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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 25.08.2005
Aktenzeichen: BVerwG 7 C 19.04
Rechtsgebiete: VermG


Vorschriften:

VermG § 1 Abs. 6
1. Für den Begriff der politischen Verfolgung im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG sind Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes gegen das Vermögen des Verfolgten nicht erforderlich.

2. Ist jemand aus Gründen politischer Verfolgung aus dem Deutschen Reich vertrieben worden, spricht ein Beweis des ersten Anscheins dafür, dass seine Verfolgung bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft angedauert hat.


BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

BVerwG 7 C 19.04

Verkündet am 25. August 2005

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 25. August 2005 durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley, Herbert, Krauß, Postier und Neumann

für Recht erkannt:

Tenor:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifwald vom 5. Juni 2003 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Die Kläger begehren die vermögensrechtliche Rückübertragung des früheren Landguts S. sowie die Auskehr des Erlöses aus der investiven Veräußerung von Grundstücken, die zu dem Landgut gehört haben.

Das Landgut stand seit 1927 im Eigentum des 1955 verstorbenen Bankiers Dr. R. Die Kläger sind seine Kinder und in ungeteilter Erbengemeinschaft seine Rechtsnachfolger.

Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) ordnete durch Verfügung vom 1. Juli 1934 die Beschlagnahme des gesamten Vermögens des Vaters der Kläger an. Die Beschlagnahme war auf die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 gestützt. Nach Angaben der Kläger hatte die SS am Vortag, dem 30. Juni 1934 versucht, ihren Vater zu verhaften. Dieser hielt sich seinerzeit besuchsweise in London auf. Nach Angaben der Kläger war ihr Vater ein enger Freund und Berater des ehemaligen Reichskanzlers Kurt von Schleicher, der im Zuge des so genannten Röhm-Putsches am 30. Juni 1934 ermordet wurde. Nach der Darstellung der Kläger habe ihr Vater verhaftet werden sollen, weil er der Konspiration gegen die nationalsozialistische Herrschaft verdächtigt worden sei. Er habe sein Haus in Berlin für Zusammenkünfte zwischen dem ehemaligen Reichskanzler Kurt von Schleicher, dem SA-Führer Röhm und dem seinerzeitigen französischen Botschafter in Deutschland zur Verfügung gestellt.

Der Vater der Kläger kehrte nicht wieder nach Deutschland zurück. Er erwarb 1938 die britische Staatsangehörigkeit.

Die Gestapo hob durch Verfügung vom 5. August 1937 die Beschlagnahme des Vermögens wieder auf.

Der Vater der Kläger veräußerte im November 1938 eine Teilfläche des Landgutes, im Wesentlichen landwirtschaftliche Nutzflächen, an einen Zahnarzt. Den anderen Teil des Gutes veräußerte er im Februar 1939 an die M. GmbH. Er wurde bei beiden Geschäften durch eine Generalbevollmächtigte vertreten, die er im Oktober 1934 zur Verwaltung seines in Deutschland belegenen Vermögens bestellt hatte. Soweit die Kaufpreise bar zu zahlen waren, wurden sie auf ein Auswandererkonto bei der Reichs-Kredit-Gesellschaft AG Berlin eingezahlt, das für den Vater der Kläger eingerichtet war. Die Verfügung hierüber unterlag der Genehmigung durch die zuständige Devisenstelle.

Das an die M. GmbH veräußerte Grundstück wurde in der sowjetischen Besatzungszone auf besatzungshoheitlicher Grundlage enteignet. Die landwirtschaftlichen Flächen wurden im Zuge der Bodenreform enteignet und aufgeteilt. Der Beigeladene zu 1 und die Beigeladene zu 3 sind Eigentümer von Grundstücken geworden, die aus dem ehemaligen Landgut hervorgegangen sind. Sie veräußerten diese Grundstücke aufgrund von Investitionsvorrangbescheiden.

Die Kläger beantragten im Februar 1992 die Rückübertragung des ehemaligen Landguts S. Sie machten geltend, die Veräußerung des Landgutes habe auf einer politischen Verfolgung ihres Vaters beruht.

Das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen Mecklenburg-Vorpommern lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Verkäufe der Jahre 1938 und 1939 stellten keinen verfolgungsbedingten Vermögensverlust im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG dar.

Die Kläger haben Klage erhoben und zu deren Begründung ihre Auffassung vertieft, ihr Vater sei als Freund des ehemaligen Reichskanzlers Kurt von Schleicher politisch verfolgt worden. Hätte er sich seinerzeit nicht in London aufgehalten, hätte auch er zu den Opfern des so genannten Röhm-Putsches gehört. Diese Verfolgungslage habe noch im Zeitpunkt der Veräußerung des Landgutes fortbestanden. Ihr Vater habe seinerzeit nicht nach Deutschland zurückkehren können. Er hätte zumindest mit seiner Verhaftung und Verbringung in ein Konzentrationslager rechnen müssen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch das angefochtene Urteil abgewiesen: Der Vater der Kläger sei im Zeitpunkt der Veräußerung des Landgutes keiner unmittelbaren politischen Verfolgung ausgesetzt gewesen, die zu einer verfolgungsbedingten Aufgabe des Vermögenswertes im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG geführt habe. Zwar stelle die Beschlagnahme des Vermögens durch die Gestapo einen hinreichenden Beleg für eine politische Verfolgung zu diesem Zeitpunkt dar. Diese Verfolgung habe aber jedenfalls bezogen auf die hier allein maßgebliche Verfügungsmacht über das Vermögen mit der Aufhebung der Beschlagnahme im Jahre 1937 geendet.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat zugelassene Revision der Kläger. Sie beantragen zum einen, den Beklagten zu verpflichten, das ehemalige Landgut S. an sie in Erbengemeinschaft zurückzuübertragen. Sie beantragen zum anderen, den Beklagten zu verpflichten, festzustellen, dass sie gegen den Beigeladenen zu 1 und gegen die Beigeladene zu 3 jeweils einen Anspruch auf Auskehr des Erlöses aus der investiven Veräußerung im Einzelnen bezeichneter Grundstücke haben. Sie machen geltend: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts setze der Begriff der Verfolgung aus politischen Gründen in § 1 Abs. 6 VermG nicht voraus, dass die Verfolgung sich über die Person des Verfolgten hinaus auch auf dessen Vermögen erstreckt habe. Das Verwaltungsgericht erkenne die fortdauernde Gefährdung ihres Vaters im Falle seiner Rückkehr nach Deutschland an, halte sie aber offenbar für unbeachtlich, weil es zu Unrecht maßgeblich allein auf die Verfügungsmacht über das Vermögen abstelle.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie verteidigt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Begriff der politischen Verfolgung in § 1 Abs. 6 VermG verlange, dass sich die Verfolgung über die Person des Verfolgten hinaus auch auf dessen Vermögen erstreckt habe.

Der Beigeladene zu 1 und die Beigeladene zu 3 stellen keinen Antrag. Sie haben sich zur Sache nicht geäußert.

II.

Die Revision der Kläger ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hat der Vater der Kläger sein Eigentum an dem Landgut S. durch Zwangsverkäufe im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG verloren. Weitere tatsächliche Feststellungen sind hierfür nicht erforderlich. Der Senat kann aber nicht in der Sache selbst entscheiden, weil bislang nicht ermittelt ist, in welche Grundstücke das Landgut inzwischen aufgeteilt ist, wer Eigentümer dieser Grundstücke ist und ob Ausschlussgründe im Sinne des § 4 VermG oder des § 5 VermG einer Rückübertragung entgegenstehen. Zur Nachholung dieser Ermittlungen und der notwendigen Beiladung Verfügungsberechtigter war die Sache an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Einen Anspruch auf Rückübertragung entzogener Vermögenswerte hat nach § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG auch, wer in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurde und deshalb sein Vermögen infolge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf andere Weise verloren hat.

Der Begriff der Verfolgung setzt eine rassisch, politisch, religiös oder weltanschaulich motivierte feindliche Gesinnung des nationalsozialistischen Regimes voraus. Verfolgungsmaßnahmen aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen sind (nur) solche Maßnahmen, die darauf zurückzuführen sind, dass der Verfolgte aus diesen Gründen als ein Gegner der nationalsozialistischen Herrschaft oder nationalsozialistischer Bestrebungen oder nationalsozialistischen Gedankenguts angesehen wurde. Der Verfolgte muss (aktuell oder potentiell) den Nachstellungen des Regimes ausgesetzt gewesen sein, weil seine Rasse oder seine abweichende politische, religiöse oder weltanschauliche Überzeugung nicht geduldet wurde. Eine Verfolgung im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG setzt einen gezielten Zugriff auf den Betroffenen voraus, um ihn als Gegner auszuschalten. Diese politische Verfolgung muss (noch oder schon) zum Zeitpunkt der Veräußerung des Vermögenswertes vorgelegen haben. Der Vermögensverlust muss aufgrund dieser Verfolgung eingetreten sein.

Der Vater der Kläger war bei der Veräußerung des Landgutes Ende 1938 und Anfang 1939 in dem dargelegten Sinne politisch verfolgt.

Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass der Vater der Kläger in den Jahren 1934/35 politisch verfolgt gewesen ist. Als hinreichenden Beleg für die Annahme einer politischen Verfolgung in jener Zeit hat das Verwaltungsgericht zutreffend die Beschlagnahmeanordnungen der Gestapo, gestützt auf die Verordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, angesehen.

Unrichtig und bundesrechtswidrig ist aber der Umkehrschluss des Verwaltungsgerichts, mit der Aufhebung dieser durch eine politische Verfolgung motivierten Beschlagnahme des Vermögens sei die Verfolgung als solche entfallen. Die Aufhebung der Beschlagnahme konnte auch auf verfolgungsneutralen Gründen beruhen, die die Verfolgungslage unberührt ließen. Zu seiner unzutreffenden Schlussfolgerung ist das Verwaltungsgericht gelangt, weil es von einem fehlerhaften Verständnis des Begriffs der politischen Verfolgung im Sinne des § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG ausgeht. Das Verwaltungsgericht nimmt an, für die Anwendung des § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG reiche nicht aus, wenn nur die Person einer Verfolgung aus politischen Gründen ausgesetzt gewesen ist. Nach seiner Auffassung verlangt die Vorschrift vielmehr zusätzlich oder sogar allein, dass aus politischen Gründen Maßnahmen gegen das Vermögen getroffen worden sind. Das Verwaltungsgericht stellt ausdrücklich auf die "Verfolgung bezogen auf die Verfügungsmacht über sein Vermögen" ab.

Diese Auffassung ist mit § 1 Abs. 6 VermG nicht vereinbar. Zwar verknüpft § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG die politische Verfolgung mit dem Verlust des Vermögens. Für das Vermögensgesetz ist die politische Verfolgung nur mit Blick auf ihre Auswirkungen im Vermögensbereich von Interesse. Beides darf aber nicht vermengt werden. Die politische Verfolgung setzt nicht die Absicht des nationalsozialistischen Regimes voraus, auf das Vermögen des Verfolgten zuzugreifen. Eine wieder gutzumachende Vermögensentziehung liegt auch dann vor, wenn der Betroffene infolge der gegen seine Person (Leib, Leben oder Freiheit) gerichteten Verfolgungsmaßnahmen gezwungen war, Vermögenswerte an Dritte zu veräußern, ohne dass das Regime auf den Abschluss des konkreten Veräußerungsgeschäftes eingewirkt haben muss. Für die Anwendung des § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG ist unerheblich, in welchen Maßnahmen die feindliche Gesinnung des nationalsozialistischen Regimes ihren Ausdruck gefunden hat. Die Nachstellungen des Regimes können sich selbstverständlich auch in Maßnahmen gegen das Vermögen erschöpfen, etwa wenn einem politischen Gegner durch Zugriff auf sein Vermögen die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen werden sollte. Erforderlich sind für den Begriff der politischen Verfolgung solche Maßnahmen aber nicht. Umgekehrt kann deshalb auch ihr Wegfall allein nicht belegen, dass das nationalsozialistische Regime von einer politischen Verfolgung des Betroffenen abgelassen hat.

Das Verwaltungsgericht hätte berücksichtigen müssen, dass der Vater der Kläger in Folge seiner festgestellten politischen Verfolgung nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt ist. Ist jemand aus Gründen politischer Verfolgung aus dem Deutschen Reich vertrieben worden, spricht ein Beweis des ersten Anscheins dafür, dass seine Verfolgung bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft angedauert hat. Dieser Anscheinsbeweis ist nur widerlegt, wenn ausnahmsweise aufgrund konkreter Umstände mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass der Verfolgte ohne Gefährdung seiner Person hätte nach Deutschland zurückkehren können. Abgesehen von der hierfür nicht ausreichenden Aufhebung der Beschlagnahme seines Vermögens sind keine Umstände dafür zu Tage getreten, dass der Vater der Kläger in den Jahren nach 1937 gefahrlos nach Deutschland hätte zurückkehren können.

Bestand damit zum Zeitpunkt der Veräußerung des Landguts die politische Verfolgung des Vaters der Kläger fort, so wird nach § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG, Art. 3 Abs. 1 Buchst. a REAO vermutet, dass die Veräußerung durch die Verfolgung bedingt war. Diese Vermutung wäre nach § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG, Art. 3 Abs. 2 REAO nur widerlegt, wenn der Vater der Kläger einen angemessenen Kaufpreis erhalten hätte und er darüber frei hätte verfügen können. Jedenfalls letzteres ist nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht der Fall. Danach sind die Kaufpreise, soweit sie bar zu entrichten waren, auf ein Auswanderer-Sperrkonto eingezahlt worden, über das der Vater der Kläger nur mit Genehmigung der Devisenstelle verfügen konnte. Die freie Verfügbarkeit im Sinne des Art. 3 Abs. 2 REAO entfällt grundsätzlich dann, wenn der Kaufpreis auf ein Konto eingezahlt worden ist, das einer diskriminierenden Sperre unterlag. Eine devisenrechtliche Kontensperre ist jedenfalls dann als diskriminierend anzusehen, wenn die Auswanderung aus Deutschland aus Gründen politischer Verfolgung erzwungen war. In diesen Fällen setzt sich in der devisenrechtlichen Verfügungsbeschränkung die Verfolgung fort.

Ende der Entscheidung

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