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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 11.03.1998
Aktenzeichen: BVerwG 6 C 3.98
Rechtsgebiete: WPflG, EV, VwRehaG, VwVfG


Vorschriften:

WPflG § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 a
WPflG § 8 a Abs. 2 Satz 2
WPflG § 16 Abs. 2 Satz 1
WPflG § 21
EV Art. 19
VwRehaG § 15
VwVfG § 44
Leitsätze:

1. Die Heranziehung zum Grundwehrdienst bis zur Vollendung des 28. Lebensjahrs wegen vorheriger Zurückstellung setzt voraus, daß bis zur Vollendung des 25. Lebensjahrs eine wirksame und vollziehbare Musterungsentscheidung bestanden hat.

2. Musterungsentscheidungen der Wehrbehörden der ehemaligen DDR, die gem. Art. 19 des Einigungsvertrags bestandskräftig geworden sind, können ggf. nach einer erneuten Überprüfungsuntersuchung Grundlage einer Einberufung zum Grundwehrdienst sein.

3. Zur Wirksamkeit einer Musterungsentscheidung, die in der ehemaligen DDR im Interesse eines Leistungssportlers in dessen Abwesenheit allein aufgrund der vorliegenden sportärztlichen Unterlagen ergangen ist.

Urteil des 6. Senats vom 11. März 1998 - BVerwG 6 C 3.98 -

VG Gießen vom 25.02.1997 - Az.: VG 4 E 1538/95 (3) -


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 6 C 3.98 VG 4 E 1538/95 (3)

Verkündet am 11. März 1998

Cremer Justizhauptsekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 11. März 1998 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Niehues, die Richter Dr. Seibert und Albers, die Richterin Eckertz-Höfer und den Richter Büge

für Recht erkannt:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 25. Februar 1997 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich gegen eine Entscheidung der Wehrverwaltung, daß er nach wiederholter Zurückstellung für die Ableistung des Wehrdienstes über das 25. Lebensjahr hinaus zur Verfügung steht.

Der 1970 geborene Kläger wurde erstmals 1991 durch einen später zurückgenommenen Einberufungsbescheid einberufen. Hiergegen machte er seinerzeit geltend, er sei in der ehemaligen DDR nicht nur gemustert, sondern auch für die Dauer des Studiums zurückgestellt worden.

Im Oktober 1992 teilte er dem zuständigen Kreiswehrersatzamt mit, er studiere bereits im 5. Semester; von einer Einberufung sei daher abzusehen. Ihm wurde ein Zurückstellungsantrag übersandt. Das Formular gelangte aber nicht wieder zu den Akten. Jedoch finden sich dort ein vom Kläger ausgefüllter Fragebogen zur beruflichen Ausbildung und zu deren voraussichtlicher Dauer sowie eine Studienbescheinigung.

Das Kreiswehrersatzamt M. hat den Kläger daraufhin bis Ende März 1995 vom Wehrdienst zurückgestellt. Später, mit Schreiben vom 28. Oktober 1994, teilte der Kläger mit, er hoffe, sein Studium zum Frühjahr 1996 abschließen zu können, und bat, dies angemessen zu berücksichtigen. Das Kreiswehrersatzamt wertete auch dieses Schreiben als Zurückstellungsantrag. Entsprechend der beigefügten Studienbescheinigung stellte es ihn nunmehr bis Ende September 1995 zurück.

Im Juli 1995 legte der Kläger eine bis Ende März 1996 gültige Studienbescheinigung vor. Auch dieses Schreiben wertete das Kreiswehrersatzamt M. als Zurückstellungsantrag und stellte den Kläger mit Bescheid vom 18. Juli 1995 bis zum 31. März 1996 zurück; gleichzeitig entschied es, daß er gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 a WPflG für das Ableisten des Grundwehrdienstes über das 25. Lebensjahr hinaus zur Verfügung stehe.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er machte geltend, daß er keinen Zurückstellungsantrag gestellt habe. Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid der Wehrbereichsverwaltung IV vom 26. September 1995 zurückgewiesen.

Der Kläger hat Klage erhoben und beantragt, den Bescheid des Kreiswehrersatzamtes M. vom 18. Juli 1995 und den Widerspruchsbescheid der Wehrbereichsverwaltung TV vom 26. September 1995 aufzuheben. Er hat sich nunmehr auch darauf berufen, daß er noch nicht gemustert, insbesondere nicht zur Feststellung der Tauglichkeit für die Nationale Volksarmee (NVA) musterungsärztlich untersucht worden sei. In der DDR sei er lediglich im Rahmen der Sportförderung ärztlich untersucht worden. Die Wehrstammkarte sei 1988 wohl nur "pro forma" für ihn angelegt worden. In Wahrheit habe er weiterhin Leistungssport im Verein betreiben sollen. Dies sei bei begabten Sportlern üblich gewesen.

Der Darstellung zur Wehrerfassung von Leistungssportlern in der DDR hat die Beklagte widersprochen. Sie hat dargelegt, daß nach Art. 19 EV Musterungsentscheidungen, die gemäß den Richtlinien der NVA getroffen worden seien, Bestandskraft hätten. Für die Feststellung des Tauglichkeitsgrades und des Musterungsdatums sei die grüne Wehrstammkarte maßgeblich. Für den Kläger sei dort als Musterungsdatum der 24. März 1988 eingetragen und unter anderem vermerkt, daß unter diesem Datum ein Wehrdienstausweis ausgegeben worden sei.

Durch Urteil vom 25. Februar 1997 hat das Verwaltungsgericht Gießen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die mit dem angefochtenen Bescheid gewährte Zurückstellung sei rechtlich nicht zu beanstanden. Zwar habe der Kläger keinen formularmäßigen Antrag gestellt. Mit seinen diversen Schreiben und den vorgelegten Studienbescheinigungen habe er jedoch unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß er den Grundwehrdienst während der Dauer seines Studiums nicht ableisten wolle. Den darin liegenden Zurückstellungsanträgen habe die Beklagte zu Recht stattgegeben.

Die Entscheidung, daß der Kläger für die Ableistung des Grundwehrdienstes über sein 25. Lebensjahr hinaus zur Verfügung stehe, sei nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 a WPflG ebenfalls gerechtfertigt. Allein die gleichzeitig und bis zum 31. März 1996 erfolgte Zurückstellung sei ursächlich dafür, daß eine Einberufung während des Zeitraums bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nicht habe erfolgen können. Insbesondere habe einer zeitgerechten Einberufung nicht das behauptete Fehlen einer Musterung entgegengestanden. Unstreitig sei der Kläger von den früheren DDR-Behörden wehrrechtlich erfaßt und ihm ein Wehrdienstausweis ausgehändigt worden. Der Eintragung über die Musterung in die Wehrstammkarte vom 24. März 1988 habe eine Verwaltungsentscheidung zugrunde gelegen, daß der Kläger gemustert und für tauglich befunden worden sei. Dies habe man ihm auch mit der Aushändigung des Ausweises unmittelbar nach dem in seiner Abwesenheit durchgeführten Musterungstermin kundgetan. Der Verwaltungsakt sei später bestandskräftig geworden, und seine Bestandskraft wirke gemäß Art. 19 EV fort. Das Gesetz zum Einigungsvertrag widerspreche nicht etwa deshalb Art. 79 Abs. 3, Art. 20 GG, weil Art. 19 EV vorsehe, daß auch Entscheidungen, die nach den Vorschriften der DDR gerichtlich nicht überprüfbar gewesen seien, weitergelten. Nach dem Einigungsvertrag bestehe nämlich die Möglichkeit, Entscheidungen, die wirksam blieben, zumindest daraufhin zu überprüfen, ob sie rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprächen (Art. 19 Satz 2 EV). Derartiges lasse sich hier aber nicht annehmen. Zwar sei die Musterungsentscheidung nach dem Recht der DDR rechtswidrig gewesen. Daß der Kläger ohne Untersuchung durch zuständige Ärzte für tauglich befunden worden sei, begründe aber keinen Mangel, der so schwer und offenkundig sei, daß er zur Nichtigkeit führe (Art. 19 Satz 3 EV i.V.m. § 44 VwVfG). Diese Verfahrensweise sei nämlich vom Kläger selbst bzw. ihm zurechenbar veranlaßt worden. Nach seinen eigenen Angaben habe er seinerzeit - wegen eines zu diesem Zeitpunkt angesetzten Sichtungsspiels seiner Fußballmannschaft - ein erhebliches Interesse daran gehabt, zum Musterungstermin nicht erscheinen zu müssen. Auch sei sein exzellenter Gesundheitszustand der Musterungskommission aufgrund der ihr vorliegenden ärztlichen Unterlagen des Mannschaftsarztes bekannt gewesen (S. 11, 13 d.U.). Dementsprechend habe man eine uneingeschränkte Tauglichkeit angenommen. Auch bei der Nachuntersuchung im Juni 1990 habe der Kläger bestätigt, daß sich an dem 1988 festgestellten Gesundheitszustand nichts geändert habe.

Hiergegen richtet sich die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Auslegungsfragen zu Art. 19 EV zugelassene Revision. Mit ihr rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung des Art. 19 EV, insbesondere des Satzes 3 dieser Regelung. Er beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 25. Februar 1997 abzuändern und den Bescheid des Kreiswehrersatzamtes M. vom 18. Juli 1995 sowie den Widerspruchsbescheid der Wehrbereichsverwaltung IV vom 26. September 1995 aufzuheben, soweit darin entschieden wurde, daß der Kläger für das Ableisten des Grundwehrdienstes über das 25. Lebensjahr hinaus zur Verfügung steht.

Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor: Entgegen den Feststellungen des Verwaltungsgerichts gebe es keinen vollziehbaren Musterungsbescheid. Auch habe eine Musterung, die den damaligen Anforderungen an das formalisierte Verfahren (§§ 7 bis 9 Wehrdienstgesetz/DDR i.V.m. §§ 3 bis 12 Einberufungsordnung/DDR) entsprochen und nach einer umfassenden musterungsärztlichen Untersuchung mit einer Tauglichkeitsfeststellung abgeschlossen hätte, nicht stattgefunden. Das Anlegen einer grünen Wehrstammkarte habe die Musterung nicht ersetzen können. Auch die Aushändigung des Wehrdienstausweises rechtfertige keine anderen Schlüsse. Gemäß § 10 Wehrdienstgesetz/DDR hätten die Wehrpflichtigen "bei der Musterung oder zu einem anderen von den Wehrkreiskommandos festzulegenden Zeitpunkt" Wehrdienstausweise erhalten. Demnach sei mit der Aushändigung des Ausweises nicht in jedem Falle eine zuvor durchgeführte Musterung dokumentiert worden. Es sei also möglich gewesen, daß der Dienstausweis "aus anderen Gründen" erstellt und ausgehändigt worden sei. Damit habe weder eine Verwaltungsentscheidung überhaupt noch eine solche, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar wäre und erst recht keine im Sinne von Art. 19 Satz 3 EV der Bestandskraft fähige Verwaltungsentscheidung vorgelegen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Sie meint, die Frage nach der Nichtigkeit der Musterungsentscheidung beantworte sich keineswegs nach § 44 VwVfG, Ausschlaggebend sei vielmehr die in der DDR tatsächlich gehandhabte Rechts- und Staatspraxis. Dieser aber habe es entsprochen, auch Musterungsentscheidungen als wirksam zu betrachten, in denen aus besonderen Gründen auf die persönliche Anwesenheit im Musterungstermin verzichtet worden sei. Davon, daß das Verfahren mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar gewesen sei, könne keine Rede sein. Dem Kläger habe die Möglichkeit offengestanden, gegen das Ergebnis der Musterung Beschwerde einzulegen; die Verfahrensweise habe außerdem seinen Interessen Rechnung tragen sollen. Gründe, die gegen seine Tauglichkeit sprächen, habe der Kläger niemals geltend gemacht.

Der Oberbundesanwalt beteiligt sich am Verfahren. Auch er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II.

Die Revision ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Der Kläger steht für das Ableisten des Grundwehrdienstes über das 25. Lebensjahr hinaus zur Verfügung.

1. Soweit das Kreiswehrersatzamt M. durch den Bescheid vom 18. Juli 1995 den Kläger bis zum 31. März 1996 zurückgestellt hat, wendet sich die Revision gegen diesen selbständigen Teil der Verfügung nicht mehr. Dieser ist daher nicht mehr Gegenstand des Revisionsverfahrens. Die Klage ist insoweit rechtskräftig abgewiesen mit der Folge, daß der Bescheid mit diesem Teil Bestandskraft erlangt hat.

2. Rechtsgrundlage für die Entscheidung, daß der Kläger für das Ableisten des Grundwehrdienstes über das 25. Lebensjahr hinaus zur Verfügung steht, ist § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 a WPflG. Danach leisten Grundwehrdienst Wehrpflichtige, die zu dem für den Dienstbeginn festgesetzten Zeitpunkt das 28. Lebensjahr noch nicht überschritten haben, wenn sie wegen einer Zurückstellung nach § 12 WPflG nicht vor Vollendung des 25. Lebensjahres zum Grundwehrdienst herangezogen werden konnten und der Zurückstellungsgrund entfallen ist. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, daß diese Voraussetzungen erfüllt sind, weil die mit dem angefochtenen Bescheid gleichzeitig erfolgte Zurückstellung allein ursächlich dafür war, daß eine Einberufung während des Zeitraums bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nicht erfolgen konnte.

a) Das Verwaltungsgericht hat sich nicht ausdrücklich dazu geäußert, ob sich aus § 21 WPflG, wonach Wehrpflichtige "in Ausführung des Musterungsbescheides" zum Wehrdienst einberufen werden, dann ein Hindernis für die Anwendung des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 a WPflG ergeben würde, wenn der Kläger bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Vollendung seines 25. Lebensjahres nicht einmal gemustert worden wäre. Diese Frage ist mit Blick auf die Regelungen in § 8 a Abs. 2 Satz 2 WPflG, § 16 Abs. 2 Satz 1 WPflG zu bejahen. Ohne die mit der Musterung getroffene Einzelfallentscheidung dazu, daß der betroffene Wehrpflichtige für den Wehrdienst überhaupt zur Verfügung steht, ist eine rechtmäßige Einberufung nicht möglich. Fehlt es an einer solchen vollziehbaren Entscheidung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres, kann nicht davon die Rede sein, daß eine Zurückstellung, mag sie auch bestandskräftig geworden und auch tatsächlich in Anspruch genommen worden sein, allein ursächlich dafür wäre, daß eine Einberufung während des Zeitraums bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nicht erfolgen konnte.

Im vorliegenden Fall konnte das Verwaltungsgericht unbedenklich davon ausgehen, daß dem Kläger gegenüber vor Vollendung des 25. Lebensjahres eine Musterungsentscheidung ergangen ist. Dies konnte es, weil es die von ihm festgestellten Tatsachen dahin gewürdigt hat, daß die in der ehemaligen DDR dafür zuständige Musterungskommission in Kenntnis der Unterlagen über die sportärztlichen Untersuchungen des Klägers am 24. März 1988 entschieden habe, daß dieser ohne Einschränkungen diensttauglich sei, und diese Entscheidung dem Kläger auch mit der Aushändigung des Wehrdienstausweises unmittelbar nach dem in seiner Abwesenheit durchgeführten Musterungstermin kundgetan worden sei. Auch sei die Anlegung der Wehrstammkarte keineswegs nur pro forma erfolgt. Die dem insgesamt zugrundeliegenden Tatsachenfeststellungen und die darauf gründende Würdigung der Umstände des Einzelfalles hat die Revision mit beachtlichen Verfahrensrügen nicht angegriffen. Das Revisionsgericht hat sie seiner Entscheidung daher zugrunde zu legen.

Soweit die Revision möglicherweise geltend machen will, daß dem Verwaltungsgericht bei dieser Würdigung insofern ein materieller Rechtsfehler unterlaufen sei, als es § 70 Wehrdienstgesetz/DDR vom 25. März 1982 (GBl DDR I S. 221) nicht hinreichend beachtet habe, geht diese Rüge am Wortlaut der genannten Bestimmung vorbei. Dieser lautete nämlich darauf, daß die Wehrpflichtigen "bei der Musterung oder zu einem anderen von den Wehrkreiskommandos festzulegenden Zeitpunkt" Wehrdienstausweise erhielten. Die mithin allein vorgesehene Möglichkeit, einen anderen Zeitpunkt für die Aushändigung festzulegen, rechtfertigt nicht den Schluß darauf, daß der Wehrdienstausweis für einen ungedienten Wehrpflichtigen auch "aus anderen Gründen" hätte erstellt werden können. Einen anderen Grund als denjenigen einer positiven Entscheidung über die Tauglichkeit läßt das Gesetz nicht erkennen; diese Entscheidung aber war bei der Musterung zu treffen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Wehrdienstgesetz/DDR). Eben dies kann - je nach den Gesamtumständen, hier insbesondere im Verein mit den Eintragungen in der grünen Wehrstammkarte und den sonstigen Unterlagen über die Musterung - den Schluß des Verwaltungsgerichts von der unstreitig erfolgten Aushändigung auf die zuvor ergangene Musterungsentscheidung rechtfertigen.

Es bestehen auch keine Bedenken, einer nach DDR-Recht ergangenen Musterungsentscheidung im vorliegenden Zusammenhang trotz der andersartigen Rechtsgrundlage dieselbe Funktion beizumessen, die einer Musterungsentscheidung nach dem Wehrpflichtgesetz zukommt. Daß ein gemusterter Wehrpflichtiger mit Aushändigung des Wehrdienstausweises seinem Tauglichkeitsgrad entsprechend für den Wehrdienst generell zur Verfügung steht, wenn auch möglicherweise nur nach Maßgabe weiterer Untersuchungen und Eignungsfeststellungen, entsprach und entspricht ersichtlich gemeinsamem Rechtsverständnis der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen DDR.

b) Daraus folgt zunächst nur, wie das Verwaltungsgericht weiterhin zutreffend entschieden hat, daß ein Verwaltungsakt vorlag; er ist ferner im Sinne von Art. 19 Satz 1 EV dann wirksam - dies im Sinne äußerer Wirksamkeit - ergangen und damit jedenfalls bis zum 3. Oktober 1990 auch weiterhin gültig, wenn und soweit er nach der seinerzeitigen Staats- und Verwaltungspraxis ungeachtet etwaiger (DDR-)Rechtsmängel als wirksam angesehen und behandelt wurde (vgl. Urteile vom 20. März 1997 - BVerwG 7 C 23.96 - NJ 1997, 438, zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen, und vom 15. Oktober 1997 - BVerwG 7 C 21.96 - DokBer A 1998, 29; Beschluß vom 23. Januar 1996 - BVerwG 7 B 4.96 - Buchholz 111 Art. 41 EV Nr. 2; BGH, Urteil vom 17. März 1995 - V ZR 100/93 - BGHZ 129, 112, 118 f.). Davon aber ist hier nach den erstinstanzlichen Tatsachenfeststellungen auszugehen. Selbst die Revision stellt nicht in Abrede, daß der Kläger später, im Sommer 1990, nochmals von der seinerzeit zuständigen Wehrbehörde zu einer ärztlichen Überprüfung einbestellt worden ist; dies konnte nach Lage der Dinge nur die durch § 11 Wehrdienstgesetz/DDR ermöglichte Einberufungsüberprüfung gewesen sein (vgl. auch §§ 13 ff. Einberufungsordnung/DDR vom 25. März 1982, GBl DDR I S. 230). Die Wehrerfassungsbehörden der DDR sind also davon ausgegangen, daß der Kläger für den Wehrdienst zur Verfügung stehe, wo und wie er auch immer von Leistungssportlern abzuleisten war. Auch der Kläger selbst hat sich nicht etwa nach § 8 Abs. 1 Satz 2 Wehrdienstgesetz/DDR verpflichtet gesehen, sich unverzüglich nach Vollendung seines neunzehnten Lebensjahres beim zuständigen Wehrkreiskommando persönlich zu melden, weil er noch nicht gemustert worden sei. Damit wiederum stimmt überein, daß er anfangs selbst den Eindruck hatte, gemustert worden zu sein, und dies zunächst auch noch gegenüber dem Kreiswehrersatzamt M. geltend gemacht hatte.

c) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 20. März 1997 - BVerwG 7 C 23.96 - a.a.O.) können die Wirkungen eines solchen Verwaltungsakts nur aufgrund von Sonderregelungen des Einigungsvertrages oder aufgrund spezialgesetzlicher Regelungen oder solcher allgemeiner gesetzlicher Regelungen beseitigt werden, die in Ausführung des Art. 19 Satz 2 EV erlassen worden sind. Hier ist mangels vorrangiger Sonderregelung das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz - VwRehaG - vom 23. Juni 1994, BGBL I S. 1311 anzuwenden. Auch nach dessen Bestimmungen ist die Wirksamkeit der in Rede stehenden Musterungsentscheidung nicht in Frage zu stellen.

aa) Eine Maßnahme, die nach § 1 Abs. 1 VwRehaG aufzuheben wäre, weil sie mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar ist und ihre Folgewirkungen schwer und unzumutbar fortwirken, liegt hier nicht vor. Denn nach § 1 Abs. 2 VwRehaG sind mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar (nur) Maßnahmen, die in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit oder der Verhältnismäßigkeit verstoßen haben und die der politischen Verfolgung gedient oder Willkürakte im Einzelfall dargestellt haben. Die ist hier offensichtlich nicht der Fall. Im übrigen könnte eine auf § 1 Abs. 1 VwRehaG gestützte Aufhebung gemäß § 12 VwRehaG nur in einem besonderen Verfahren erfolgen. Ein solches hat der Kläger ersichtlich nicht angestrengt.

bb) Daneben gelten gemäß Art. 19 Satz 3 EV in Verbindung mit § 15 Satz 1 VwRehaG für fortwirkende Verwaltungsentscheidungen behördlicher Stellen der ehemaligen DDR ab dem 3. Oktober 1990 und auch erst mit Wirkung von diesem Tage an die verwaltungsverfahrensrechtlichen Nichtigkeitsbestimmungen, hier insbesondere § 44 VwVfG. Dies hat das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend gesehen. Die hiervon abweichende Auffassung der Beklagten trifft nicht zu. Die hier in Übereinstimmung mit dem Bundesgerichtshof (a.a.O. S. 118) vertretene Auslegung entspricht dem Gesetzeswortlaut des § 15 Satz 1 VwRehaG. Danach "gelten die verwaltungsverfahrensrechtlichen Nichtigkeitsbestimmungen ... ab dem 3. Oktober 1990". Insbesondere die Gesetzesmaterialien weisen unmißverständlich in Richtung dieser Auslegung: Außerhalb der einem besonderen Verfahren vorbehaltenen verwaltungsrechtlichen Rehabilitation sollten diejenigen Verwaltungsentscheidungen, die über Art. 19 Satz 1 EV zum aktuellen Arbeitsbestand der Behörden im Beitrittsgebiet geworden sind und die auch nach dem Beitritt die mit ihnen intendierten Rechtswirkungen gegenüber den Betroffenen auslösen sollen, nicht hinter den nunmehr (nach dem Beitritt) geltenden Anforderungen des Rechtsstaats zurückbleiben. Die über Art. 19 EV in den Geltungsbereich des Grundgesetzes hineingewachsenen Maßnahmen sollten unter dessen Wertordnung nur mit der Einschränkung Rechtsgeltung beanspruchen können, daß sie, gemessen an den allgemeinen Nichtigkeitsbestimmungen, nicht nichtig sind. Die Nichtigkeitsfolgen sollten jedoch erst ab dem 3. Oktober 1990 eintreten (Deutscher Bundestag, Drucks 12/4994, zu § 13 Nr. 1, Abs. 2 und 3). Einer besonderen Aufhebung bedarf es nach den Gesetzesmaterialien insoweit - wie auch sonst nach den verwaltungsverfahrensrechtlichen Nichtigkeitsbestimmungen - nicht (Deutscher Bundestag, Drucks 12/4994, zu § 13 Nr. 2).

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht hier auch die Voraussetzungen einer Nichtigkeit nach § 44 VwVfG verneint. Einer der in § 44 Abs. 2 VwVfG genannten Rechtsfehler, bei deren Vorliegen ohne weiteres von einer Nichtigkeit auszugehen ist, hat 1988 nicht vorgelegen und liegt auch heute nicht vor. Aber auch die Generalklausel des § 44 Abs. 1 VwGO greift nicht. Die 1988 ergangene Musterungsentscheidung leidet nicht unter einem besonders schwerwiegenden und zudem offenkundigen Fehler. Materielle Fehler oder Formfehler sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat der Kläger zu keinem Zeitpunkt irgendwelche gesundheitlichen Beeinträchtigungen dargetan. Er macht allein geltend, daß die Entscheidung insofern auf einem seiner Meinung nach schweren Verfahrensfehler beruht habe, als er von den Musterungsärzten im Jahre 1988 nicht persönlich untersucht worden sei.

Es kann offenbleiben, ob die maßgeblichen Bestimmungen der DDR eine Musterung in Abwesenheit der sie betreffenden Person generell zuließen. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist die Musterungskommission in der Weise verfahren, daß sie ihrer Entscheidung die sportärztlichen Unterlagen, die im Rahmen der Förderung des Klägers als Leistungssportler angefallen waren, herangezogen hat. Diese Verfahrensweise lag zumindest nicht völlig außerhalb der dafür gültigen Bestimmungen. Immerhin sah § 10 Abs. 3 Satz 1 der Einberufungsordnung/DDR für Wehrpflichtige, die bereit waren, den aktiven Wehrdienst in militärischen Berufen zu leisten, zur Feststellung der Diensttauglichkeit die Möglichkeit vor, "die Ergebnisse vorausgegangener medizinischer Untersuchungen zu berücksichtigen". Eine medizinische Untersuchung jedenfalls dieser Wehrpflichtigen war nach Satz 2 dieser Regelung "nur erforderlich, wenn seit der letzten medizinischen Untersuchung mehr als 1 Jahr vergangen" war. Ganz allgemein hatten außerdem nach § 7 Abs. 2 der Einberufungsordnung/DDR die Organe des Jugendgesundheitsschutzes und des Betriebsgesundheitswesens "auf Anforderung der Wehrkreiskommandos die Gesundheitsunterlagen von Wehrpflichtigen zum festgesetzten Termin zeitweilig zur Verfügung zu stellen". Ein besonders schwerwiegender und zudem offenkundiger Fehler des Musterungsverfahrens lag danach im Falle des Klägers jedenfalls nicht vor, dies insbesondere auch deshalb nicht, weil die Verfahrensweise nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht nur in seinem Interesse lag, sondern zumindest auch ihm zurechenbar veranlaßt worden ist.

3. Die mit Art. 19 EV und dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz geschaffene Rechtslage begegnet entgegen der Auffassung der Revision keinen bundesverfassungsrechtlichen Bedenken. Auch insoweit ist dem Verwaltungsgericht im Ergebnis zuzustimmen. Daß in der ehemaligen DDR als bestandskräftig und wirksam angesehene Verwaltungsakte, auf die das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz mangels vorrangiger Sonderregelung anzuwenden ist, dann, wenn sie - wie die Musterungsentscheidungen - noch Wirkungen zeitigen, sich aber nicht im Sinne von § 1 Abs. 2 VwRehaG als mit tragenden Grundsätzen des Rechtsstaates schlechthin unvereinbar erweisen, gemäß § 15 Satz 1 VwRehaG erst ab dem 3. Oktober 1990 und nur unter den Voraussetzungen als nichtig anzusehen sind, die nach allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Bestimmungen auch für alle anderen Verwaltungsakte gelten, läßt Ansatzpunkte für verfassungsrechtliche Bedenken nicht erkennen. Solche Bedenken sind um so weniger angebracht, als außerdem nach § 15 Satz 2 VwRehaG die allgemeinen Aufhebungsvorschriften Anwendung finden, mithin auch eine veränderte Sach- und Rechtslage geltend gemacht und berücksichtigt werden kann (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Das gilt mehr noch angesichts der hier maßgeblichen Bestimmungen des Wehrpflichtgesetzes. Denn durch die Regelung in § 20 b WPflG ist gewährleistet, daß der Kläger vor einer etwaigen Einberufung anzuhören ist und er auch dann noch eine Untersuchung auf seine Tauglichkeit und damit eine aktuell rechtmäßige Entscheidung herbeiführen kann, die mit den Grundsätzen der Wehrgerechtigkeit übereinstimmt. A11 dies kann er auch gerichtlich überprüfen lassen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Beschluß

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 8 000 DM festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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