und dort den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen zu haben, wobei es auf die ausländerrechtliche Rechtmäßigkeit dieses Aufenthalts nicht ankommt.

1.2.2 Für die Zeit ab dem 17. September 1996 (Anerkennung der Vaterschaft) ergibt sich die örtliche Zuständigkeit des Beklagten aus § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wonach für die Gewährung von Jugendhilfeleistungen, hier für die Hilfe zur Heimerziehung nach § 34 SGB VIII, der örtliche Träger zuständig ist, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Wie bereits ausgeführt, war der gewöhnliche Aufenthalt nicht nur des Vaters, sondern auch der Mutter von S. in H. im Gebiet des Beklagten.

1.2.3 An dieser Zuständigkeit hat sich durch den Asylantrag der S. vom 1. April 1998 bis zum 30. Juni 1998 nichts geändert. Denn nach § 86 Abs. 7 SGB VIII in seiner für diese Zeit maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 15. März 1996 (BGBl I S. 477) richtete sich für Leistungen an Asylsuchende die örtliche Zuständigkeit nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde und war bis zur Zuweisung der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich der Asylsuchende vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhielt. Diese Zuständigkeit für Leistungen an Asylsuchende galt nur für die Zeit "bis zur Zuweisung" und die Zeit "nach der Zuweisungsentscheidung", also nur für Asylsuchende, die dem Verteilungsverfahren nach §§ 44 ff. AsylVfG unterlagen. Dazu gehörte die damals zweieinhalb Jahre alte S. nach den Feststellungen der Vorinstanzen nicht.

2. Die Revision des Beklagten ist begründet, soweit sie sich gegen dessen Verpflichtung zur Kostenerstattung dem Grunde nach für die von der Klägerin in Bezug auf das Kind S. in der Zeit vom 1. Juli 1998 bis zum 10. Oktober 2001 erbrachten Jugendhilfeleistungen richtet. Insoweit ist die Klage abzuweisen.

Für diese Zeit steht der Klägerin kein Anspruch auf Kostenerstattung zu, weil sie für die in dieser Zeit erbrachte Jugendhilfe selbst zuständig war. Denn durch Gesetz vom 29. Mai 1998 (BGBl I S. 1188) ist § 86 Abs. 7 SGB VIII mit Wirkung vom 1. Juli 1998 wie folgt neu gefasst worden:

Für Leistungen an Kinder oder Jugendliche, die um Asyl nachsuchen oder einen Asylantrag gestellt haben, ist der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich die Person vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält; geht der Leistungsgewährung eine Inobhutnahme voraus, so bleibt die nach § 87 begründete Zuständigkeit bestehen. Unterliegt die Person einem Verteilungsverfahren, so richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde; bis zur Zuweisungsentscheidung gilt Satz 1 entsprechend. Die nach Satz 1 oder 2 begründete örtliche Zuständigkeit bleibt auch nach Abschluss des Asylverfahrens so lange bestehen, bis die für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit maßgebliche Person einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich eines anderen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe begründet. Eine Unterbrechung der Leistung von bis zu drei Monaten bleibt außer Betracht.

2.1 Entgegen dem Berufungsgericht kann die Neufassung nicht dahin verstanden werden, dass sie nur solche Leistungsfälle erfasse, die insgesamt erst ab Inkrafttreten der Gesetzesänderung neu aufgetreten sind. Das Gesetz bestimmt ausdrücklich, dass die Neufassung mit dem 1. Juli 1998 in Kraft tritt und damit die Zuständigkeit bestimmend wirksam wird. Deshalb richtet sich die Zuständigkeit für Jugendhilfeleistungen ab 1. Juli 1998 auch in den Fällen nach § 86 Abs. 7 SGB VIII n.F., in denen der Asylantrag bereits vor dem 1. Juli 1998 gestellt war und Jugendhilfe auch schon vor dem 1. Juli 1998 geleistet worden ist. Eine Übergangsregelung dahin, dass § 86 Abs. 7 SGB VIII a.F. für Altfälle weitergelte, hat der Gesetzgeber nicht getroffen.

2.2 § 86 Abs. 7 SGB VIII n.F., der die Zuständigkeit für Leistungen "an" Kinder oder Jugendliche regelt, erfasst nicht nur Leistungen, die dem Kind oder Jugendlichen selbst zustehen, sondern auch die Jugendhilfeleistungen, für die, wie für die Hilfe zur Erziehung, zwar der Personensorgeberechtigte anspruchsberechtigt ist, die aber, wie die Hilfe zur Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen, bezogen auf ein Kind oder einen Jugendlichen erbracht werden (vgl. Kunkel, LPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2003, § 86 Rn. 58; Wiesner, SGB VIII, 2. Aufl. 2000, § 86 Rn. 44; Jans/Happe/Saurbier, Kinder- und Jugendhilferecht, 3. Aufl., Stand 1998, § 86 Rn. 81 - 83).

2.3 Nach § 86 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII n.F. ist der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich die Person vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält. Dabei bezeichnet der Begriff "vor Beginn der Leistung" im Rahmen der jugendhilferechtlichen Zuständigkeitsregelungen nicht die Zeit vor der konkreten Jugendhilfeleistung, für die die Zuständigkeit zu klären ist, hier die Zeit vor dem 1. Juli 1998, sondern die Zeit vor Beginn der - nicht für längere Zeit unterbrochenen - Jugendhilfeleistung insgesamt (vgl. BVerwGE 120, 116 zum Begriff "vor Beginn der Leistung" in § 86 Abs. 2 und 4 SGB VIII), hier also die Zeit vor der am 26. Juni 1996 begonnenen Hilfe zur Erziehung. Vor dem 26. Juni 1996 hat sich S. in der Kinderklinik im Gebiet der Klägerin tatsächlich aufgehalten. Der Einschätzung des Berufungsgerichts, das Kind S. habe sich "jedenfalls am Tag seiner Geburt bei seiner Mutter im Bereich des Beklagten aufgehalten" und deshalb sei "sein tatsächlicher Aufenthalt ... weiter (also auch vor dem 26. Juni 1996) bei seiner Mutter im Bereich des Beklagten gewesen", kann nicht gefolgt werden. Denn S. hielt sich bereits kurze Zeit nach ihrer Geburt nicht mehr bei ihrer Mutter auf und lebte vor ihrer Aufnahme in das Kinderhaus F. ein dreiviertel Jahr in Kliniken, wobei bereits einige Zeit vor ihrem Wechsel in das Kinderhaus F. feststand, dass sie nicht zu ihrer Mutter werde entlassen werden können.

2.4 Die nach § 86 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII n.F. begründete Zuständigkeit der Klägerin blieb nach § 86 Abs. 7 Satz 3 SGB VIII n.F. auch nach Abschluss des Asylverfahrens bestehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf einen Streitwert bis 185 000 € festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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